Kinder brauchen Urvertrauen
Brauchen Kinder eigentlich mehr Rechte, sollten diese gar im Grundgesetz eigens aufgeführt werden? Nun, eine spontane Antwort wird anders ausfallen, wenn man an misshandelte, gar missbrauchte Kinder denkt – oder eben an quengelige Sprösslinge, die ihre Mutter an der Supermarktkasse mit Gebrüll dazu zwingen wollen, ihnen doch noch eine Süßigkeit mehr, ein Spielzeug zusätzlich zu kaufen.
Auch auf einer reflektierteren Ebene gibt es verschiedene Positionen. Die einen halten für problematisch, dass Kinder im deutschen Grundgesetz lediglich als Objekt der Eltern auftauchen – dabei hätten sie doch ganz eigene Bedürfnisse. Andere argumentieren, spezielle Kinderrechte trügen die Gefahr in sich, dass sich der Staat unangemessen zum Anwalt Heranwachsender machen – und Elternrechte aushebeln könnte.
Gefühl des Wertseins und Aufgehobenseins
Nun sind Kinder tatsächlich besonders schützenswert, sie entwickeln sich ja erst – und deshalb ist eine andere Dimension vielleicht viel wichtiger als die juristische. Denn nach allem, was wir heute wissen, ist es für das Lebensglück eines Menschen von erstrangiger Bedeutung, ob er in seinen ersten Lebensjahren ein Gefühl des grundsätzlichen Wertseins und Aufgehobenseins erwirbt.
Der Psychoanalytiker Erikson nannte das basales oder Urvertrauen, Entwicklungspsychologen sprechen von ‚sicherer Bindung‘.
Wie wär's also, wenn wir am Weltkindertag einmal darüber nachsinnen, wie es um die Bindungsqualität unserer Sprösslinge steht? Schon Bruno Bettelheim meinte ja apodiktisch: Liebe allein genügt nicht.
Entscheidend ist Feinfühligkeit
Dabei ist es nicht einfach damit getan, dass Mütter – oder allgemeiner gesagt: eine primäre Bezugsperson – in den ersten Lebensjahren ständig verfügbar sind, damit Kinder Lebensmut und Resilienz erwerben. Das entscheidende Agens ist vielmehr mütterliche Feinfühligkeit.
Gemeint ist: Wie treffend eine „Mutter“ die Regungen ihres Babys entschlüsseln kann, wie angemessen und prompt sie diese beantwortet. Wie sehr sich der Säugling also geborgen fühlen kann – bei Unsicherheit, Unwohlsein, Ängsten; und wie gut sich ein Kleinkind in seinem Erkundungsdrang unterstützt sieht.
Denn das Gehirn formt sich ja erst, Selbstwahrnehmung und Weltbild entwickelt ein Kind schrittweise, im emotionalen Wechselspiel mit seiner „Mama“, zuerst per Blick und mit Lauten, dann durch Mimik und Gesten, schließlich via Sprache.
Feinfühligkeit, das hört sich allerdings einfacher an, als es ist. Wer sein Baby unbekümmert schreien lässt, wie früher einmal empfohlen, der beschert ihm frühkindlichen Stress – und solch erhöhter Cortisolspiegel kann chronisch werden.
Überhaupt wird Bindungsqualität überall dort schlechter, wo Kinder zu früh sich selbst überlassen werden. Aber auch wer ein Kleinkind überbehütet, ihm jede Herausforderung, erst recht Enttäuschung, ersparen will, es quasi seelisch verwöhnt, tut ihm nichts Gutes. Verbaut ihm die Erfahrung „Ich kann der Welt erfolgreich begegnen“.
Kinder lassen sich nicht optimieren
Die Bindungsforschung hat nicht zuletzt auch das umstrittene Thema „frühe Fremdbetreuung“ geerdet. Eine Krippe ist dann – und erst dann – gut für ein Kleinkind, wenn seine Mutterbindung so stabil geworden ist, dass es deren vertraute Art eine Zeit lang ohne Stress entbehren kann.
Wann das ist, muss individuell erspürt werden – und dies richtet sich nicht nach den Lebensplänen von Eltern oder Firma. Auch sind frühe Kitas nur dann entwicklungsförderlich, wenn die Erzieherinnen selbst feinfühlig genug sind, die abwesende Mama zu ersetzen – also auch nur dann, wenn sie nicht zu viele Kinder betreuen müssen.[... und wenn die Erzieherinnen über eine wirklich gute Aus- und Weiterbildung in Entwicklungspsychologie verfügen, Supervision erfahren, gut entlöhnt und langfristig in der Kita angestellt sind, möchten wir von seniora.org hinzufügen]
Ob öffentliche Frühbetreuung, Tagesmutter oder familiäre Bezugsperson: Die Frage nach dem frühen Kindeswohl ist mehr als ein Ressourcending oder ein Managementproblem. Die Wirtschaft mag globaler, unser Leben rasanter werden. Aber Kinder, insbesondere Babys, bleiben Wesen, die sich nicht beschleunigen, verdichten, optimieren lassen. Jedes von ihnen braucht seine eigene Zeit – und unser spezifisches Echo. Feinfühligkeit ist, so die Bindungsforscherin Lieselotte Ahnert, die mit Abstand gesündeste Kindernahrung.
Michael Felten (privat)
Michael Felten, geboren 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er arbeitet weiterhin in der Lehrerausbildung sowie als Schulberater und Autor. Jüngste Veröffentlichung: „Unterricht ist Beziehungssache“ (Reclam).
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-tag-der-kinderrechte-kinder-brauchen-urvertrauen.1005.de.html?dram:article_id=487834
Brauchen Kinder eigentlich mehr Rechte, sollten diese gar im Grundgesetz eigens aufgeführt werden? Nun, eine spontane Antwort wird anders ausfallen, wenn man an misshandelte, gar missbrauchte Kinder denkt – oder eben an quengelige Sprösslinge, die ihre Mutter an der Supermarktkasse mit Gebrüll dazu zwingen wollen, ihnen doch noch eine Süßigkeit mehr, ein Spielzeug zusätzlich zu kaufen.
Auch auf einer reflektierteren Ebene gibt es verschiedene Positionen. Die einen halten für problematisch, dass Kinder im deutschen Grundgesetz lediglich als Objekt der Eltern auftauchen – dabei hätten sie doch ganz eigene Bedürfnisse. Andere argumentieren, spezielle Kinderrechte trügen die Gefahr in sich, dass sich der Staat unangemessen zum Anwalt Heranwachsender machen – und Elternrechte aushebeln könnte.
Gefühl des Wertseins und Aufgehobenseins
Nun sind Kinder tatsächlich besonders schützenswert, sie entwickeln sich ja erst – und deshalb ist eine andere Dimension vielleicht viel wichtiger als die juristische. Denn nach allem, was wir heute wissen, ist es für das Lebensglück eines Menschen von erstrangiger Bedeutung, ob er in seinen ersten Lebensjahren ein Gefühl des grundsätzlichen Wertseins und Aufgehobenseins erwirbt.
Der Psychoanalytiker Erikson nannte das basales oder Urvertrauen, Entwicklungspsychologen sprechen von ‚sicherer Bindung‘.
Wie wär's also, wenn wir am Weltkindertag einmal darüber nachsinnen, wie es um die Bindungsqualität unserer Sprösslinge steht? Schon Bruno Bettelheim meinte ja apodiktisch: Liebe allein genügt nicht.
Entscheidend ist Feinfühligkeit
Dabei ist es nicht einfach damit getan, dass Mütter – oder allgemeiner gesagt: eine primäre Bezugsperson – in den ersten Lebensjahren ständig verfügbar sind, damit Kinder Lebensmut und Resilienz erwerben. Das entscheidende Agens ist vielmehr mütterliche Feinfühligkeit.
Gemeint ist: Wie treffend eine „Mutter“ die Regungen ihres Babys entschlüsseln kann, wie angemessen und prompt sie diese beantwortet. Wie sehr sich der Säugling also geborgen fühlen kann – bei Unsicherheit, Unwohlsein, Ängsten; und wie gut sich ein Kleinkind in seinem Erkundungsdrang unterstützt sieht.
Denn das Gehirn formt sich ja erst, Selbstwahrnehmung und Weltbild entwickelt ein Kind schrittweise, im emotionalen Wechselspiel mit seiner „Mama“, zuerst per Blick und mit Lauten, dann durch Mimik und Gesten, schließlich via Sprache.
Feinfühligkeit, das hört sich allerdings einfacher an, als es ist. Wer sein Baby unbekümmert schreien lässt, wie früher einmal empfohlen, der beschert ihm frühkindlichen Stress – und solch erhöhter Cortisolspiegel kann chronisch werden.
Überhaupt wird Bindungsqualität überall dort schlechter, wo Kinder zu früh sich selbst überlassen werden. Aber auch wer ein Kleinkind überbehütet, ihm jede Herausforderung, erst recht Enttäuschung, ersparen will, es quasi seelisch verwöhnt, tut ihm nichts Gutes. Verbaut ihm die Erfahrung „Ich kann der Welt erfolgreich begegnen“.
Kinder lassen sich nicht optimieren
Die Bindungsforschung hat nicht zuletzt auch das umstrittene Thema „frühe Fremdbetreuung“ geerdet. Eine Krippe ist dann – und erst dann – gut für ein Kleinkind, wenn seine Mutterbindung so stabil geworden ist, dass es deren vertraute Art eine Zeit lang ohne Stress entbehren kann.
Wann das ist, muss individuell erspürt werden – und dies richtet sich nicht nach den Lebensplänen von Eltern oder Firma. Auch sind frühe Kitas nur dann entwicklungsförderlich, wenn die Erzieherinnen selbst feinfühlig genug sind, die abwesende Mama zu ersetzen – also auch nur dann, wenn sie nicht zu viele Kinder betreuen müssen.[... und wenn die Erzieherinnen über eine wirklich gute Aus- und Weiterbildung in Entwicklungspsychologie verfügen, Supervision erfahren, gut entlöhnt und langfristig in der Kita angestellt sind, möchten wir von seniora.org hinzufügen]
Ob öffentliche Frühbetreuung, Tagesmutter oder familiäre Bezugsperson: Die Frage nach dem frühen Kindeswohl ist mehr als ein Ressourcending oder ein Managementproblem. Die Wirtschaft mag globaler, unser Leben rasanter werden. Aber Kinder, insbesondere Babys, bleiben Wesen, die sich nicht beschleunigen, verdichten, optimieren lassen. Jedes von ihnen braucht seine eigene Zeit – und unser spezifisches Echo. Feinfühligkeit ist, so die Bindungsforscherin Lieselotte Ahnert, die mit Abstand gesündeste Kindernahrung.
Michael Felten (privat)
Michael Felten, geboren 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er arbeitet weiterhin in der Lehrerausbildung sowie als Schulberater und Autor. Jüngste Veröffentlichung: „Unterricht ist Beziehungssache“ (Reclam).
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-tag-der-kinderrechte-kinder-brauchen-urvertrauen.1005.de.html?dram:article_id=487834
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
- Friedrich Liebling: Geleitwort zum Buch Grosse Pädagogen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
- Alfred Adler – Das Gemeinschaftsgefühl: Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung
- Alfred Adler – Aus der Nähe porträtiert
- Alfred Adler "Der Sinn des Lebens"
- Alfred Adler Panorama: Eine Würdigung des grossen Psychologen und Begründer der Individualpsychologie
- Alfred Adler und die Individualpsychologie
- Alfred Adler und die pädagogische Revolution
- Alfred Adler: Die andere Seite - Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes
- Alfred Adler: Die Angst
- Alfred Adler: Understanding Human Nature - Menschenkenntnis (1927)
- Alfred Adlers Persönlichkeitstheorie kurz erklärt
- Alfred Adlers psychagogisches Wirken, am Beispiel eines Schulversagers einfach erklärt
- Auszug aus «Gestalten um Alfred Adler - Pioniere der Individualpsychologie»
- Auszüge aus Alfred Adler-Panorama und weitere Beiträge
- Bhadrakumar: Ein Jahrestag, den der Westen lieber vergessen würde
- Der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit
- Der Mensch im Lichte der modernen Psychologie
- Die Bedeutung des psychologischen Beratungsgespräches zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen
- Die Familie als Schule des Lebens
- Die Kopernikanische Wende und ihre Bedeutung für die Psychologie
- Flieg wie ein Adler, Darya Dugina / Fly Like An Eagle, Darya Dugina !
- Friedrich Lieblings Schule im Winter auf Gran Canaria - Eine Reportage
- Revolutionäre Wandlungen im psychiatrischen Denken der Gegenwart
- Schlaglicht auf den toten Winkel
- Schulzeugnis und Versagen in der Schule
- Soziale Psychologie
- Was das Besondere an der Zürcher Schule ist?
- Wie und mit wem können wir die Gesellschaft umgestalten?
- Zum 150. Geburtstag Alfred Adlers: die große Biographie des Erfinders der Individualpsychologie
- Zur Bedeutung Alfred Adlers
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- «Einsamkeit ist eine Epidemie»
- Kita-Krise: In Deutschlands Kitas arbeiten immer mehr Menschen ohne pädagogische Ausbildung
- Das Jungfernhäutchen: Ein Mythos lebt weiter
- Der Minister, der nicht sprechen wollte
- «Wenn ich nur dieses eine Buch geschrieben hätte …»
- «Ein Krippenbesuch ist erst im Alter von 2 bis 3 Jahren ideal»
- Im Dschungel des Internets
- Wilhelmine von Hillerns Roman «Geier-Wally»
- Kinder brauchen Urvertrauen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
- Alfred Adler und die pädagogische Revolution
- Du sollst Dein Kind nicht loben
- Warum ADHS keine Krankheit ist – Eine Streitschrift
- Wir ermutigen Eltern, bis zur achten Klasse mit dem Smartphone zu warten
- Schulzeugnis und Versagen in der Schule
- Erziehung zur Medienkompetenz
- Über die Bedeutung der Erziehung
- Die «Tablet»-Familie
- Lehrer gehen juristisch gegen filmende Schüler vor
- Was sind Rabeneltern?
- «Hört auf, die Kinder zu loben»
- Den Kindern den Weg ins Leben zeigen
- Kinder und Jugendliche stark für den Umgang mit Medien machen
- Säuglinge in Kinderkrippen – Ein interessanter Briefwechsel mit einer Mutter