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Sind wir gut oder schlecht? Ein Gespräch mit Rutger Bregman über die Natur des Menschen

Warum der Historiker an das Gute im Menschen glaubt  – trotz Krieg und Folter.

publiziert: 30. Dezember 2021
Von Franziska Bulban, 10.03.2020, 12.30 Uhr, Der Beitrag wurde am 10.03.2020 auf bento.de veröffentlicht.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde, Rutger Bregman, 1988 geboren, ist Historiker, kein Psychologe. Sein Buch "Im Grunde gut" hat 2020 grosse Wellen geschlagen und wurde in 44 Sprachen übersetzt. Wir empfehlen das Buch sehr, es ist gut und spannend geschrieben und gut zu lesen. Wer es noch nicht gelesen hat, möge es nachholen. Wir bringen hier ein nettes Interview mit ihm, weil er von der Sozialnatur des Menschen überzeugt ist und auch unser Menschenbild betrachtet, das noch im Mittelalter verhaftet ist: Mit dem Glauben an "Gut und Böse", mit Hobbes' "Homo Homini Lupus" (Der Mensch ist des Menschen Wolf), das trotz all unserer Aufklärung noch immer in unseren unbewussten Gefühlen verankert ist. Hier nun ist die Psychologie gefragt, um uns von Gefühlsirrtümern zu befreien, wenn wir Gefahr laufen, wieder an einen neuen Teufel zu glauben, der medial aus dem Hut gezaubert wird. Früher waren es die Frauen, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden mussten oder die Ungläubigen, die mit Kreuzzügen bekämpft wurden, immer war "Das Böse" im Spiel. Ob Allende oder Pinoichet, ganz egal. Bei George W. Bush waren wir schnell dabei zu glauben, dass der unsagliche "War on Terror" (Der Krieg gegen den Terror) mit heiligem Feuer und vielen Milliarden gekämpft werden musste, bis heute. Immer laufen wir noch Gefahr, darauf hereinzufallen. Bist Du nicht für uns, bist Du gegen uns, sagte nicht nur George W., sondern sagen viele überall auf der Welt. Die Tiefenpsychologie, die Neopsychoanalyse, die Entwicklungspsychologie und die Hirnforschung arbeiten alle seit vielen Jahren daran, hier Ordnung schaffen im Denken und vor allem im Fühlen der Menschen, allerdings mit noch zuwenig Erfolg. Noch haben Kriegstreiber das Sagen, auch Frauen, die früher derart unterdrückt waren, beteiligen sich heute mit Akribie an der Kriegstreiberei. Der Wahn, der die Scheiterhaufen möglich machte, ist noch nicht überwunden. Aber Erkenntnisse, wie sie Rutger Bregman in seinem Buch darlegt und vor allem psychologische Erkenntnisse, wie sie Alfred Adler und Friedrich Liebling in allgemein verstädlicher Form veröffentlicht haben, geben uns einen Hoffnungsschimmer, dass es besser werden kann mit der Menschheit, weil die Sozialnatur unbestritten ist und die meisten von uns ins Wasser springen, wenn jemand um Hilfe ruft und in Gefahr ist zu ertrinken. Der "War on Terror" hat meine Frau und mich angestachelt, uns vermehrt mit unserer Kulturgeschichte zu befassen und die Erziehungsfrage in den Mittelpunkt zu stellen. So ist in den Jahren mit Seniora.org ein schönes Nachschlagewerk entstanden, das von vielen geschätzt wird. Anerkennende Worte und auch finanzielle Unterstützung unserer Leserinnen und Leser zeugen davon. Dafür sind wir dankbar. Herzlich Willy und Margot Wahl (13.09.2024)

RutgerBregman StephanVanfleteren
Rutger Bregman

Menschen lügen und betrügen, sie bauen Massenvernichtungswaffen, sie schließen Grenzen vor Hilfsbedürftigen und spekulieren auf Grundnahrungsmittel. Menschen sind, so eine allgemeine Annahme, im Kern ihres Wesens nicht moralisch, sondern nur am eigenen Überleben und Gewinn interessierte Egomanen. 

Im März 2020 ist ein Buch erschienen, das mit diesem Menschenbild aufräumen will, "Im Grunde gut". Die These: Eigentlich sind Menschen ganz in Ordnung. Es sei nicht die sogenannte Zivilisation, die uns zwinge, nett zu sein. Sondern soziales Verhalten liege in unserer Natur. 

Der niederländische Autor, Rutger Bregman, 31, Historiker mit Thesen zur Gegenwart und Millennial mit Freude an der Boomer-Konfrontation, wurde vergangenes Jahr mit einer kleinen Ansprache so richtig berühmt. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wich er vom geplanten Skript ab   – und sagte der anwesenden Finanzelite die Meinung:

«Ihr redet hier über Teilhabe und Gerechtigkeit. Aber keiner spricht über das eigentliche Problem: Steuerflucht.»

Spätestens dieser Auftritt machte ihn zu einem "Helden für viele junge Menschen" (Daily-Show-Host Trevor Noah) oder zumindest zu einem Vorzeige-Intellektuellen linker Millennials

Um die These von "Im Grunde gut" zu untermauern, führt Rutger ein ganzes Arsenal an Argumenten auf: rührende Beispiele der zwischenmenschlichen Hilfsbereitschaft nach großen Katastrophen, verhaltenspsychologische Experimente, die den Menschen im Vergleich zum Affen vor allem als soziales Lebewesen entlarven, und Untersuchungen über die Tatsache, dass erstaunlich viele Soldaten in Kriegen keinen einzigen Schuss abfeuern.

Wir haben mit Rutger darüber gesprochen, was es für unsere Politik und Gesellschaft  bedeuten würde, wenn wir an das Gute im Menschen glauben könnten   – und warum er fürchtet, dass CEOs daran kein Interesse haben.

bento: Rutger, im ersten Kapitel deines Buches schreibst du, ein deutscher Verlag hätte "Im Grunde gut" abgelehnt, weil Deutsche nicht an das Gute im Menschen glaubten. Was meinst du, woran liegt das?

Rutger Bregman: Wenn man behauptet, der Mensch sei "Im Grunde gut", ist die große Frage natürlich: Wie kommt es dann zu Krieg, zu Genoziden, zu Massenmorden   – oder, in Deutschland, wie erklärst du dir den Holocaust?

bento: Und?

Rutger: Ich stelle mir die Frage natürlich auch, ich widme ihr Hunderte Seiten. Es ist ironisch, dass ich ein Buch über das Gute im Menschen schreiben wollte und mich am Ende sehr viel mit den dunkelsten Stunden der Menschheit beschäftigt habe. Aber die Antwort: "Der Mensch ist einfach schlecht" erschien mir zu simpel. Also habe ich angefangen zu recherchieren.

bento: Wie bist du denn überhaupt auf die Idee gekommen, dass der Mensch gut sein könnte?

Rutger: In meinem vorangegangenen Buch, "Utopien für Realisten", ging es um alle möglichen Ideen, die Wirklichkeit werden könnten   – so wie das bedingungslose Grundeinkommen, zum Beispiel. Es gibt schon viele Experimente zu der Idee und immer wieder wurden lauter positive Effekte festgestellt. Wir könnten es einfach mal umsetzen.

Aber wann immer ich zum Beispiel mit meinen Lesern bei Veranstaltungen darüber sprach, habe ich am Ende über die Natur des Menschen diskutiert. Die Leute haben Sätze gesagt wie "Ich finde das total spannend. Aber es würde nicht funktionieren. Weil Menschen faul sind." Da habe ich gemerkt, dass man für alle Ideen, die mich interessieren, ein anderes, optimistischeres Bild vom Menschen brauchen würde.

bento: Also hast du dich auf die Suche nach Gründen für einen solchen Optimismus gemacht.

Rutger: Ja. Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen, von Biologen über Archäologen bis zu Psychologen, haben sich von dem vorherrschenden zynischen Menschenbild entfernt. Ich habe ihre Untersuchungen in meinem Buch zusammengefasst, weil ich gemerkt habe, dass noch niemand die Verbindung zwischen den revolutionären wissenschaftlichen Entdeckungen der vergangenen 20 Jahre gezogen hatte. 

Es gibt gerade einen unübersehbaren Paradigmenwechsel. Wenn ich dieses Buch nicht geschrieben hätte, hätte es ein anderer getan.

bento: Du hast aber nicht nur positive Beispiele gesammelt. Du hast dich auch mit dem Teil der Wissenschaft beschäftigt, die unser negatives Bild des Menschen prägt. Dabei hast du vor allem eines entdeckt: Viele Fälschungen. Wie kannst du da noch an Wissenschaft glauben   – und neuere Forschung als Argument für dein Buch nutzen?

Rutger: Ja, zum Beispiel das Stanford-Gefängnis-Experiment, in dem Studierende zufällig in Wärter und Gefangene aufgeteilt werden, ist ein Witz, keine Wissenschaft. Das Experiment wurde abgebrochen, weil die Wärter die Gefangen missbraucht haben. Aber: Die Studenten wurden von Teilen des Forschungsteams aufgehetzt, das ganze war komplett inszeniert (American Psychologist). Die Ergebnisse, die ich jetzt benutze, sind von einer jüngeren Generation Wissenschaftler, die den alten Thesen noch mal nachgegangen sind. Ich glaube, Wissenschaft ist ein sich selbst reinigendes System.

bento: Woher willst du wissen, dass es nicht einfach um Zeitgeist geht? Dein Bias und der von den jungen Wissenschaftlern kann euch doch auch fehlleiten. 

Rutger: Ich würde nie behaupten, dass ich mir sicher bin. Aber ich habe versucht, ein Buch zu schreiben, das man auch in zehn oder zwanzig Jahren noch lesen kann. Da war ich nicht auf der Suche nach aufregenden neuen Studien, die keiner nachmachen kann. Ich habe mich mit Metaanalysen beschäftigt, die hunderte Studien zusammenfassen. Das ist in den Nachrichten oft anders   – dort widmet man spektakulären Studien viel Aufmerksamkeit.

Die Nachrichten sind einer der Hauptgründe, warum wir so fest daran glauben, dass der Mensch schlecht ist.

bento: Klar, Meldungen sind oft negativ. Aber viele positive Beispiele, die du erwähnt hast, kannte ich bereits. Die Geschichten der Hilfsbereitschaft in New Orleans nach Hurrikan Katrina sind zum Beispiel nicht neu. Das heißt: Das Wissen war schon vor deinem Buch öffentlich, es wurde auch in den Medien erzählt. Es scheint nur deutlich weniger Menschen zu interessieren.

Rutger: Ja, obwohl es hunderte Belege über den Zusammenhalt von Menschen nach Katastrophen gibt, glauben die meisten, dass Chaos herrschen würde. Jeder denkt, es gäbe ein Großes "alle gegen alle". Dabei stimmt das einfach nicht.

bento: Warum glauben wir dann so hartnäckig an unsere Angst?

Rutger: Menschen sind erstmal biologisch darauf ausgerichtet, dass Angst stärker wirkt als andere Gefühle. Klar, man hat in der Natur lieber einmal zu viel Angst vor der Schlange als einmal zu wenig.

Ich glaube aber auch, dass dieses Narrativ des bösen Menschen den Mächtigen in die Hände spielt. Denn wenn wir schlecht sind, dann braucht es Herrscher, CEOs und die Bürokratie, weil wir einander nicht vertrauen können

bento: Alles Strukturen der sogenannten Zivilisation. Du selbst beschreibst in deinem Buch den Übergang vom Leben der Jäger und Sammler hin zum sesshaften Leben als eine Katastrophe für den Menschen.

Rutger: Ja, das war unendlicher Mist: Mit der Sesshaftigkeit kamen Krankheiten, Kriege und Unterdrückung. Lauter Phänomene, die zuvor fast unbekannt waren. 

Aber besonders nach dem Zweiten Weltkrieg gab es große Fortschritte. Deshalb glaube ich, dass wir noch nicht wissen können, ob die Zivilisation ein Segen oder ein Fluch ist. Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen. 

Aber ich bin überzeugt, wenn wir die großen Fragen unserer Zeit angehen wollen, sei es die Klimakrise oder Armut, dann brauchen wir in unserer zivilisierten Welt ein neues Menschenbild.

Denn woran man glaubt, macht einen riesigen Unterschied. Schickt man zum Beispiel Hilfe nach New Orleans   – oder das Militär? Glaubt man, dass wir gemeinsam ein Problem angehen   – oder dass die anderen uns nur ausnutzen wollen?

bento: Du schreibst, dein größtes Ziel mit diesem Buch sei es, das Wort "realistisch" im Bezug auf den Menschen neu zu definieren. Wie meinst du das?

Rutger: Ich glaube, die meisten Menschen setzen Realismus mit Zynismus gleich. Wenn jemand sagt, "da musst du realistisch sein", bedeutet das: "Mach dir keine großen Hoffnungen." Es sind Sätze, die alte Politiker zu jungen Aktivisten sagen. Sätze, um Menschen als naiv darzustellen. 

Ich möchte zeigen, dass eigentlich die Zyniker naiv sind. Wenn man sich all die Belege anschaut, die wir dafür mittlerweile haben, lässt sich diese Haltung sehr gut verteidigen. 

Quelle: https://www.spiegel.de/politik/sind-wir-gut-oder-schlecht-ein-gespraech-mit-rutger-bregman-ueber-die-natur-des-menschen-a-6668e37d-93e4-41ac-a380-b015743d892c

 


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