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Neue Knochenfunde  – Urmenschen gehörten womöglich alle zur selben Art

von Johann Grolle
07. November 2015
Es wäre eine radikale Vereinfachung unserer Ahnenreihe: Möglicherweise bildeten die frühen Vorfahren des modernen Menschen nur eine Spezies. Das jedenfalls lassen aufregende Knochenfunde aus Georgien vermuten.

Fünf Paare von Augenhöhlen starren aus fünf steinernen Schädeln. Es sind fünf Paare, die für die ganze Menschheit stehen. Präsentiert wurden die fünf 1,77 Millionen Jahre alten Fossilien jetzt von einem internationalen Forscherteam aus Georgien, den USA, Israel und der Schweiz. "Es ist eine kleine Bombe für unser Fach", erklärt der Harvard-Paläoanthropologe Philip Rightmire mit kaum verhohlener Genugtuung. "Diese Befunde könnten uns zwingen, manch liebgewonnene Vorstellung zu überdenken."

Vor allem "Schädel 5", der schönste, vollständigste, besterhaltene und zugleich ungewöhnlichste der fünf gilt als Sensation. Er schmückt in dieser Woche das Titelbild der Wissenschaftszeitschrift "Science". "Ein fantastisches, wundervolles Stück", schwärmt der Urmenschforscher Fred Spoor vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Eine Ikone", sekundiert der kalifornische Paläoanthropologe Tim White.

"Schädel 5" stammt, ebenso wie die vier anderen Fundstücke, aus Dmanisi, 85 Kilometer südwestlich der georgischen Hauptstadt Tiflis in einer idyllischen Berglandschaft gelegen. Das Fleckchen ist in den letzten Jahren zu einem Pilgerort für Paläoanthropologen geworden. Denn hier offenbart sich ein einzigartiger Blick in die vielleicht dunkelste und geheimnisvollste Phase der Menschwerdung: jene Zeit, da aus dem Vormenschen Australopithecus der Urmensch Homo hervorging; jene Zeit mithin, in der sich der folgenschwere Wandel vom Affen zum Menschen vollzog.

Lange war die Fossilienausbeute gerade aus dieser Epoche vor rund 2 Millionen Jahren besonders dürftig. Die Forscher waren gezwungen, ihre Theorien auf einige Handvoll verstreuter Fundstücke zu gründen. Homo habilis, Homo rudolfensis, Homo ergaster, Homo erectus: So nannten sie die verschiedenen Menschenarten, die ihrer Vorstellung zufolge mehr oder weniger gleichzeitig in Ostafrika entstanden seien. Doch oft war die Definition einer solchen Spezies auf kaum mehr als einen Kiefer, einen Oberschenkel und ein paar Rippen gegründet.

Ein Erfolgsmodell der Evolution

Die Funde aus Dmanisi ändern gleich in zweierlei Hinsicht das Bild: Zum einen tritt hier erstmals ein Vertreter des Menschengeschlechts jenseits des afrikanischen Kontinents auf den Plan. Offensichtlich handelt es sich bei den Hominiden aus Dmanisi um ein Erfolgsmodell der Evolution, um eine Sippschaft, deren Mitgliedern die Ausbreitung bis in den Kaukasus gelungen war.

Vielleicht noch bedeutsamer aber ist, dass die Forscher in Dmanisi nicht nur vereinzelte Knochen, sondern gleich fünf klar unterscheidbare Individuen vor sich haben. "Wir haben es also mit einer Population zu tun", erklärt der an der Ausgrabung beteiligte Züricher Paläoanthropologe Christoph Zollikofer. Alter und Jugend, Mann und Frau   – all das ist unter den fünf in Dmanisi freigelegten Skeletten vertreten. Das erlaubt erstmals einen Blick auf die ganze Vielfalt eines urmenschlichen Völkchens.

Und dieser Blick offenbart in der Tat Erstaunliches: Selbst für den Laien sehen die fünf Schädel verblüffend unterschiedlich aus. Ausladende Backenknochen, vorspringende Kiefer, wuchtige Augenwülste: Jeder der Schädel hat seine eigenen höchst individuellen Merkmale.

Vielzahl der Homo-Arten nur "mediales Konstrukt"?

In "Schädel 5" scheinen sich gar Eigenheiten unterschiedlicher Spezies in einem einzigen Individuum zu vereinigen. "Sieht aus wie Homo habilis", meint etwa der südafrikanische Urmenschforscher Ron Clarke. "Typisch Homo erectus", urteilt dagegen der Leipziger Forscher Spoor. Ihr Kollege Zollikofer schließlich positioniert sich in der Mitte: Das kleine Gehirn weise "Schädel 5" als Mitglied einer primitiven Menschenform aus, sein Gesicht dagegen scheine einer eher fortgeschrittenen Homo-Art anzugehören.

Um die verwirrende Vielfalt der fünf Dmanisi-Fossile genauer zu erfassen, bedienten sich Zollikofer und seine Kollegin Marcia Ponce de León der sogenannten Morphometrie: Sie überspannten die gefundenen Schädel mit einem Netz aus vielen hundert Messpunkten und ermittelten daraus eine Reihe besonders charakteristischer Parameter.

Das Ergebnis ist verblüffend: Die morphologische Vielfalt innerhalb der kleinen Stichprobe der fünf Ur-Georgier erweist sich als ebenso groß wie diejenige sämtlicher Homo-Spezies zusammengenommen. Mit anderen Worten: Zwei Mitglieder der Urmenschgemeinde von Dmanisi ähnelten einander nicht mehr als zwei Vertreter zweier beliebiger unterschiedlicher ostafrikanischer Menschenarten.

Wenn dies aber zutrifft: Ist es dann überhaupt zulässig, in Ostafrika von unterschiedlichen Menschenarten zu sprechen? Die Entdecker von "Schädel 5" haben auf diese Frage eine radikale Antwort: Die vielen afrikanischen Homo-Arten sind ihrer Überzeugung zufolge nichts als Phantome. "Die meisten von ihnen", meint Zollikofer, "sind bloße mediale Konstrukte."

In Wirklichkeit sei die Menschwerdung entlang nur einer evolutionären Stammeslinie verlaufen. Die vermeintliche Menschen-Vielfalt in der afrikanischen Steppe sei wohl eher ein Produkt übereifriger Forscherkollegen: "Wer viele Jahre lang unter oft extrem schwierigen Bedingungen schweißtreibende Feldarbeit betrieben hat, der möchte sich am Ende gern selbst belohnen, indem er die Knochen, die er gefunden hat, einer neuen Spezies zuschreibt."

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling


Quelle: © SPIEGEL ONLINE 2013 Alle Rechte vorbehalten
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/urmenschen-bildeten-womoeglich-eine-einzige-spezies-a-928491.html