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UNO-Kritik irritiert ADHS-Experten

Schweizer Fachleute weisen die Vorwürfe des UNO-Kinderrechtsausschusses zurück. Dieser zeigte sich in seinem jüngsten Bericht besorgt über die hohen ADHS- und Ritalin-Zahlen.

In seinem jüngsten Bericht von Anfang Februar bemängelt der UNO-­Kinderrechtsausschuss, dass Kinder in der Schweiz zu häufig die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erhalten würden. Man sei besorgt über den damit verbundenen Anstieg bei den Verschreibungen von Ritalin und anderen Psychostimulanzien, «obwohl es immer mehr Hinweise auf schädliche Auswirkungen dieser Medikamente» gebe. Beunruhigt ist der Ausschuss zudem über Meldungen, dass gedroht werde, Kinder von der Schule zu weisen, wenn Eltern eine ADHS-­Behandlung ablehnten.

Die harschen Worte des UNO-Ausschusses sorgen unter Schweizer Fachleuten für Irritation. Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin des kinder- und ­jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich, sagt: «Die Kritik entbehrt jeder Grundlage und ist durchgängig unkorrekt.» Dies sei auch die Ansicht ihrer Fachkollegen, von denen sich 150, unter ihnen Universitäts- und Chefärzte, unlängst an einer Weiterbildungstagung trafen und den Kinderrechtsbericht diskutierten. «Keiner von uns wurde vom UNO-Ausschuss angehört, das ist bedauerlich», sagt Walitza. Sie befürchtet, dass nun Familien und Fachleute verunsichert sind. Im Parlament dürfte der Kinderrechtsbericht zudem weitere Vorstösse zu Ritalin auslösen.

Stagnation seit drei Jahren

Walitza kontert die Vorwürfe mithilfe des im November erschienenen Berichts, den die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Auftrag des Zürcher Regierungsrats verfasste. Er basiert auf Zahlen der Krankenversicherungen und lässt sich weitgehend auf die ganze Schweiz übertragen:

Häufigkeit

Im Kanton Zürich erhielten 2012 2,6 Prozent der Schulkinder Ritalin oder ähnliche Medikamente, in der restlichen Schweiz 2,4 Prozent   – wobei Knaben im Mittel dreimal häufiger betroffen waren als Mädchen. Aufgrund der aktuellen internationalen Fachliteratur und einer repräsentativen älteren Zürcher Studie geht Walitza davon aus, dass konstant rund 5Prozent der Schweizer Schulkinder von ADHS betroffen sind. Das würde bedeuten, dass jedes zweite ADHS-Kind Ritalin-Medikamente erhalten hat. «Das entspricht im Durchschnitt etwa dem, was ich für sinnvoll halte», so Walitza.

Zunahme

2012 nahmen doppelt so viele Schulkinder Psychostimulanzien wie 2006. Der Anstieg fand gemäss ZHAW-Bericht allerdings vor allem in den Jahren bis 2010 statt. Danach kam es zur einer Stagnation, die auch aus den Zahlen des Heilmittelinstituts Swissmedic ersichtlich ist (TA vom 9. 10. 2014). «Wir sind auf einem Plateau angelangt», glaubt Walitza. «Grund zur Sorge hätte ich erst, wenn jetzt die Verschreibungen weiter ansteigen würden.»

Nebenwirkungen

«Man weiss heute sehr genau, was mögliche unerwünschte Wirkungen sind», sagt Walitza, die selbst dazu geforscht hat. Es seien dies Appetitverlust, leichte Wachstumsverzögerung und in gewissen Fällen Kreislaufprobleme. «Wegen dieser Nebenwirkungen darf ein Arzt Psychostimulanzien nicht leichtfertig und länger als notwendig verschreiben», betont Walitza.

Schulverweise

Dass jemand von der Schule verwiesen wird, weil die Eltern Ritalin verweigerten, lehne sie vehement ab. Sie könne sich das nur als absolute Einzelfälle vorstellen.

Der Bericht des UNO-Kinderrechtsausschusses steht auch in direktem Widerspruch zur Beurteilung des Bundesrats. Erst im vergangenen November befand dieser, dass in der Schweiz Kinder und Jugendliche mit ADHS eine angemessene medizinische Betreuung erhalten würden. Anlass für diese Einschätzung war ein gleichzeitig veröffentlichter Expertenbericht zu leistungssteigernden Medikamenten, den der Bund in Auftrag gegeben hatte. Es bestehe nach der UNO-Rüge kein akuter Handlungsbedarf, heisst es beim Bundesamt für Gesundheit auf Anfrage. «Wir werden eine Expertengruppe einsetzen und beauftragen, die weitere Entwicklung der Thematik zu verfolgen.»

ADHS-Diagnose in 30 Minuten

Doch es gibt auch Fachleute, die sich über den UNO-Bericht freuen. «Ich war überrascht, wie deutlich der Kinderrechtsausschuss seine Kritik äusserte», sagt Pascal Rudin, der bei der UNO den internationalen Berufsverband für Sozialarbeit vertritt. Mit der Stossrichtung des Berichts ist er voll einverstanden. Rudin stört sich vor allem daran, dass der Bundesrat abstreitet, dass es ein Problem gibt. Der ADHS-Experten­bericht des Bundes sei einseitig und fehlerhaft, sagt Rudin. Er selbst hatte in Zusammenarbeit mit dem Kinderpsychiater Helmut Bonney bei einer Vorfassung Korrekturen vorgeschlagen, die aber ­allesamt ignoriert worden seien. «Aus Angst vor Verteuflung von Ritalin wurde belegbare Kritik ignoriert», sagt Rudin. Es gehe ihm nicht um Verteuflung, Ritalin sei durchaus sinnvoll, wenn es richtig angewendet werde.

Rudins Kritik bezieht sich vor allem auf die Diagnosestellung von ADHS. Dies sollte seiner Ansicht nach so wie in Deutschland nur von Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen gemacht werden. In der Schweiz würden Kinder- und Hausärzte manchmal in 30 Minuten ADHS diagnostizieren und Ritalin verschreiben. «Das führt zu Fehldiagnosen», sagt Rudin.

Beim Verfasser der Kritik, dem UNO-Kinderrechtsausschuss, gibt man sich auf Anfrage wenig transparent. «Zu den Quellen und Informationen, auf denen unsere Arbeit basiert, müssen wir keine Auskunft geben», schreibt Maria Herczog, seit 2007 Ausschussmitglied. Für die ungarische Soziologin ist es aber «offensichtlich, dass zu häufig und zu oberflächlich diagnostiziert wird». Und: «ADHS-‹Experten› sind oft nicht die beste Informationsquelle, da sie von der medikamentösen Behandlung von Aufmerksamkeitsproblemen überzeugt sind», so Herczog.

Nicht vom Ausschuss selber, dafür von Pascal Rudin ist zu erfahren, dass sich das UNO-Gremium immerhin auf Berichte und Anhörungen des Bundes und von NGOs stützte. Zudem wurden Vertreter der Pädiater, Sonderpädagogen und Heilpädagogen angehört. Rudin vermutet: «Die ausweichende Stellungnahme der Schweizer Regierung und möglicherweise auch persönliches Interesse einzelner Ausschussmitglieder dürfte ein wichtiger Grund für die harsche Kritik gewesen sein.»

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Quelle: Tagesanzeiger

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