«Einsamkeit ist eine Epidemie»
Diana Kinnert (*1991) wuchs als Tochter eines schlesischen Spätaussiedlers und einer philippinischen Migrantin auf. Sie studierte Politikwissenschaft und Philosophie in Göttingen, Amsterdam, Köln und Berlin. Heute ist sie Mitglied der CDU, selbstständige Unternehmerin sowie Beraterin und Publizistin. Kinnert unterstützte die britische Regierung bei der Einrichtung eines Ministeriums für den Kampf gegen die Einsamkeit und berät heute mehrere deutsche Landesregierungen zu diesem Thema. 2021 erschien ihr Buch «Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können» (Hoffmann und Campe). Schon ihr 2017 erschienenes Buch mit dem Titel «Für die Zukunft seh ich schwarz» war ein Bestseller. (ben)
Frau Kinnert, wie schlimm ist Einsamkeit?
Sehr schlimm. Wir leben im Zeitalter der Einsamkeit.
Wirklich?
Ja. Weil viele Menschen im Alter von Einsamkeit betroffen sind, wird das Phänomen in der westlichen Welt mit dem demografischen Wandel stark zunehmen. Zugleich zeigen Erhebungen, dass sich auch immer mehr Kinder, Jugendliche und Menschen zwischen zwanzig und vierzig einsam fühlen. Viele von ihnen sind in digitalisierten Jobs sehr erfolgreich.
Gibt es eine wissenschaftliche Definition von Einsamkeit?
Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl des Leidens. Es entsteht dann, wenn die gewünschte soziale Integration einer Person sich deutlich von der Anzahl und der Qualität sozialer Kontakte unterscheidet, die sie aus eigener Kraft zustande bringt.
Wie viele Personen sind davon betroffen?
Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Splendid Research fühlt sich in Deutschland jede sechste Person häufig oder ständig einsam. Das sind etwa 14 Millionen Personen. Und 2018, also noch vor Corona, ergab eine Umfrage der Europäischen Kommission, dass sich 8 Prozent der Europäerinnen und Europäer in der Vorwoche einsam gefühlt hatten. Das sind etwa 40 Millionen Menschen. Einsamkeit ist eine Epidemie.
Wie wirkt sich diese Epidemie konkret aus?
Sie hat vor allem schwerwiegende gesundheitliche Folgen. Bei alten Menschen ist der Grad an Einsamkeit der wichtigste Faktor, um die Lebenserwartung abzuschätzen, wichtiger als körperliche Gesundheit. Es gibt medizinische Studien, wonach Einsamkeit in allen Altersgruppen etwa gleich gesundheitsschädigend ist, wie wenn jemand 15 Zigaretten am Tag raucht. Einsamkeit verursacht Stress und schädigt das Immunsystem. Einsame leiden nachweislich häufiger unter Infektionskrankheiten, Bluthochdruck und kardiovaskulären Erkrankungen. Und ihr Risiko, an Krebs zu erkranken, ist signifikant höher. Das Problem reicht aber tiefer.
Inwiefern?
Ich stelle auch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen fest, das ich als Vereinzelung bezeichnen würde oder als eine Art Beziehungsstörung. Die Beziehung zwischen Bürgern und Bürgerinnen auf der einen und Parteien, Verbänden und Organisationen auf der anderen Seite ist gestört, weil sich immer weniger Leute ausserhalb ihres Jobs und ihres Privatlebens engagieren. Die ganze politische Diskussion ist konfrontativer, wir sind weniger kompromissbereit, wir reagieren aggressiver. Die Corona-Krise hat diese separatistischen Tendenzen verschärft, aber sie waren schon zuvor deutlich.
Wie wirken sich das Internet und die Digitalisierung auf das Phänomen der Einsamkeit aus?
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