Der Minister, der nicht sprechen wollte
«Ich habe alles versucht: Logopädie, Yoga, Buddhismus»: Der argentinische Innenminister Eduardo de Pedro.
Foto: Roberto Almeida Aveledo (Imago)
Als ihn Argentiniens Präsident Alberto Fernández im Dezember 2019 fragte, ob er Innenminister werden wolle, stellte Eduardo de Pedro eine einzige Bedingung: dass er niemals in der Öffentlichkeit sprechen müsse. Unter keinen Umständen. Fernández blieb nichts anderes übrig, als die Forderung anzunehmen, denn de Pedro ist ein schwerer Stotterer.
Das gilt auch für andere Spitzenpolitiker, etwa den amtierenden US-Präsidenten Joe Biden oder den ehemaligen kolumbianischen Regierungschef Juan Manuel Santos. Im Unterschied zum argentinischen Innenminister haben sie die Sprachstörung aber mehr oder weniger im Griff. Der 45-jährige de Pedro hingegen sagt in einem Gespräch mit der spanischen Zeitung «El País»: «Es gibt Tage, an denen ich flüssiger spreche. Und manchmal habe ich unglaublich Mühe.» Es sei ihm noch nicht gelungen, das Problem zu lösen, obwohl er alles versucht habe: «Logopädie, Yoga, Buddhismus, was es so gibt.»
Vielleicht hat seine traumatische Kindheit das Stottern begünstigt.
Warum jemand stottert, ist nicht abschliessend geklärt. Einer Hypothese zufolge hat das Gehirn von Stotterern Mühe, die verschiedenen gehirnphysiologischen und motorischen Aktivitäten des Sprechens zu koordinieren. De Pedro hält es ausserdem für möglich, dass seine traumatische Kindheit die Sprachstörung verursacht oder zumindest verstärkt habe.
Rettung dank eiserner Badewanne
Die Eltern des heutigen Innenministers gehörten während der argentinischen Militärdiktatur zur Opposition. Im April 1977 erschiessen Uniformierte de Pedros Vater. Wenig später dringt ein Kommando in das Haus ein, in dem sich seine Mutter mit dem damals Eineinhalbjährigen aufhält. Sie setzt den Kleinen in eine eiserne Badewanne und wirft sich über ihn, um ihn vor den Kugeln zu schützen. Dabei kommt sie ums Leben.
De Pedro gehört zu jenen zahllosen Kindern von entführten und ermordeten Oppositionellen, welche die Militärregierung zur Adoption freigibt. Aber er wird kurz darauf unter ungeklärten Umständen in der Kirche einer Provinzstadt in der Nähe von Buenos Aires ausgesetzt. Es gelingt seinen Verwandten, ihn zurückzuholen. Der Knabe wächst bei einer Tante auf.
Als Erwachsener setzt er sich für die Opfer der Militärdiktatur ein und schliesst sich dem sogenannten Kirchnerismus an, einer vom verstorbenen Ex-Präsidenten Nestor Kirchner und der heutigen Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner geschaffenen linken Strömung. Was den Kirchnerismus für de Pedro attraktiv macht, ist dessen Bereitschaft, die Schergen der Militärdiktatur juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Dass Cristina Fernández mittlerweile als eine der korruptesten Figuren der jüngeren argentinischen Geschichte gilt, gehört zu den Widersprüchlichkeiten seiner Biografie.
«Ich schwitzte, ich schleuderte, aber ich sprach.»
Als Innenminister immer zu schweigen, das geht natürlich auf Dauer nicht. Einmal, bei einer Videokonferenz mit dem Präsidenten und anderen Mitgliedern des Kabinetts, wurde de Pedro das Wort erteilt, obwohl er zuvor gesagt hatte, er nehme nur teil, wenn er schweigen dürfe. «Ich schwitzte, ich schleuderte, aber ich sprach.» Seither hofft er, dass Auftritte vor der Kamera und Interventionen bei Sitzungen auf einen guten Tag fallen. Niemand würde es für möglich halten, dass ein Stotterer Innenminister sein könne, sagt de Pedro. Aber wenigstens zwinge sein Problem die Zuhörer, sich auf seine Worte zu konzentrieren.
Sandro Benini ist TA-Redaktor im Ressort Kultur und Gesellschaft. Er hat italienische und deutsche Literatur studiert und war elf Jahre lang Lateinamerika-Korrespondent mit Wohnsitz in Mexiko.
Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/der-minister-der-nicht-sprechen-wollte-912013691597
Publiziert: 01.11.2021, 07:46
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