Skip to main content

Alastair Crooke: Israels "Nakba-Doktrin"

In dem Maße, wie sich "Israel" auf ein biblisches "Groß-Israel" zubewegt, wird die islamische Welt immer kompromissloser.
17. November 2023 Alastair Crooke - übernommen von english.almayadeen.net
17. November 2023

Nakba.jpgWährend die "Nakba-Doktrin" greift, schwinden die günstigen Bedingungen für die Freilassung der Geiseln (die die Hamas von einem langen Waffenstillstand und humanitären Lieferungen abhängig macht) dahin. (Al Mayadeen Englisch; Illustriert von Arwa Makki)

"Wir sind dabei, die Nakba des Gazastreifens zu verwirklichen", sagt Avi Dichter, "Israels" Landwirtschaftsminister und ehemaliger Leiter des Shin Bet. Das israelische Kabinett wurde darüber informiert, dass bis zu 1.700.000 Bewohner des Gazastreifens (von einer Gesamtbevölkerung von 2,2 Millionen) nicht mehr in der Lage sind, in ihren eigenen Häusern zu leben, entweder weil sie "vertrieben" wurden oder weil ihre Häuser zerstört/beschädigt wurden.

Um das Bild zu vermitteln, dass das israelische Militär mit seiner Operation zur Ausrottung der Hamas "vorankommt", sehen wir viele Videos von Panzern und gepanzerten Mannschaftstransportern in Gaza-Stadt. Im Gegensatz dazu sehen wir auffallend wenige Bilder von IOF-Soldaten, die zu Fuß patrouillieren   – entweder um die Panzer zu schützen, die unter Beschuss von Scharfschützen oder Panzerfäusten stehen, oder (wie viele Kommentatoren vermuten) aus Angst vor israelischen Opfern.

Offensichtlich hält "Israel" an seinen gepanzerten Fahrzeugen fest, obwohl es regelmäßig Verluste durch "Blitz"-Minikommandos von Hamas-Kämpfern hinnehmen muss, die plötzlich aus verborgenen Tunneln auftauchen, um die Fahrzeuge zu zerstören   – bevor sie wieder im Untergrund verschwinden.

Die IOF ist in Gaza-Stadt eingedrungen, ist im Laufe des Monats einige Kilometer vorgedrungen, hat aber bisher weder ernsthafte Anzeichen dafür, dass sie auf die Hamas-Kräfte gestoßen ist, noch dass sie eine nennenswerte Anzahl von ihnen ausgeschaltet hat. Und warum?

Einfach ausgedrückt, die Israelis führen einen konventionellen Krieg (eine gepanzerte "Faust", die mit massiver Luftunterstützung vorrückt). Der Widerspruch zu diesem Modell ist jedoch offenkundig: Der so genannte "Feind" am Boden sind einfach Zivilisten, die in erschreckender Zahl sterben, während die Hamas-Kräfte intakt bleiben, tief im Untergrund. Dort befindet sich auch die Infrastruktur der Hamas.

Die diesem Ansatz innewohnenden Widersprüche liegen in der jahrzehntelangen Entwicklung der IOF zu einer quasi kolonialen Polizeitruppe begründet, die es gewohnt ist, die Besatzung mit Hilfe von massiver Gewalt und absolutem Schutz zu überwachen. Es ist kein Geheimnis, dass die IOF Angst davor hat, sich auf ein Feuergefecht im Nahkampf mit Hamas-Einheiten im Tunnelkomplex einzulassen (worauf ihre Soldaten nicht vorbereitet sind). Stattdessen werden an der Oberfläche gepanzerte Fahrzeuge vorgeführt, und die IOF behauptet, der Hamas Schaden zugefügt zu haben, was jedoch nicht belegt werden kann.

Der offensichtlichste Widerspruch ist die Behauptung des israelischen Kabinetts, dass der nahezu nicht vorhandene militärische Druck auf die Hamas an sich die Voraussetzungen für die Freilassung der Geiseln schaffe, während der tatsächliche Druck   – die unaufhörlichen Luftangriffe   –, die die Zivilbevölkerung und ihre Infrastruktur (Krankenhäuser, Schulen, Bäckereien und Flüchtlingslager) zerstören, eine zweite Nakba ermöglichen   – mehr als irgend eine Geiselbefreiung.

Vielleicht wird die Hamas weitere Geiseln freilassen (im Hinblick auf ihre strategischen Ziele berechnet). Wenn dies der Fall ist, wird dies wahrscheinlich   – fälschlicherweise   – als Schwäche der Hamas interpretiert. Daraus könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Teppichbombardierung "funktioniert". Wie Zvi Bar'el in der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz darlegt:

"Nach Israels Auffassung ist die humanitäre Krise Teil eines Arsenals, das ihm zur Verfügung steht und das nicht nur als Druckmittel bei Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln eingesetzt werden kann. Sie soll den Palästinensern die apokalyptische Strafe ins Bewusstsein rufen, die jedem droht, der es von nun an wagt, Israel herauszufordern.

Dies ist eine Fortsetzung des tief verwurzelten strategischen Konzepts, wonach humanitäres Leid zu sicherheitsrelevanten Gewinnen führen kann ...

Noch wichtiger ist, dass die humanitäre Krise in Gaza Israel jetzt ein diplomatisches Druckmittel in die Hand gibt, um Zugeständnisse zu erreichen ... Vor allem aber wird dadurch die amerikanische Eile, eine Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen, gebremst."

Die unausweichliche Logik dieser Analyse besteht also darin, den Status quo beizubehalten: Wenn es nicht funktioniert, Geiseln zu befreien oder die Hamas zu schächen, kann man der israelischen Öffentlichkeit vorgaukeln, dass es "funktioniert", wenn man die Zivilbevölkerung zwingt, aus ihren zerstörten Gemeinden zu fliehen (was Dichter die "Gaza-Nakba" nennt).

Während die "Nakba-Doktrin" greift, schwinden die günstigen Bedingungen für die Freilassung der Geiseln (die die Hamas von einem langen Waffenstillstand und humanitären Lieferungen abhängig macht) dahin. Die IOF kann entweder das eine oder das andere haben: Entweder kontinuierliche Zerstörung oder Bedingungen für die Freilassung von Geiseln. (Wie es scheint, hat sich das Kabinett für Ersteres entschieden.)

Das andere (tiefgreifendere) Dilemma besteht darin, dass der internationale Druck für einen Waffenstillstand (und die Freilassung der Geiseln) immer größer wird. Die Zeit ist knapp, und die Militäroperation muss möglicherweise eingestellt werden. Für das Kabinett Netanjahu stellt sich die Frage, ob die Massaker an der Zivilbevölkerung und der Druck der Nakba im Gazastreifen wieder aufgenommen werden können, sobald sie einmal eingestellt wurden.

In diesem Zusammenhang bewegt sich die Stimmung in der israelischen Bevölkerung   – selbst unter den ehemaligen Liberalen   – in Richtung einer "Großen Nakba". Gaza steht unter Nakba-Druck. Das gilt auch für das Westjordanland, wo die Gewalt der Siedler gegen die Palästinenser zunimmt. Selbst ein "Liberaler" wie der frühere Oppositionsführer Lapid ist nun der Meinung, dass die "Siedler" im besetzten Westjordanland gar keine "Siedler" seien, da es sich bei dem Land lediglich um das "biblische Land Israel" handelt.

Die Nakba-"Ambitionen" weiten sich auch auf den Südlibanon (bis zum Litani-Fluss) aus. Die radikalen Mitglieder der Netanjahu-Regierung sagen, dass die Israelis niemals in den an den Libanon angrenzenden Kibbuz zurückkehren werden, wenn die Hisbollah nicht aus dem Grenzgebiet entfernt wird.

So wird der Ruf laut, "Israel" solle den Libanon bis zum Litani (einer wichtigen Wasserquelle) "einnehmen"   – und "zufälligerweise" hat die israelische Luftwaffe begonnen, bis zu 40 km innerhalb des Libanon zu operieren. Kabinettsmitglieder sprechen jetzt offen davon, dass die IOF ihre Aufmerksamkeit auf die Hisbollah richten muss, sobald die Hamas "ausgelöscht" ist.

An der Nordgrenze wird es unweigerlich heißer. Die Hisbollah setzt ihre immer ausgefeilteren und tödlicheren Waffen gegen IOF-Stellungen im Norden "Israels" ein, während die "Einsatzregeln" ständig verschwimmen. Und "Israel" antwortet mit Angriffen, die sich immer tiefer in den Südlibanon verlagern (angeblich, um die rückwärtige Infrastruktur der Hisbollah zu treffen).

Gestern Abend stimmte das israelische Kriegskabinett dafür, der Hisbollah einen schweren Schlag zu versetzen   – Netanjahu lehnte jedoch ab. Berichten zufolge vermuten die USA, dass "Israel" die Hisbollah provoziert, in der Hoffnung, die USA zu einem Krieg gegen den Libanon zu verleiten.

Das Weiße Haus ist offensichtlich bemüht, das Abgleiten in einen umfassenden regionalen Krieg zu vermeiden, da sich sowohl die libanesische als auch die irakische Front aufheizt: Am Sonntag feuerten irakische Bewegungen erneut Raketen auf den amerikanischen Stützpunkt in Shaddadi.

"Israel" empfindet die gegenwärtige Krise als existenzielles Risiko, aber auch als "Chance"   – eine Chance, "Israel" auf lange Sicht in "seinen biblischen Gebieten" zu etablieren. Es gibt keinen Zweifel   – dies ist die Richtung, in die sich die israelische Volksstimmung bewegt, sowohl vom linken als auch vom rechten Flügel, hin zu einer blutigen Eschatologie.

So schrieb ein prominenter israelischer Kommentator, nachdem er den (unsubstantiierten) 47-minütigen IOF-Film über die Ereignisse vom 7. Oktober gesehen hatte:

"Nachdem ich den Film gesehen habe, habe ich kein Mitleid mit irgendeinem Menschen in Gaza, nicht mit einer Frau, nicht mit einem Kind und schon gar nicht mit einem Mann. Jeder hat einen schmerzhaften Tod verdient, ihr seid alle mitschuldig an diesem Massaker. Ich hoffe, dass in Gaza niemand mehr am Leben ist, Punkt! ... Ich bin mir sicher, dass euer Gott euch verachtet, sich für euch schämt und euch in der Hölle verbrennen würde, so wie es die IDF jetzt mit euch tut."

Der "Stamm der Amalekiter" wird heute häufig zitiert. (König Saul befiehlt Samuel im ersten Buch Samuel, alle Amalekiter zu töten: "Verschone sie nicht; töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.")

Mit dem biblischen Stimmungsumschwung der Israelis steigt auch der Zorn der weltweiten Mehrheit. Und so sehen die Muslime die Krise als einen kompromisslosen Zivilisationskrieg   – der Westen gegen "uns".

Die beiden parallel stattfindenden Konferenzen der Arabischen Liga und der OIC (die gleichzeitig in Riad stattfanden) unterstrichen den völligen Zusammenbruch des Images "Israels" in der islamischen Welt. Die Wut und Leidenschaft, die sich dabei entlud, war deutlich spürbar und verändert die neue Weltpolitik.

Im Westen zersplittert die Wut die politischen Strukturen des Mainstreams und verursacht eine breite Erschütterung. Die weltweiten Proteste sind massiv.

simplicius.jpg

In dem Maße, wie sich "Israel" auf ein biblisches "Großisrael" zubewegt, wird die islamische Welt immer kompromissloser. Obwohl sich die Konferenzen nicht auf einen Aktionsplan einigen konnten, war das Bild von Präsident Raisi, der neben MbS saß, und die Tatsache, dass die Präsidenten Erdogan und Assad sich auf der Konferenz unter die Teilnehmer mischten, sehr beeindruckend.

Die strategischen Implikationen sind eindeutig: Israelis lehnen die Risiken eines Zusammenlebens mit Muslimen ab, und die Palästinenser erwidern diese Haltung gegenüber dem hebräischen Eiferer voll und ganz. Das alte Paradigma für eine politische Lösung ist obsolet geworden.

Quelle:  https://english.almayadeen.net/articles/opinion/-israel-s---nakba-doctrine
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

Weitere Beiträge in dieser Kategorie