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«Wir würden Krieg gerne vermeiden  – das ist das Wichtigste!»

Über die Schwierigkeiten, Vorurteile zu überwinden

publiziert: 08. Mai 2019
Interview mit Pjotr O. Tolstoi*, Stellvertretender Vorsitzender der Russischen Staatsduma

Zeit-Fragen: Welchen persönlichen Bezug haben Sie zum Nato-Angriffskrieg auf die Bundesrepublik Jugoslawien?

Pjotr Olegowitsch Tolstoi: Vor zwanzig Jahren arbeitete ich als Journalist für das russische Fernsehen. Als die Bombardierungen begannen, stand ich jeden Tag in direktem Kontakt mit Belgrad. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr gut daran, dass ich vom Studio in Moskau direkt in einer Live-Sendung mit meinem Freund Jewgeni Baranov, ebenfalls Journalist und auch bei dieser Konferenz anwesend, verbunden war, als die Bomben auf das Gebäude des serbischen Fernsehens abgeworfen wurden. Plötzlich war der Ton weg, die Leitung war tot.

Für mich war das auch eine ernsthafte berufliche Herausforderung, denn damals arbeitete das russische Fernsehen ohne Ersatzprogramm. So hatte ich dreissig Minuten Sendezeit vor mir, ich hatte den Ton und die Verbindung nach Belgrad verloren und muss­te als Moderator diese halbe Stunde live ausfüllen. Schliesslich haben wir die Situation und insbesondere die Folgen dieses Nato-Angriffs für Russland und die internationale Politik mit verschiedenen russischen Gästen diskutiert, die heute auch an der Konferenz anwesend sind.

Es war eine sehr klare Lehre für das ganze Land und für die meisten russischen Bürger. Dieser Angriff veränderte ihre Sichtweise stark, ihre Sichtweise auf den Westen, sowohl vor als auch nach der Aggression gegen Jugoslawien. Dies war der erste Vertrauensbruch zwischen Russland und dem Westen. Dann war da Jewgeni Primakow, der mit seinem Flugzeug   – meiner Meinung nach zu Recht   – zurückkehrte,1 was die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland negativ beeinflusste. Das ist sehr schade, aber leider ist es so. Und es scheint unmöglich, das kurzfristig zu ändern.

Sie haben erwähnt, dass es Lehren aus diesem Krieg zu ziehen gibt. Woran denken Sie dabei?

Erstens bin ich überzeugt, dass nichts eine militärische Intervention   – um das Wort Aggression zu vermeiden   – in ein souveränes Land rechtfertigt: weder humanitäre Gründe, noch der Schutz der Menschenrechte, noch der Schutz vor ethnischen Konflikten. In unserer internationalen Politik gehen wir von diesem Prinzip aus.

Und ich kann Ihnen sagen, dass die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Interparlamentarischen Union (IPU, Organ der Vereinten Nationen) eine von Russland eingebrachte Resolution unterstützt hat. Diese besagt, dass es verboten ist, sich auf diese Weise in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Landes einzumischen. Wir bestehen darauf nicht, weil wir selbst von solchen Interventionen bedroht wären. Nein, denn dank des Erbes der UdSSR verfügt Russland glücklicherweise über Atomwaffen, so dass wir dieser Bedrohung nicht ausgesetzt sind.

Doch wir alle haben die Veränderungen gesehen, die in mehreren europäischen Ländern stattgefunden haben, aber auch in Afghanistan, im Irak und in Libyen, wo die Demokratie nicht verbessert wurde. Wenn solche Interventionen eingeleitet werden, geht man immer von guten Prinzipien aus, die auch wir unterstützen: Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und so weiter.

Haben wir heute in Afghanistan Demokratie? Oder in Libyen? Oder in all den anderen Ländern, die angegriffen wurden?
Meiner Meinung nach hat diese Situation Präsident Putin motiviert, dem Antrag von Bashar al-Assad auf ein Engagement in Syrien zu entsprechen. Der Grund war nicht, dass ein Diktator Putin einen Diktator Assad unterstützen wollte. Überhaupt nicht. Vielmehr wollte Russland die staatlichen Strukturen auf syrischem Gebiet unterstützen. Denn ihre Auflösung hätte viel schlimmere Folgen gehabt als jene heute in Libyen. Das Wichtigste   – unabhängig vom Schicksal Assads   – war die Erhaltung staatlicher Strukturen, um den internationalen Terrorismus zurückweisen zu können.

Ausserdem meine ich, dass man sich in Europa nicht wirklich bewusst ist, dass dies der Grund ist, weshalb heute keine YouTube-Videos mehr zu finden sind, die zeigen, wie Menschen in orangefarbener Kleidung geköpft werden. Die internationalen Terroristen wurden von den Russen, Iranern und der Hiz­bullah aus dem syrischen Gebiet verdrängt. Dies gefällt der Koalition von sechzig westlichen Ländern nicht, die damit im Irak begonnen hatte. Wie auch immer, ich bin mir ganz sicher, dass es die richtige Entscheidung war, für Syrien und für die ganze Welt, denn das ist der Weg aus solchen Krisen heraus.

Syrien ist das erste Land, in dem es gelang, die Terroristen zu stoppen …

… sie zurückzudrängen, man kann nicht sagen, sie zu stoppen, denn sie sind nach Afrika gegangen, sie sind fast überall vertreten. Aber immerhin haben wir es geschafft, ihre Aktivitäten zu begrenzen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Russen auf Ersuchen der syrischen Regierung nach Syrien gegangen sind. Unabhängig davon, was man von Assad und seiner Regierung hält, es ist die von der Uno und somit von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Regierung, die Russland offiziell um Unterstützung gebeten hat. Die russischen Streitkräfte kamen nicht auf die gleiche Weise wie die Nato-Flugzeuge, die ihre Basis im italienischen Aviano verliessen, um im Namen der Demokratie Bomben auf Serbien abzuwerfen.

Muss man das heute noch erklären?

So ist es! Ich betone all dies, weil in der öffentlichen Meinung und in der westlichen Presse unrealistische Stereotypen über die Situation in Syrien und in der Ukraine in bezug auf Russland, über Gas, und über verschiedene andere Themen vermittelt werden … Diese unverantwortliche Verbreitung von albernen Stereotypen verzerrt die öffentliche Meinung erheblich.

Infolgedessen muss man den Menschen die Realitäten von Grund auf neu erklären. Ich selbst unterhalte mich oft mit Mitgliedern anderer europäischer Parlamente. Meine niederländischen Kollegen zum Beispiel wuss­ten nicht, dass die Ukraine früher zu Russ­land gehörte. Sie glaubten, dass sie immer unabhängig gewesen sei und dass Russland einen Teil davon annektiert habe. Sie wuss­ten nicht, dass auf dem Gebiet der Ukraine zwanzig Millionen Russen leben. Sie wuss­ten auch nichts von der Geschichte des Landes. Als ich anfing, ihnen Schritt für Schritt zu erklären, waren sie sehr überrascht und sagten: Aber das ändert ja alles!

Als Gäste aus der Schweiz, die ja nicht Mitglied der Nato ist, interessiert es uns natürlich auch sehr, wie sich Ihre Beziehungen zur Schweiz gestalten?

Wir haben sehr gute Beziehungen zur Schweiz. Anlässlich eines Frühstücks traf ich Herrn Yves Rossier, den Schweizer Botschafter in Moskau. Die Schweiz versucht immer noch, als Vermittler zwischen dem Westen und Russland zu fungieren.

Auch bei den Sanktionen?

Ja, aber politisch kann ich Ihnen sagen, dass wir trotz der gegenseitigen Besuche, an denen ich teilgenommen habe   – des Präsidiums des Schweizer Parlaments in Moskau und des Präsidiums des russischen Parlaments in der Schweiz   –, derzeit keine interparlamentarische Arbeit zwischen den beiden Parlamenten haben. Gründe dafür sind die Sanktionen gegen Russland und die politische Zurückhaltung unserer Schweizer Kollegen. Aber wir verstehen sie gut. Die Versuche der Schweiz, den Status der Neutralität zu erhalten, sind interessant. Die Schweiz ist ein Land, das in der Vergangenheit oft Schauplatz schwieriger Verhandlungen war, in denen grundlegende Abkommen zur internationalen Sicherheit unterzeichnet wurden.
Auch wir in der Schweiz sind natürlich in Sorge wegen der Kündigung des INF-Vertrages.

Seit dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) hat sich die Sicherheit in Europa erheblich verschlechtert. Und leider befinden sich die Nato-Militärstützpunkte heute in der Nähe der russischen Grenze in Bulgarien, Rumänien, Polen und bald auch in den baltischen Staaten. Die Flugzeit einer Rakete, die von Rumänien nach Moskau geschickt wird, beträgt zehn Minuten … Mit dieser Ost-Erweiterung der Nato fühlen wir uns schon etwas hintergangen …

Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Situation zu verbessern?

Das ist sehr schwierig. Es muss uns gelingen, die Klischees in der öffentlichen Meinung zu korrigieren, zu überwinden, alles wieder auf Null zu bringen und sich wieder an den Verhandlungstisch zu setzen. Manchmal wird vorgeschlagen, den Jalta-Vertrag zu erneuern. Aber vor Jalta war Krieg. Wir würden Krieg gerne vermeiden, jegliche militärischen Konflikte vermeiden. Das ist das Wichtigste.

Die Rückkehr an den Verhandlungstisch ist bei weitem die beste Lösung.

Wir sind bereit! Dafür sind wir offen. Russ­land betont dies, Putin sagt es bei jeder Gelegenheit, der Aussenminister und ich als Mitglied des Präsidiums des Parlaments betonen es bei allen unseren internationalen Treffen. Auf parlamentarischer Ebene sind wir zum Beispiel mit den Amerikanern im Gespräch, die in der OSZE in Wien gerne mit den russischen Delegationen zusammentreffen. Wir diskutieren über viele Dinge, aber die Schwierigkeit besteht darin, die Welle von Stereotypen zu überwinden, mit denen man heute in den meisten Medien, in der internationalen Politik und auch bei zahlreichen ­Politikern konfrontiert ist.

Wir hoffen also, dass sich das früher oder später ändern wird, sonst ist ein militärischer Konflikt unvermeidlich. Und wir wollen nicht, dass das passiert.
Deutschland spielt im Konflikt zwischen der Nato und Russland eine grosse Rolle. Wie beurteilen Sie die deutsch-russischen Beziehungen?

Wir haben sehr gute Beziehungen zu Deutschland. Es ist unser wichtigster Wirtschaftspartner in Europa. Gemeinsam verwirklichen wir ein sehr wichtiges Projekt für ganz Europa, die Gaspipeline Nord Stream 2, die von einigen übrigens als politische Waffe behandelt wird. Man sagt uns, es sei der Molotow-Ribbentrop-Pakt im Gasbereich und ähnlichen Unsinn. Meiner Meinung nach macht diese Pipeline die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähiger, denn unser Gas ist 40% billiger als das amerikanische Flüssiggas. Ich hoffe daher, dass sich das russische Gas langfristig positiv auf die Wirtschaft ganz Europas auswirken wird.

Welche Rolle spielen direkte Kontakte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern unserer Länder, zum Beispiel in Form von Städtepartnerschaften, angesichts der oben genannten Verständigungsschwierigkeiten?

Wir gehen vom Prinzip aus, je mehr Kontakte, desto besser. Während der Fussballweltmeisterschaft 2018 kamen Hunderttausende Menschen nach Russland. Sie erkannten, dass es kein Land ist, in dem man nur Balalaika spielende Bären findet, was eines der Stereotypen ist. Das war sehr wirkungsvoll. Wir sind daher offen für alle möglichen und denkbaren Austauschmöglichkeiten und natürlich auch für jeden Austausch zwischen Städten.

Wir entwickeln derzeit ein Projekt für elektronische Visa, die über den Heimcomputer bestellt werden können. Ich hoffe, dass dieser Plan bereits nächstes Jahr umgesetzt sein wird. Russland ist offen für jeden Austausch. Die Probleme entstehen dadurch, dass es einige Unterschiede zwischen der Realität und den Stereotypen gibt, die in der Öffentlichkeit zirkulieren. Die Leute denken, unser Land sei sehr weit weg, und wenn man ihnen sagt, dass Moskau drei Flugstunden von Genf entfernt ist, fällt es ihnen schwer, das zu glauben.

Also, wir werden sehen. Wir laden immer alle ein. Kommt, seht euch an, wie wir leben. Wir haben sehr viele Probleme im Inneren des Landes, das ist uns bewusst. Es ist ein riesiges Land. Aber fügen wir nicht noch internationale Spannungen auf Ebene der internationalen Politik hinzu. Ich hoffe, dass sich die Situation früher oder später verbessern wird   – zugunsten des Austauschs.

Herr Tolstoi, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

*Pjotr Olegovitsch Tolstoi ist Journalist, Medien-Produzent, Moderator und Politiker. Im September 2016 wurde er von der regierenden Partei Einiges Russ­land in die Russische Staatsduma gewählt und bekleidet dort das Amt des Vize-Vorsitzenden. Er ist Mitglied der Gesellschaftlichen Kammer der Russischen Föderation, deren Aufgabe u.a. die Einbringung der Interessen der Bürger und der gesellschaftlichen Gruppierungen in die Staatsorgane ist. 1999, zur Zeit der Nato-Bombardierungen von Serbien, berichtete er im russischen Staatsfernsehen täglich über das Kriegsgeschehen. Pjotr Tolstoi ist Ururenkel des Schriftstellers und Philosophen Leo Tolstoi.

1Jevgeni Primakow, Ministerpräsident der Russischen Föderation, befand sich am 24. März 1999 auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, um einen offiziellen Besuch in Washington zu machen. Als er von den ersten Nato-Bomben auf Belgrad erfuhr, befahl er dem Kapitän seines Flugzeugs, als Zeichen des Protests sofort nach Moskau zurückzukehren.
(Übersetzung aus dem Französischen Zeit-Fragen)

 Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2019/nr-11-7-mai-2019/wir-wuerden-krieg-gerne-vermeiden-das-ist-das-wichtigste.html


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