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DSM  – ICD  – ICF  – erst klassifizieren, dann verwalten!


publiziert: 23. November 2013

DSM   – ICD   – ICF   – erst klassifizieren, dann verwalten!

Checklisten und Etiketten

eg/ hhg. Was tun, wenn Kinder in Familie und Schule auffällig werden? Wenn sie durch Unkonzentriertheit und mangelnde Aufmerksamkeit auffallen, durch ständige Unruhe den Unterricht stören, Affekte ausleben, ängstlich und schüchtern sind oder ausgeprägte Stimmungsschwankungen haben?

Bis anhin gehörte es zu den Aufgaben von Heilpädagogen, solche Kinder zu unterstützen und ihnen zu helfen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden. Seit einiger Zeit hat mehr und mehr die Kinder- und Jugendpsychiatrie dieses Tätigkeitsgebiet übernommen. Ihr Arbeitsinstrument ist das bio-medizinische Internationale psychiatrische Klassifizierungssystem ICD-10 der WHO oder das von Amerika herkommende DSM-4 (das demnächst durch das DSM-5 abgelöst wird). Die Probleme der Kinder bekommen einen Namen und eine Nummer: ADHS, ADHD, Autismus, Asperger-Syndrom, UEMF=Umschriebene Entwicklungsstörung Motorischer Funktionen («Tolpatschsyndrom») usw.

Neu soll im DSM-5 noch das DMDD (Disruptive Mood Dysregulation Disorder) dazukommen, um Kinder zu etikettieren, die reizbar und aggressiv sind, zu Wutausbrüchen neigen, daneben aber tieftraurig sein können, Selbstzweifel haben und sich betrübt zurückziehen. Man beobachtet, kreuzt Checklisten an und füllt Fragebogen aus. Als Erklärungsmodelle dienen zunehmend hirnorganische Funktionsstörungen. Zur Behandlung der «Störungen» werden deshalb oft Medikamente (mit schweren Nebenwirkungen) eingesetzt. Eine psychotherapeutische Behandlung beschränkt sich meist auf ein Verhaltenstraining. Die Arbeit der Heilpädagogen ist als logische Fortsetzung dieser Praxis gedacht und Teil des medizinisch-psychiatrischen Fachbereichs.

ICD-10 und ICF: Vom personalen zum mechanistischen Menschenbild

Hinter dieser Änderung steht ein Paradigmenwechsel in beiden Fachgebieten. In der Psychiatrie vollzog er sich mit dem Wechsel vom ICD-9 zum ICD-10: Das personale Menschenbild, das bis dahin Grundlage der europäischen Psychiatrietradition bei der Behandlung seelisch Erkrankter gewesen war, wurde durch die mechanistische amerikanische Auffassung ersetzt. Seither werden psychische Krankheiten als Störungsbilder erfasst und durch Hirnfunktionsstörungen erklärt, die auf Grund von Symptomen beschrieben, klassifiziert und (medikamentös) «therapiert» werden.

Ein ähnlicher Vorgang vollzog sich auf dem Gebiet der Heilpädagogik durch die Einführung der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) als Entsprechung zum ICD-10. Die ICF wurde im Jahr 2001 von der Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation WHO verabschiedet. Sie übernahm die Stelle der 1980 eingeführten und dann revidierten ICIDH («International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps»).

Die ICF hat einen «bio-psychosozialen» Hintergrund und rückt genauso wie das ICD-10 von einem ganzheitlichen personalen Menschenbild1 ab. Sie klassifiziert die Folgen von Gesundheitsproblemen bezogen auf ihr Umfeld. Sie teilt die Menschen auf in einzelne von der Behinderung betroffene Bereiche (Körperfunktionen, Aktivitäten, Teilnahme, Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren).

ICF-CY für Kinder und Jugendliche

Um die Kinder und Jugendlichen zu erfassen, setzte die WHO von 1998 bis 2001 eine Arbeitsgruppe ein, die mit der ICF-CY (International Classification of Functioning, Disability and Health for Children and Youth) eine entsprechende Version ausarbeitete. Sie kommt heute in der heilpädagogischen Diagnostik und Praxis zur Anwendung. Mit standardisierten Diagnose- und Förderinstrumentarien will man die Problematik der Kinder erfassen.

Die mit dem Kind befassten Fachleute sollen beobachten, wie Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung in ihrem jeweiligen Umfeld «funktionieren», und die Beobachtungen in ein Raster von vorgegebenen Bereichen mit einheitlichen Kriterien und einheitlicher Sprache einfügen. Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten werden ebenso zu Behinderungen gerechnet wie manifeste körperliche Einschränkungen. Zwischenmenschliche Beziehungen werden lediglich als Beziehungsangebote im Umfeld des Kindes oder Jugendlichen berücksichtigt.

Wiederum beobachtet man, zählt und bearbeitet Fragebogen und Checklisten. Daraus werden Förderziele abgeleitet und Förderpläne erstellt, nach denen Eltern, Lehrer und Therapeuten arbeiten. Das heute übliche Schulische Standortgespräch mit den entsprechenden Leitlinien basiert auf dem ICF-YE. Nicht mehr das Kind als soziales Wesen steht im Mittelpunkt, sondern seine mitmenschlichen Beziehungen werden auf das formale Funktionieren im gesellschaftlichen Kontext reduziert. Der Heilpädagoge soll dafür sorgen, dass die Funktionalität des Kindes oder Jugendlichen optimiert wird. Diese Änderung soll der «Professionalisierung» des Fachgebietes dienen.

Das Ende der Heil-Pädagogik?

Damit wird die ursprünglich erzieherische Aufgabe des Heil-Pädagogen beiseite geschoben. Sie hatte darin bestanden, die Kinder und Jugendliche in ihrem lebensgeschichtlichen Gewordensein zu erfassen, ihnen zu helfen, einen inneren Halt aufzubauen, um schliesslich als gereifte Persönlichkeit einen sinnvollen Platz in Familie, Beruf und Gesellschaft ausfüllen zu können. Wie die Beispiele aus der Praxis in diesem Artikel zeigen, hat er damit eine komplexe pädagogische Arbeit zu leisten, in der seine Persönlichkeit und seine Beziehungsfähigkeit wichtige Werkzeuge sind.

Soll er nun zum Verwalter ihrer Schwierigkeiten werden? Das Kind «von aussen» beobachten und behandeln? Dann bleibt der Mensch als sich entwickelnde Persönlichkeit auf der Strecke, und die in jedem «schwierigen» Kind steckende Hoffnung, gut zu lernen und Mitmensch zu werden, wird zunichte gemacht. Eine solche Entwicklung darf nicht unwidersprochen bleiben.

  1. Zum ganzheitlichen personalen Menschenbild vergleiche Zeit-Fragen Nr. 17 vom 6. Mai 2013, Seite 4

Quellen:

  • www.who.int/classifications/icf/en/
  • Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI. WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. 2005.
  • Hollenweger, Judith. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF): Ein neues Modell von Behinderungen (Teil I + II). In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik. 2003/ Nr. 10  –11.
  • Hollenweger, Judith. Die ICF im Spiegel der Schweizerischen Sonderpädagogik. Einige kritische Anmerkungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 2006/ Nr. 5.
  • Hollenweger, Judith. Noch viel Arbeit für die Forschung. In: Curaviva. 9/2006.
  • Hollenweger, Judith. Ein Diagnose- und Förderinstrumentarium für die Schule auf der Basis der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). In: SAL-Bulletin Nr. 110. Dezember 2008. S. 1  –13.
  • Hollenweger, Judith, Lienhardt Peter. Entwicklung eines standardisierten Abklärungsverfahrens. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik. 11  –12/ 2008.
  • www.mhadie.org

Pro Memoria: Vater von ADHS: «ADHS ist eine fabrizierte Erkrankung»

Der US-amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, der «wissenschaftliche Vater von ADHS», in seinem letzten Interview: «ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung.»
(zitiert in: Der Spiegel, Nr. 6/6.2.12, S. 122  –131, S.128; vgl. dazu Zeit-Fragen vom 20.2.2012)

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1646

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