Die Diagnose ADHS wird zu oft und zu schnell gestellt: „ADHS ist keine Krankheit“
Frau Wittwer, Ihr Buch trägt den provokanten Titel „Warum ADHS keine Krankheit ist". Worum handelt es sich stattdessen?
Amrei Wittwer: ADHS ist keine körperliche Erkrankung, sondern Unreife und unerwünschtes Verhalten. Oft ist die Rede davon, dass ADHS durch ein Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn ausgelöst wird. Dafür gibt es keine Beweise. Bei ADHS gibt es Risikofaktoren, die störendes Verhalten begünstigen — etwa häufige Konflikte der Kinder mit Erwachsenen, Mangelernährung oder Schlafstörungen. Auch das Schulsystem gilt als Risiko. Von Seiten der Eltern und Lehrer entsteht Druck auf das Kind. Als Folge leiden schon Fünfjährige unter Schlafstörungen. ADHS ist das Zeichen eines defizitären Bildungssystems.
Wie kommen Sie zu diesem Standpunkt?
Wittwer: Im Rahmen der Arbeit an einer Studie, die ich an der Technischen Hochschule Zürich (ETH) geleitet habe. Die hat sich mit ADHS beschäftigt.
Wird die Diagnose ADHS zu oft und zu schnell gestellt?
Wittwer: Ja. In manchen Regionen Europas bekommt jedes vierte Kind eine ADHS-Diagnose. Tendenz steigend. In Ländern wie Schweden gibt es kaum ein Kind mit ADHS, weil das Verhalten der Kinder dort nicht als Symptom gedeutet wird. In Regionen der USA gibt es Gesetze, die die Empfehlung einer Ritalin-Therapie an Eltern verbieten. Dort kam es zwischen 2003 und 2012 zu keiner Häufung der Diagnosen, während ADHS in anderen Regionen der USA 40-mal öfter diagnostiziert wurde.
Was sind ADHS-Symptome?
Wittwer: Das Kind platzt etwa mit Antworten heraus, hört nicht zu, wenn man es direkt anspricht, und hat Probleme, die Konzentration länger auf eine Sache zu richten.
Warum wird ADHS trotzdem so oft diagnostiziert?
Wittwer: Weil so viele davon profitieren. Nur nicht das Kind. Lehrer, die unaufmerksame Kinder dank der Diagnose vom Unterricht ausschließen, erreichen Ruhe und einen besseren Notendurchschnitt. Psychiater profitieren von Behandlungen, die Pharmaindustrie verteidigt ihre Interessen. Auch manche Forscher sind nicht bereit, die aktuelle Praxis zu hinterfragen, weil das ihre Karriere behindern könnte. Es ist unbequem, Autoritäten zu kritisieren und nötige Änderungen anzuregen. Nach Erscheinen des Buches erreichte mich auch keine faktenbasierte Kritik, sondern nur Zensurversuche.
Schadet eine unreflektierte Diagnose?
Wittwer: Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass Diagnose und Folgetherapie mit Stimulanzien negative Effekte auf die Entwicklung und Lebensqualität von Jugendlichen haben. Die Kinder werden als krank stigmatisiert — woraufhin sie mitunter sozial ausgeschlossen werden.
Warum bezeichnen Sie Ritalin als Droge?
Wittwer: Methylphenidat — bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin — ist per Definition eine Droge. Die pharmakologische Wirkung im Körper ist in etwa dieselbe wie bei Kokain und Crystal Meth. Die negative Wirkung von Ritalin ist schwerwiegender als ihr Nutzen und die ADHS-Symptome. Ein Beispiel: Schon bei einmaliger Gabe nimmt die Gehirndurchblutung des Kindes um 20 bis 30 Prozent ab — woraufhin Depression und Aggression drohen.
Wenn ADHS keine physische Krankheit ist, schafft Ritalin keine Abhilfe. Welche Behandlung schlagen Sie vor?
Wittwer: Kinder brauchen Lob, Regeln, Konsequenzen, Zeitmanagement, Ruhe beim Schlafen und Lernen. Das Erlernen eines Instruments und Sport können die Verhaltensanzeichen reduzieren. Meist wird bei den jüngsten Kindern einer Schulklasse ADHS festgestellt. Sie stören, weil sie noch nicht die individuelle Reife der Älteren haben. Wäre es nicht besser, eine Klasse zu wiederholen, als die lebenslange Diagnose einer psychischen Krankheit zu bekommen?
Das Interview führte Judith Sam
Buchempfehlung
Dieses Buch unternimmt den Versuch, Licht in den aktuellen Umgang mit ADHS zu bringen. ADHS ist kein unveränderlicher Zustand; insbesondere psychologische und pädagogische Maßnahmen geben allen Betroffenen die Kontrolle über ihre Situation zurück und ermöglichen es, Leid zu vermindern. Das Buch plädiert dafür, ADHS als medizinische Diagnose abzuschaffen und in den Geltungsbereich der Pädagogik zu übergeben. Das erfordert aber die Umstellung der häuslichen und schulischen Lebensumstände sowie ergänzende therapeutische Ansätze.
Amrei Wittwer
Warum ADHS keine Krankheit ist - Eine Streitschrift
310 Seiten, Broschur
S. Hirzel Verlag, 2019,
ISBN: 978-3-7776-2761-8
Preis: € 29,00
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
- Friedrich Liebling: Geleitwort zum Buch Grosse Pädagogen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
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- Alfred Adler – Aus der Nähe porträtiert
- Alfred Adler "Der Sinn des Lebens"
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- Alfred Adler und die Individualpsychologie
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