Wir sind alle Afrikaner
Volker Sommer
Auch wenn Sie sich für liberal halten: Vermutlich haust selbst in Ihnen ein Rassist. Nein? Dann auf zum kleinen Quiz: Mit wem teilen die Mongolen mehr Erbanlagen, mit den schlitzäugigen Chinesen oder den rundäugigen Europäern? Wem sind die dunkelhäutigen Australier näher verwandt, den schwarzen Bantu oder den hellen Thai? Und wem steht der Schimpanse näher, dem Gorilla oder dem Menschen?
Der Augenschein trügt: Wenn wir den Genetikern glauben mögen, so ist jeweils die zweite Antwort richtig. Wie aber kann ganz anderes in uns stecken, wo die Menschheit so offenbar in Weiss und Schwarz und Gelb zerfällt? War es vielleicht nur mal wieder gut gemeint, als eine Unesco-Konferenz kürzlich verkündete, es gebe «keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff ‹Rasse› weiterhin zu verwenden»?
Keineswegs. Es ist ausgerechnet die moderne Genetik, die dem Rassenkonzept den Garaus macht. Dies, nachdem die Wissenschaft die Rassenideologie über lange Zeit nach Kräften gefördert hatte.
Weiss als Mass aller Dinge
Die Anfänge waren einfach: Im Jahr 1740 begründete der Schwede Carl von Linné die zoologische Klassifikation. Die von ihm erfundene Spezies Homo sapiens vierteilte er entsprechend der Geografie: Americanus (rot, cholerisch, aufrecht), Europeus (weiss, sanguin, muskulös), Asiaticus (bleichgelb, melancholisch, hartnäckig), Afer (schwarz, phlegmatisch, gleichgültig). Die von Linné zugeordneten Eigenschaften mögen uns rassistisch dünken, spiegelten jedoch klassisch-mittelalterlich die Temperamente wider, denen kaum Wertung innewohnt. Und notabene: Europäer werden nicht zuerst genannt – wohl, weil dem bibeltreuen von Linné alle Menschen als Kinder der Ureltern Adam und Eva galten.
Ironischerweise gewann die Hierarchisierung erst mit der bibelkritischen Aufklärung an Dynamik – als die Europäer sich global ermächtigten und Weiss zum Mass aller Dinge machten. Mit jener Farbpalette, die Johann Friedrich Blumenbach 1775 zusammenstellte, liessen sich über Jahrhunderte die stärksten Stereotype illustrieren. Dass der wundersame Terminus «Kaukasier» für die «weisse» Variante bis in heutige Volkszählungen fortlebt, verdanken wir dem Entzücken des Göttinger Anthropologen über einen weiblichen Schädel aus Georgien, den er für das ästhetischste Stück seiner Sammlung hielt. Allerdings diagnostizierte Blumenbach, das kaukasische Schönheitsideal habe während der Erdbesiedelung mancherlei «Degeneration» erlitten. So sei eine Menschenlinie über «rote» Indianer zu «gelben» Orientalen abgestürzt, eine andere über «braune» Malaien zu «schwarzen» Afrikanern.
Zunehmender Wissenschaftsglaube brach dann jenem Überlegenheits-Rassismus Bahn, der das Modell der Evolution von «höheren» und «niederen» Lebewesen sowie des Überlebens der Tüchtigsten auf Gesellschaften übertrug. Demnach seien «primitive Rassen» in unwirtliche Rückzugsgebiete abgedrängt und isoliert worden. So liessen Rassen sich zunehmend als «unwandelbar» verstehen – Voraussetzung des «Reinhalte-Rassismus», der im Nationalsozialismus traurig gipfelte.
Der grobschlächtigen Nazi-Ideologie langten drei Grossrassen: zur Herrschaft berufene «Kaukasier», «theriomorphe» (tiergestaltige) «Negriden» und «pädomorphe» (kindliche) «Mongoliden». Wer so in Schwarz und Weiss malte, meinte natürlich zugleich «gut» und «böse». Dass «Mongolide» nahe an Geisteskranke gerückt wurden, lebt übrigens in der Bezeichnung «mongoloid» für Menschen mit Down-Syndrom fort. Ergo: Wer von «Mischlingen» redet, vor «Überfremdung» warnt und «Leitkultur» beschwört, schreibt im Grunde jene Nazi-Gedanken fort, wonach «Rassenkreuzung» zu «disharmonischen Kombinationen» führt und ein Volk zum Aussterben bringt.
Mythen und Märchen
Deutschsprachige Anthropologen und Humangenetiker lieferten aberwitzige Vorwände, damit Viehwaggons umso voll gestopfter die Selektionsrampen anliefen. So ist es beinahe paradox, dass schlussendlich gerade die Populations-Genetik dem Rassenkonzept den Gnadenstoss versetzen sollte.
Zunächst zerbröselte das Dogma der Typologie, wonach Rassen «ewig» seien – weil sich prominente «unwandelbare» Merkmale als umweltabhängig erwiesen. Beispielsweise bildeten Völker in Äquatornähe mehrfach unabhängig voneinander starke Tönung von Augen und Haut aus – zunächst in Afrika, der Wiege der Menschheit, dann aber auch in Asien und Amerika. Denn mit dunkler Iris sieht es sich besser unter gleissender Sonne, und Melanin-Pigment schützt vor Hautkrebs. Die Vorfahren heutiger Bleichgesichter hingegen siedelten sich dort an, wo Winternächte lange währten. Helle Haut erlaubt dem Körper, das lebenswichtige Vitamin D auch bei wenig Sonne herzustellen.Ganz ähnlich züchtete Sauerstoffarmut in Hochgebirgen bei Bergvölkern in Asien und Amerika parallel grössere Lungenkapazitäten heran. Was allerdings die fantasiereich als «natürliche Schneebrille» umschriebenen «Schlitzaugen» sollen, weiss niemand so recht. Denn auch wo’s garantiert keine weisse Weihnacht gibt, finden sie sich. Daher mag die «Lidfalte» eher mehrfach unabhängig voneinander der «geschlechtlichen Zuchtwahl» entwachsen sein, also auf Partnerwahl zurückgehen.
Zucker sieht aus wie Salz
Rasse-Systematiker vergötzten Farben und Formen, weil dies «Oberflächenmerkmale» sind – also im wahrsten Wortsinn ins Auge fallen. Wer hingegen auf innere Werte schaut, könnte gänzlich anders einteilen. Ein gutes Beispiel sind Blutgruppen-Merkmale. Die Verteilung von A, B und 0 nimmt absolut keine Rücksicht auf die grobe Dreiteilung «Europide – Negride – Mongolide». Ob allerdings das Wissen, dass Rasse nicht unter die Haut geht, nazistische Blut-Mystiker von ihrer oberflächlichen Weltanschauung abgebracht hätte, darf bezweifelt werden.
Jedenfalls sind Merkmale, die der Auslese unterliegen, komplett ungeeignet, genetische Verwandtschaft anzuzeigen – eben weil sie sich mehrfach unabhängig herausbilden können. Um Verwandtschaft zu rekonstruieren, konzentriert sich die moderne Molekular-Genetik deshalb auf «selektionsneutrale» Gen-Sequenzen, vorzugsweise aus jener DNA, die keine Eiweisse codiert.
Ganz kontra-intuitiv kam dabei etwa heraus, dass Schimpansen nicht am nächsten mit Gorillas gruppieren, sondern mit Menschen. Noch bedeutender für unser Selbstverständnis dürfte sein, dass sich die Schimpansen West-, Zentral- und Ostafrikas trotz frappierender äusserer Ähnlichkeit genetisch sehr unterscheiden. Für Menschen hingegen gilt umgekehrt: Der äussere Eindruck mag Vielfalt suggerieren, doch ist unsere genetische Varianz extrem gering. Denn erst vor 100000 Jahren schwärmten Weltenbummler aus Afrika aus. So erklärt sich, warum – wiederum entgegen dem Augenschein – «Schwarz»-Afrika die genetisch diversesten Bevölkerungen beheimatet: Die Gene jüngerer Gründerpopulationen hatten weniger Zeit, sich durch Mutationen zu verändern.
Die Genetik belegt zudem, dass das Erbgut durchschnittlich umso verschiedener ist, je weiter der geografische Abstand – ganz egal, wie jemand ausschaut. So erklärt sich, dass eben die genetische Distanz zwischen Aborigines und Thailändern geringer ist als zwischen Aborigines und Bantu. Zucker mag aussehen wie Salz, hat aber weitaus mehr gemein mit Sirup.
Die Erfindung neuer Rassen
Wenn sich aber bestimmte Gene in manchen Bevölkerungen häufen: Was sollte uns dann hindern, neue Rassen einzuteilen? Zum einen besteht das Problem, dass immer willkürlich ist, wie viel Prozent Differenz genügen sollen. Wer wollte etwa den Appenzellern das Recht auf eigenen Rassestatus verweigern – gelten sie doch nicht nur als kleinwüchsig, sondern verfügen zudem über eigene Käse-, Likör- und Hundesorten? Zum anderen überlappen die Erbgutprofile verschiedener Bevölkerungen ganz enorm, während gleichzeitig sehr verschiedenartige Menschen zum selben Volk zählen können. Deshalb gab sich auch das Arier-Ideal nur allzu leicht dem Gespött preis: «blond und blauäugig wie Hitler...».
Längerfristig isolierte Stammlinien lassen sich nicht unterscheiden, weil wir alle Afrikaner sind – wenn auch massenweise im Exil. So hätten sich die Kulturen kaum anders entwickelt, wären Australier und Europäer vor 10 000 Jahren ausgetauscht worden. Denn was Kolonialgeschichte antrieb, waren sicher nicht die Gene, sondern ungleich verteilte Rohstoffe.
Mithin erlauben genetische Marker zwar, die geografische Herkunft grob zu bestimmen. Die sagen über das sonstige Erbgut einer Einzelperson aber nichts aus – beispielsweise ob jemand ein Gen trägt, das Kinder erblich schädigen könnte. Gen-Archäologen können nur Wahrscheinlichkeiten angeben: etwa, dass fast kein Chinese, aber acht Prozent aller Schweden an einer erblichen Eisenspeicherkrankheit leiden werden.
Wer derlei Zahlen in Rassen umrechnen möchte, wird sich auf ewig den Kopf zerbrechen. Und nie sicher sein vor Überraschungen. Etwa, dass hinsichtlich Nebenwirkungen von Arzneimitteln schwarzhäutige Äthiopier nicht mit Bewohnern der Subsahara, sondern mit käsegesichtigen Norwegern gruppiert werden müssen.
Das Konzept biologischer Rassen lässt sich mithin nur um den Preis wissenschaftlicher Demenz reanimieren. Gleichwohl werden «Rassen» stetig neu erfunden – selbst wenn es sich um Sprachgruppen handelt, wie die zunehmend zahlreichen «Hispanier» in den USA. Und dass Rasse Klasse ist, finden keineswegs nur ewig gestrige Rassisten. Ganz im Gegenteil: Wer meint, zu einer Minderheit zu gehören, dem wird über «positive Diskriminierung» oft mehr als nur ein Quoten-Stückchen vom sozialen Kuchen zugeschoben – wie an der Universität Michigan, wo’s bei der Bewerbung Pluspunkte für seltene Hautfarbe gibt. Statt «Farbenblindheit» zu fördern, erfindet politische Korrektheit den Rassismus unter umgekehrten Vorzeichen neu: als ausgleichende Gerechtigkeit für das von Vorfahren erlittene Unrecht.
Warum aber drängt es uns überhaupt, Eigenes von Fremdem unterscheiden zu wollen? Die evolutionäre Psychologie meint, diese Neigung – wie unsympathisch, wie bedauerlich sie sich entladen mag – sei tief in uns verwurzelt. Denn beim Güterstreit mit Nachbargruppen, der die Menscheitsgeschichte durchzieht, sei humanitäre Toleranz weniger nützlich als derbe Faustregeln über «Wir» und «Sie». Ethnozentrischer Nahkampf lässt eben keine Feinheiten zu.
Wann wird ein Becher zur Tasse?
Befürworter und Kritiker des Rassenkonzeptes setzen dabei einen Zwist fort, der schon unter den Philosophen des Mittelalters entbrannte: den zwischen Essentialisten und Nominalisten. Erstere behaupten, in Nachfolge der platonischen Lehre von den unwandelbaren Ideen, dass äusserlich Ähnlichem ein gemeinsames Wesen zugrunde liegt. So seien Whisky-, Wein- und Zahnputzgläser Variationen der vollkommenen Urform eines Bechers. Die Nominalisten hingegen behaupten, ähnliche Einheiten verbände weiter nichts als ein «Nomen», ein Namen. Wer will schon entscheiden, ab welchem Punkt ein Becher zur Tasse wird und schliesslich zur Schale? Und ab wann genau soll schwarze Haut als dunkelbraun gelten und braune als weiss?
Dass Rassen nicht «wirklich» existieren können, sollte im Lichte der Evolutionstheorie ohnehin unmittelbar einleuchten. Denn wenn wir die zahlreichen Zweige am Stammbaum der Menschheit im Querschnitt betrachten, können wir zwar mehr oder weniger typische Cluster von Genen ausmachen. Jenseits aber dieser Momentaufnahme, im Längsschnitt der Stammesgeschichte, löst sich deren Identität zwangsläufig auf – ist doch die biologische Perspektive nicht eine von Konstanz und «Essenz», sondern von stetigem Wandel.
Ergo: Rassen gibt’s nicht. Nur Rassismus.
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