Kommt von Eurem hohen Ross herunter!
Starke Nato statt Uno-Charta?
Diese Reden und die Veranstaltung in München insgesamt haben folgende Eindrücke hinterlassen:
- Fast grotesk wirkte der anfängliche Auftritt des Leiters der Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger im blauen Kapuzenpullover mit den EU-Sternen vorne drauf. Wenn so die Einheit der EU beschworen werden soll – mit einem Kapuzenpullover –, dann ist der Einfallsreichtum tatsächlich nicht mehr gross.
- Von den Vertretern der grossen Mächte war es alleine das für auswärtige Beziehungen zuständige Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas, Yang Jiechi, der sich ausdrücklich auf die Charta der Vereinten Nationen berief. Die Charta ist für China die unverzichtbare Grundlage für die Regelung und Gestaltung der internationalen Beziehungen. Bei den Vertretern der Nato-Staaten fehlte dieser Bezug. Ihr Interesse galt einem möglichst hoch gerüsteten und auf kommende Auseinandersetzungen mit «Wettbewerbern» vorbereiteten Militärbündnis, der Nato. Der US-Vizepräsident wie auch der britische Kriegsminister sprachen ausdrücklich von ihrem Anspruch auf «Führung» in der Welt; die Vertreter Deutschlands wollen «multilateral» führen, aber nicht weniger gegen(!) die «Wettbewerber». Die Nato-Vertreter forderten die Unterordnung unter eine «rules-based order»1 und meinen damit sehr wahrscheinlich die von ihnen bislang diktierten «Regeln», nicht die Uno-Charta und das Völkerrecht; denn diese verpflichten zum Verzicht auf die Anwendung und Androhung von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen, garantieren die Souveränität der Staaten sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker und fordern das gleiche Recht für alle Staaten, ob gross oder klein.
Britischer Kriegsminister betreibt Russland-Bashing
- Interessanterweise hat man in diesem Jahr die Kriegsminister von Deutschland und Grossbritannien gemeinsam die Tagung eröffnen lassen. Ursula von der Leyen sagte nichts Neues. Sie beschwor die Einheit der Nato, versprach mehr deutsche Ausgaben für die Armee, noch mehr deutsche Beteiligung an kriegerischen Aktivitäten, ein Ende der Beschränkungen bei der Rüstungsexportpolitik und überhaupt ein Ende der bisher noch immer vorhandenen deutschen «Zurückhaltung». Dass sie Russland der Aggressivität bezichtigte, gehört mittlerweile zu ihrem Standard – aber viel mehr zu Russland sagte sie nicht. Das galt übrigens für alle deutschen Redner. Ganz anders der britische Politiker. Er redete nicht nur davon, dass die Welt britische «Führung» erwarte – was übrigens durch keinen weiteren Redner bestätigt wurde –, sondern zeichnete auch ein ganz finsteres Bild von der russischen Politik und sparte nicht mit Drohungen. Ansonsten gab er sich ganz einig mit der deutschen Amtskollegin. Willy Wimmer, der ehemalige Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, erinnerte in einem Kommentar dazu an einen Funkspruch der Royal Navy an das kaiserliche Deutschland: «Freunde gestern, Freunde heute, Freunde für immer …», wenige Wochen vor der britischen Kriegserklärung an dasselbe kaiserliche Deutschland (https://de.sputniknews.com/kommentare/20190214323957162-sicherheitskonferenz-verantwortung-konflikt/).
Von der Leyen stört es, wenn jemand eine andere Meinung hat
- Fast interessanter als von der Leyens Rede war ihre Reaktion auf eine Frage in der kurzen Diskussion. Sie meinte, Russland versuche, die Nato zu spalten. Man merke dies, so die Ministerin, in den Sozialen Netzwerken. Von der Leyen meinte damit sehr wahrscheinlich, dass nicht alle Menschen und schon gar nicht in Deutschland bei der Kampagne «Feindbild Russland» mitmachen. Das beschäftigt die Ministerin, und sie sagte auch, dass sie sich überlege, was man da tun könne. Die britische Geheimdienstinitiative «Integrity Initiative» (vgl. Zeit-Fragen Nr. 3 vom 29. Januar und Nr. 4 vom 12. Februar) wird also auch ganz in ihrem Interesse liegen.2
- In diesem Jahr gab es die zahlenmässig bislang grösste US-amerikanische Präsenz. Aber es waren nicht Vertreter der US-Regierung, sondern des Kongresses, also der Legislative. Mehr als 50 von ihnen besuchten die Münchner Konferenz. Hinzu kam der ehemalige US-Vizepräsident Biden. Seiner Rede konnte man entnehmen, worum es ihm ging: Stimmung zu machen gegen den amtierenden US-Präsidenten und Werbung für sich und die eigene politische Fraktion, die Kriegsfraktion. Seine Worte klangen «milde», der Inhalt war es nicht. Er versprach schon jetzt, dass demnächst alles anders werde in der US-Politik. Überhaupt konnte man den Eindruck gewinnen, die starke US-amerikanische Präsenz war fast nur die Präsenz der einen politischen Hälfte, nämlich der Anti-Trump-Fraktion. Vielleicht ein Treffen zur Vorbereitung des Präsidentensturzes? Wie dem auch sei: Es war ein bewusster Affront gegen die amtierende US-Regierung, einen Führer der Opposition so ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Das machte man bei keinem anderen Land, dieses Jahr nicht und auch die Jahre zuvor nicht.
Angela Merkel präsentiert sich als «Führerin der freien Welt»
- Dazu passte die Rede der deutschen Kanzlerin. Dass sie sich für Nord Stream 2 einsetzte, mag man ihr zugute halten. Aber darum ging es ihr nicht. Sie grenzte sich einmal mehr von der Politik des US-Präsidenten ab und erhielt dafür «stehenden Applaus». Die deutschsprachigen Mainstream-Medien schwärmten, wie sehr sie doch ihrem Obama-Auftrag gerecht würde als «Führerin der freien Welt», in die Realität übersetzt: des imperialistischen Globalismus.
- Ob der amtierende US-Vizepräsident Pence noch auf der Seite seines Präsidenten steht oder diese schon gewechselt hat, mag hier offen bleiben. Tatsache ist, dass seine Rede unerträglich war. Er teilte die Welt in «die Guten» und «die Bösen» ein, sah sich als tätig in Gottes Auftrag, drohte erneut Iran und auch Venezuela massiv und appellierte ebenso inbrünstig an die anderen Nato-Staaten, nicht nur mehr für ihre Armeen auszugeben, sondern auch die (geplanten) Aktionen gegen Iran und Venezuela mitzutragen. Das Medienecho auf ihn war nur negativ, zugeordnet wurde er dem amtierenden US-Präsidenten.
Auf dem hohen Ross …
Nicht weniger wichtig als die Inhalte des Gesagten war die Haltung der Nato-Redner: vom hohen Ross herab. Glauben die führenden Politiker der Nato-Staaten noch immer, sie seien die Herren (und Damen) der Welt und hätten darüber zu befinden, was gut und was schlecht ist und was zu geschehen habe auf diesem Planeten? Die Phrasen sind bei allen die gleichen. Und mit ihrem Gerede von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde treiben sie einen furchtbaren Missbrauch mit so wichtigen Worten.
… aber auch Ausblicke
Ja, man muss es leider sagen: Die einzigen völkerverbindenden Worte im Verhältnis der grossen Mächte untereinander kamen vom russischen Aussenminister Sergej Lawrow. Auch seine Rede kann jeder nachlesen (http://www.mid.ru/en/press_service/minister_speeches/-/asset_publisher/7OvQR5KJWVmR/content/id/3520272). Lawrow nannte einige unschöne Tatsachen beim Namen, wies aber auch erneut darauf hin, welche Perspektiven es für alle Staaten und Völker des eurasischen Kontinents gebe: nämlich nicht die eines bitteren Konkurrenzkampfes (so wird es in den Nato-Staaten gesehen), sondern ein Miteinander der Kooperation in möglichst vielen Bereichen bei gleichzeitiger Akzeptanz der Unabhängigkeit und Souveränität aller Staaten und Völker.
Und damit bin ich beim Buch mit den Putin-Interviews. Ich empfehle sehr, dieses Buch zu lesen. Ein Politiker, der in den Nato-Staaten von den Verantwortlichen dämonisiert wird, zeigt sich als ein Staatsmann, der dem Gegenüber gleichwertig begegnet, besonnen, mässigend, verantwortungsbewusst, kenntnisreich bis ins Detail und genau studierend – ohne die bei uns so verbreiteten Feindbilder. Das ist eine Erholung von der Münchner Sicherheitskonferenz 2019.
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1 Die Erläuterungen zum Begriff «rules-based order» reichen von einer einfachen Übersetzung, also einer «regelbasierten Ordnung», bis hin zu einer Hegemonie unter US-amerikanischen Vorzeichen. So schrieb ein Blogger des US-amerikanischen Council on Foreign Relations am 3. Mai 2016 auf foreignaffairs.com («World Order: What, Exactly, are the Rules?») zur Erläuterung des Begriffes, es gebe «eine westlich-liberale internationale Ordnung, deren unverwechselbare Werte, Normen, Gesetze und Institutionen dazu bestimmt sind, das Verhalten der Staaten zu bestimmen und zu steuern. Diese Ordnung stammte ursprünglich aus Europa, fand aber erst mit dem Aufstieg der USA zur Weltführerschaft (oder Hegemonie) ihre volle Wirkung, da die Vereinigten Staaten nach 1945 die gebündelte Macht und den Vorsatz hatten, eine multilaterale Weltordnung zu schmieden, die sich einer Mischung aus Überzeugungskraft, Anreizen und Zwang bedient». Bei der englischsprachigen Ausgabe von Wikipedia ist aktuell zu lesen: «In den internationalen Beziehungen ist die liberale internationale Wirtschaftsordnung (LIEO), auch bekannt als die regelbasierte Ordnung [im englischen Original heisst es hier: rules-based order] oder die von den USA gesteuerte liberale internationale Ordnung, ein Begriff, demzufolge die gegenwärtigen internationalen Beziehungen um mehrere Leitprinzipien herum organisiert sind, wie offene Märkte, multilaterale Institutionen, liberale Demokratie und die Führungsrolle der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten. Diese Ordnung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen und wird oft mit der Pax Americana in Verbindung gebracht.» Es ist deshalb gut nachvollziehbar, wenn der russische Aussenminister Lawrow in der seinem Vortrag folgenden Diskussion während der Sicherheitskonferenz in München am 16. Februar folgendes sagte: «Unsere westlichen Kollegen verwenden die Begriffe ‹Völkerrecht› und ‹Normen des Völkerrechts› heutzutage nur noch selten. Statt dessen sprechen sie von einer ‹regelbasierten Ordnung› [im vom russischen Aussenministerium veröffentlichten englischen Text: ‹rules-based order›], und behaupten, dass es das gleiche ist. Sie verwenden dabei aber lieber ihren eigenen Begriff und nicht ‹internationales Recht›. Meiner Meinung nach wollen sie das Völkerrecht nicht einhalten, wie es beispielsweise im Chemiewaffenübereinkommen verankert ist und das von allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft ratifiziert wurde. Sie wollen nur die ‹Regeln› anwenden, die sie selbst erfunden haben, um die Charta unter Verletzung ihrer geltenden Grundsätze auszulegen.»
2 Wie weit die Gleichschaltung schon gediehen ist, zeigt ein Blick in aktuelle deutsche Schulbücher für den Politikunterricht. Hier wird nicht mehr sachlich informiert, sondern die Sprachregelung der Nato-Staaten kritiklos übernommen. So zum Beispiel im 2017 erschienenen Buch «Zeitfragen. Politische Bildung für berufliche Schulen» des namhaften Stuttgarter Klett-Verlages auf der Seite 211 über den Ukraine-Konflikt. Da lautet zum Beispiel eine Aufgabe: «Für die EU ist die Eingliederung der Krim durch Russland eine Annexion und verstösst gegen das Völkerrecht. Gegen diesen Schritt verhängte sie wirtschaftliche und politische Sanktionen (Strafmassnahmen) gegen Russland. Stellen Sie Argumente zusammen, mit denen solche Massnahmen begründet werden können.» Dürfen deutsche Schülerinnen und Schüler nur noch die Sicht der Nato kennenlernen?
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