Buchempfehlung (31.10.2023): Nur durch Frieden bewahren wir uns selber
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(Red.) Diesen Text zusammen mit der Bitte ihn zu veröffentlichen und auf ein Buch als friedensstiftendes Projekt hinzuweisen, erhielten wir von unserem treuen Leser und Mitdenker Dr. Amir Mortasawi, dessen Website wir empfehlen(ww)
Zuerst fünf Hinweise:
1) Mit freundlicher Genehmigung des Patmos Verlags werden in dem folgenden Text längere Zitate aus dem oben genannten Buch verwendet. Diese Zitate unterliegen dem Copyright.
2) Am 5.9.2023 hielt Eugen Drewermann in seiner Heimatstadt Bergkamen einen bewegenden Vortrag mit dem Titel „Nur durch Frieden bewahren wir uns selber. Die Bergpredigt als Zeitenwende“ und stellte sein gleichnamiges neues Buch vor. Dieser Vortrag kann unter dem folgenden Link angeschaut werden:
https://www.youtube.com/watch?v=-mweph5saoQ
3) Rüdiger Lenz geht in seinem lesenswerten, am 13.10.2023 veröffentlichten Artikel „Frieden im 21. Jahrhundert“ ausführlich auf das oben genannte Buch ein:
https://apolut.net/frieden-im-21-jahrhundert-von-ruediger-lenz/
4) Das Inhaltsverzeichnis des Buches ist hier zu lesen:
https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2023/10/inhalt.ed2023.pdf
5) Die Bergpredigt ist unter dem folgenden Link zu finden:
https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/mt5.html
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„Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt, sondern bemüht euch immer, einander und allen Gutes zu tun!“
1. Tessalonicher (5:15)
„Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“
Lukas (17: 20-21)
„In den letzten rund 120 Jahren, speziell hier in (Mittel-) Europa, erfolgten die größten Menschheitsverbrechen nicht in zivilem Ungehorsam, sondern in zivilem Gehorsam!
Michael Hüter (1)
Zahlreiche führende Politiker in Deutschland berufen sich bei der Begründung ihrer kriegslüsternen Gedanken und Taten auf die „christlichen Werte Europas“ bzw. auf „das christliche Erbe des Abendlandes“. Die eschatologische Inbrunst in der Palästina-Krise hat in den letzten Tagen einen ohrenbetäubenden Höhepunkt erreicht. (2) Meine Leseempfehlung möchte ich deshalb mit zwei Zitaten aus dem neuen Buch von Eugen Drewermann beginnen, die auf andere Perspektiven hinweisen. Der Autor stellt zusammenfassend fest (3):
„Mit einem Wort: wer als Politiker immer noch sagt, es müsse mal wieder »das Volk« in den Krieg ziehen oder Unsummen an Geldern für Mittel zur Kriegsvorbereitung erbringen – die Zeiten hätten sich halt geändert und wir müßten »die ausgetretenen Wege verlassen« –, der sagt wissentlich die Unwahrheit: er selber marschiert vielmehr weiter auf den blutgetränkten Heerstraßen der Gewalt, nicht um den Menschen zu dienen, sondern um die Erringung, den Erhalt und die Ausdehnung seiner eigenen Macht, militärisch wie wirtschaftlich, voranzutreiben. Wer indessen als Christ sich versteht, hat jedwedem Krieg abgeschworen, ohne Wenn und Aber und ein für allemal. Er bekehrt sich zur Umkehr des Jesus von Nazareth und weigert sich kategorisch, der umgekehrt-verkehrten »Zeitenwende« des Nato-Programms einer Remilitarisierung in allen Lebensbereichen Folge zu leisten.“
Ein paar Seiten später erwähnt er dann (4):
»Warum müssen Sie gerade jetzt die Bergpredigt derart aktualisieren und artikulieren?« mag manch ein Leser sich noch immer fragen. »Wissen Sie nicht, daß alles, was Sie da zu Papier bringen, als politisch inkorrekt erscheinen muß oder als christlicher Fundamentalismus abgetan werden wird?«
Die Antwort kann nur lauten: Gerade im Bewußtsein, daß es sich so verhält, ist es notwendig, einen Standpunkt zu finden und zu formulieren, der Frieden von innen her ermöglicht, indem er das politische Denken ebenso hinter sich läßt wie gewisse ethische oder theologische Ideologiebildungen.“
Die Ereignisse der Gegenwart können wir nicht umfassend begreifen und behandeln, wenn wir die entsprechenden Daten aus der Vergangenheit nicht berücksichtigen. Und die Zukunft können wir nicht sinnvoll planen, solange wir die Gegenwart nicht richtig begriffen haben.
„Frieden ist viel mehr als die Abwesenheit von Kampfhandlungen zwischen zwei Armeen verschiedener Staaten. Wir merken das gerade in Deutschland. Obwohl wir nicht direkt an Kriegen beteiligt sind, herrscht überall Unfrieden. Die Spaltung der Gesellschaft vertieft sich an verschiedenen Bruchlinien, wenn es etwa um die Einstellungen zu Corona, zum Ukrainekrieg, zur Wokeness oder jetzt dem blutigen Konflikt Israel gegen Palästina geht. Die öffentliche wie die private Debatte sind zur Kampfarena geworden, in der sich auch bisherige Freunde und Weggefährten erbittert bekriegen. Ja selbst im Geist des Einzelnen herrschen allenthalben Zerrissenheit und eine quälende Unruhe. Wo wir nicht in den Krieg ziehen müssen, hält der Krieg Einzug in unsere Köpfe und unsere Wohnzimmer. Auch in der Sprache wird mächtig aufgerüstet. Wie konnte es so weit kommen? Zunächst wurden all diese Konflikte von interessierten Kreisen inszeniert, um zu spalten. Es fehlt uns aber auch an Immunität gegen derartige Zumutungen und an einem wirklich tiefgreifenden Willen zum Frieden“, schreibt Gabriele Gysi, Schauspielerin und Regisseurin, in ihrem Artikel vom 27.10.2023. (5) Albert Einstein wird die folgende Aussage zugeschrieben: „Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben.“
Eugen Drewermann ist als Theologe, Psychotherapeut, Kritiker des Kapitalismus und der NATO mit tiefgründigen Philosophie- und Geschichtskenntnissen, Schriftsteller und gesellschaftlich vielseitig engagierter Mensch vielschichtig vertraut mit den sozialen sowie psychischen Vorgängen und Erscheinungen. Er kennt die entscheidende Bedeutung des Umgangs mit den Ängsten, auch bei der gezielten Manipulation der Menschen, sehr gut. In seinem neuen Buch beschreibt er ausführlich das gegenwärtig dringend erforderliche Wahrnehmen sowie Verändern der herrschenden Betrachtungs-, Denk- und Verhaltensweisen als friedenspolitische Aufgabe jedes einzelnen Menschen.
Um die Bedeutung der zentralen Aussage des Buches, „Nur durch Frieden bewahren wir uns selber“, tiefgründig zu begreifen, ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Umständen die entsprechenden Botschaften von Jesus ausgesprochen wurden. Eugen Drewermann schildert plastisch die damalige Situation (6):
„In seinen Tagen befand sich das vermeintlich dem Volke Israel von Gott gegebene Land in der Hand der Römer, nachdem Pompeius es 63 v. Chr. in die römische Provinz Syrien eingegliedert hatte. Vor allem für die streng am Gesetz orientierten Pharisäer bedeutete diese Tatsache einen unausstehlichen Skandal: die Heiden, die Unbeschnittenen, verunreinigten den geheiligten Boden Israels! Ihnen auch nur die Hand zu geben bedeutete einen Bruch mit dem Reinheitsgesetz. Neben der kultischen Korrektheit standen natürlich auch politische Interessen auf dem Spiel, die, wie stets, religiös überhöht wurden: Darf man dem Kaiser Steuern zahlen und damit sein Unrechtsregime unterstützen? In Mk 12,13 –17 ist genau das die Frage, mit der man Jesus als Feind der Römer denunzieren oder als Freund der Römer korrumpieren will. Und was ist es mit der Hoffnung auf die Wiederkehr Davids? Verkörpert der verheißene Messias nicht gerade die Hoffnung, mit göttlicher Gewalt die Besatzer aus dem Land zu jagen56, wie es die Sikkarier (die »Dolchmänner«) mit ihrer Guerilla-Taktik in den Bergen Galiläas bereits als Heiligen Krieg vorbereiten?
Vor diesem hochgespannten religiös-politischen Hintergrund ist der Haß begreifbar, der Jesus als einem »Freund der Zöllner« entgegenschlägt. Nichts erscheint inmitten des ideologischen Freund-Feind-Denkens als so inakzeptabel, wie das, was der Mann aus Nazareth tut: er setzt sich mit den Helfershelfern der Römer, diesen Verrätern am eigenen Volke, diesen raffgierigen und korrupten Geldeintreibern zugunsten des Gegners und ihrer eigenen Tasche, demonstrativ an einen Tisch! Er lädt sie ein zum gemeinsamen Mahl des Geschenks der Gnade Gottes! Vergebung statt Krieg! Güte statt Gemetzel! Es wird der Dauervorwurf der Frommen sein, daß Jesus sich religiös wie politisch derart inkorrekt verhält (Mk 2,13 –17). Und man weiß: er meint es ernst. Sein Verhalten gegenüber den Zöllnern ist zentral für seine Ankündigung von einem Gott der grenzenlosen Güte, von einem Gott, der nicht verurteilt, sondern durch Verstehen heilt, und der die »Sünder«, die Gesetzesbrecher, nicht abweist, sondern ihnen nachgeht wie der Hirt dem Schaf, das sich verloren hat (Lk 14,3 –7).
Jesus selber ist es, der dieses Thema zur Entscheidung treibt: Krieg oder Friede, Güte oder Grausamkeit, Gott als Richter oder Retter? – Das Pessach-Fest naht; Jerusalem ist überlaufen mit Pilgern, die ihr Opferlamm durch die sadduzäischen Priester darbringen lassen möchten – über 140000 Schlachtungen in wenigen Tagen stehen an; die Stimmung vibriert in feierlicher Erregung, und Jesus nutzt sie, um sich dem Volke als der von Gott Verheißene zu erkennen zu geben. Feierlich hält er Einzug in die heilige Stadt. Doch er tut es gerade nicht als ein zweiter David, als ein Messias des Heiligen Krieges; er hält sich an die Verheißung des Propheten Sacharja (9,9 –11): Kommt er wirklich, der Gottgesandte, der zum Heil Beauftragte, so wird er nicht einreiten auf einem Schlachtroß, mit martialischer Attitüde, sondern »sanftmütig«, wehrlos, gewaltfrei – nur solche werden das »heilige« Land besitzen (Mt 5,5.9). Als erste Maßnahme wird er »die Bogen zerbrechen« und »die Kriegswagen verbrennen«, er wird statt der totalen Mobilmachung die totale Abrüstung ausrufen, auf daß allseits Friede sei im Lande. Freilich: Jesus selber wird diese Einstellung das Leben kosten. Als es vor Pilatus darauf ankommt, wählt das Volk, wieder einmal, den als kriegerischen Widerstandskämpfer verhafteten Barabbas; und Jesus? »Ans Kreuz mit ihm!« (Mk 15,16)
Lohnt der Friede, auch wenn er in dieser Welt scheinbar »utopisch« ist, weil er keinen Ort auf Erden im Verwaltungsgebiet der Machthaber haben soll, ein derartiges Opfer? Ist er das wert: das eigene Leben?
Die Frage ist falsch gestellt. Sie lautet eigentlich: Kannst du, willst du wirklich mit dem Krieg weiterleben?“
Auf Gandhi Bezug nehmend weist Eugen Drewermann auf die Bedeutung des Widerstandes für eine bessere Welt im Sinne der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit hin (7):
„Der gewaltfreie Widerstand ist in Wahrheit gerade nicht eine Haltung der Feigheit und der Schwäche, – als eine »grobe Unwissenheit«, bezeichnete zu Recht Mahatma Gandhi diese Anschauung; im Gegenteil: »Der passive Widerstand«, meinte er, »ist die Seelenkraft und in der Wirkung unvergleichlich und beispiellos in der Ausdauer. Er ist der Gewalt der Waffen überlegen. Wie kann man ihn für eine Waffe der Schwachen halten? Der Mut, der eine unabdingbare Voraussetzung für den passiven Widerstand ist, muß denjenigen völlig fremd sein, die physische Gewalt befürworten. Glauben Sie, ein Feigling kann ein gegen ihn gerichtetes Gesetz brechen? … ein passiver Widerständler wird sagen, er gehorche einem Gesetz nicht, wenn es gegen sein Gewissen gerichtet ist, auch dann nicht, wenn er vor der Mündung einer Kanone in Stücke gerissen wird. – Wer, glauben Sie, ist … wahrhaft mutig? Derjenige, der andere Menschen von der Rückseite der Kanone her zerfetzt oder der, der sich mit lächelndem Gesicht zur Kanonenmündung begibt und sich in Stücke reißen läßt? Wer ist hier der wahre Kämpfer, der Krieger? Derjenige, der stets den Tod als vertrauten Freund bei sich hat, oder derjenige, der den Tod anderer in seiner Hand hat? Glauben Sie mir, ein Mensch ohne Mut und Tapferkeit kann nie ein passiver Widerständler sein.« 10
Ein Pazifist, ein Mensch der Gewaltlosigkeit, kann demnach, wie Gandhi betonte, nur jemand sein, der die Angst vor dem Tod überwunden hat; es kann ihm nicht mehr um die bedingungslose Verteidigung seines vergänglichen Daseins gegen den Tod durch das Töten anderen vergänglichen Daseins gehen, – schon deshalb verbietet ihm die Verteidigung der Wahrheit, für die er eintritt, den Einsatz tödlicher Waffen; und seine Freiheit muß er nicht verteidigen, – sie ruht in ihm, sie verdankt sich keiner behördlichen Erlaubnis, sie ist das Wesen seiner Geistigkeit. Kein Argument zugunsten militärischer Kampfeinsätze ist so bizarr, wie die Behauptung westlicher Politiker, wir verdankten unsere Freiheit dem hohen Rüstungsstandard des Staates und der »mutigen« Kriegsbereitschaft der Soldaten in den Armeen der Nato. Leute, die man dahin gedrillt hat, daß sie in eidestreuem Gehorsam keinem noch so tödlichen Befehl zu widersprechen wagen, – ausgerechnet diese zutiefst zur Unfreiheit Dressierten und mit einem fertigen Feindbild Ausgestatteten sollen die Träger und Hüter von Freiheit sein!“
Eugen Drewermann setzt die zuletzt genannten Gedanken fort (8):
„Was einen Pazifisten im Sinne der Bergpredigt beschützt, ist die Liebe zu den Menschen und die Liebe zur Wahrheit. Passiver Widerstand, meinte Gandhi deshalb, ist »die Kraft der Wahrheit … Der Wahrheit muß … notwendigerweise gefolgt werden, gleichgültig was es kostet.« Das bedeutet, daß es »für den passiven Widerstand keinen Schritt vorwärts (gibt) ohne die Furchtlosigkeit. Nur diejenigen können den Weg des passiven Widerstands gehen, die frei von Furcht sind, frei von Besitz, frei von Ehren, frei von Verwandten, frei von Regierung … Sie werden einsehen, daß die zusätzlichen Anstrengungen, die ein Schwertkämpfer aufwenden muß, nur aus dem Fehlen der Furchtlosigkeit kommen. Ein Mensch, der frei von Haß ist, braucht kein Schwert.«
Auch hier beschreibt der Autor zum besseren Verständnis der Botschaften von Jesus die damaligen gesellschaftlichen Gegebenheiten(9):
„Wie diese Wahrheit der Wehrlosigkeit im Widerstand sich im Leben Jesu gestaltet, verdeutlichen zwei Episoden, deren Bedeutung weniger im Biographischen, als im Exemplarischen liegt. – In seinem Heimatort Nazareth hält Jesus in der Synagoge am Sabbat eine Auslegung von Jes 61,2, um sein eigenes Wirken als Erfüllung dieses Gottesauftrags zu begründen: »Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft (das Evangelium) zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn.« Bezeichnenderweise läßt Jesus bei diesem Zitat des Dritten Jesaja (der wirkte in der Zeit nach der Rückkehr aus dem Exil) die Worte weg, es werde ein »Tag der Vergeltung« kommen, an dem nach Jes 63,4 Gott in seinem Zorn die Völker »keltern« und in seinem Grimm zertreten wird, daß ihr Blut auf seine Kleider spritzt und sein ganzes Gewand besudelt. Doch gerade auf diesen Abschluß der Verheißung, die jeder der Hörer auswendig kennt, warten sie alle; so wird es sein, glauben sie, wenn der Messias kommt: er wird gewaltsam das Böse niederkämpfen und in seinem gerechten Zorn blutige Rache üben. Wenn Jesus sich als »Messias«, als Sohn Davids, ausgibt und dieses Finale göttlicher Machtdurchsetzung wegstreicht, verfälscht er in ihren Augen die heilige Hoffnung Israels auf die Ankunft des Erlösers; dann ist er selber ein Lügenprophet, der es wagt, ohne Zustimmung und Erfüllung der kriegerischen Endabrechnung Gottes mit den Völkern zu erklären: »Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.«
Man glaubt in Nazareth, den »Sohn Josephs« von Kind auf zu kennen, und man verlangt von ihm zu seiner Beglaubigung zumindest Wunderbeweise durch Werke, wie sie aus Kaphernaum berichtet werden; als er aber zu seiner Verteidigung dann auch noch Naaman den Syrer als einen Gläubigen anführt, der als einziger in den Tagen des Elischa von seinem Aussatz geheilt worden sei (2 Kön 5,1 –24), werden die Zuhörer in der Synagoge derart zornig, daß sie ihn zur Stadt hinaus an den Abhang eines Berges treiben, um ihn von dort hinab in den Tod zu stürzen. Zu erwarten stünde in diesem Moment bei einem furchtsamen Menschen ein Gerangel mit der Menge auf Leben und Tod mit dem sicheren Resultat, daß der Mob in dem Gefühl, der Gerechtigkeit Gottes zu dienen, diesen Verfälscher des Prophetenwortes überwindet und umbringt. Doch Jesus verkündet nicht nur die Gewaltfreiheit des Gottes, den er in die Welt tragen möchte, er lebt sie auch: er hat keine Angst, weder vor der Wut der Menge noch vor der Drohung des Todes; er ist gefestigt in der Wahrheit Gottes, für die er eintritt, so daß seine ruhige Geborgenheit im Vertrauen ihn unangreifbar macht: weil sie mit ihm »alles« machen können, machen sie nichts mehr; seine Angstfreiheit flößt ihnen Angst ein; und das jetzt ist das »Wunder«, das er in Nazareth wirkt: sie weichen erschrocken vor ihm zurück, und gelassen geht er »mitten durch sie hinweg.« (Lk 4,16-30)14 Wenn irgend es eines Beweises für die gewaltlose Grundhaltung Jesu bedürfte, – hier wäre er zu finden.
Dabei geht es natürlich nicht um eine rein persönliche Einstellung, sondern um den Ausdruck einer Gesinnung, die Jesus persönlich ebenso wie politisch für einen jeden vor Gott als verbindlich betrachtet. Spielt die Szene in Nazareth am Anfang seines öffentlichen Wirkens, so findet sich an dessen Ende eine andere noch dramatischere Begebenheit, die von dem absolut gewaltfreien Verhalten Jesu Zeugnis ablegt: Als Jesus von den Schergen der Hohenpriester und Ältesten in Gethsemane (dem Ölberg-Garten) gefangengenommen wird, ist absehbar, daß man das Todesurteil über ihn sprechen wird. In den Augen seiner Jünger (und eines jeden, der sich als »Christ« bezeichnet) gibt es auf Erden niemanden, der gegen Unrecht und Gewalt energischer verteidigt werden müßte als der Mann aus Nazareth; und tatsächlich zückt in dem Moment der Verhaftung einer von denen, die bei Jesus waren, das Schwert, schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm das Ohr ab. Joh 18,10 nennt Petrus als den Schwertführer und bezeichnet den Namen des verwundeten Knechtes mit Malchus; das ist insofern von Belang, als Petrus, der im Heliand nach Art eines germanischen Helden verherrlicht wird15, wenig später schon derjenige sein wird, der entsprechend der Vorhersage Jesu seinen Meister aus Angst vor einer Frau, die ihn als Galiläer und Anhänger des soeben Verhafteten im Vorhof des Hohen Priesters zu erkennen meint, dreimal verleugnet, – er kenne diesen Menschen überhaupt nicht (Mt 26,69 –74). Der Griff zum Schwert ist diktiert von Angst, nicht nur von der Angst um das Schicksal Jesu, sondern vor allem von der Angst um sich selbst. Petrus, wenn ihm die gewalttätige Verteidigung Jesu zu Recht zugeschrieben wird, ist gerade kein »Held«, – sein Dreinschlagen mit dem Schwert ist nichts als eine Reaktion in Angst, kaschiert freilich als eine verantwortungsethische Intervention, begangen aus responsibility to protect (R2P).
Doch das Entscheidende jetzt: auf diese Weise will Jesus gar nicht geschützt werden! Er ruht in sich selbst. Er weiß, wofür er steht. Was er gesagt und getan hat – Gott weiß es. Was seine Gegner in ihrem eigenen politischen Interesse daraus zu machen belieben, wird für ihn die Wahrheit nicht verfälschen. Er hat, indem er die eigene Angst vor dem strafenden, rächenden Gott der Gesetzeslehrer im Vertrauen auf Gott als seinen Vater überwand, die Angst vieler Menschen bis hinein in ihre körperlichen Erkrankungen zu heilen vermocht; auch diese Tatsache werden sie als Teufelswerk ihm zum Vorwurf machen (Mk 3,22); – es ändert nichts an der Wahrheit Gottes und der Botschaft Jesu. Mit gewaltsamem Dreinschlagen wird hier nichts gerettet, nur alles verdorben. »Steck dein Schwert an seinen Ort,« gebietet Jesus deshalb seinem Jünger; »alle nämlich, die ein Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen.« (Mt 26,52)“
Der Autor stellt bezogen auf unsere Zeit mit klaren Worten fest (10):
„Der moralische (Selbst-)Betrug der staatlichen Meinungssteuerung ist in aller Regel so erfolgreich, daß er die Bevölkerung so gut wie niemals fürchten muß; zu fürchten hat er einzig einzelne Whistleblower und wahrheitsliebende »Enthüllungsjournalisten«. Beiden drohen in den USA regelmäßig hohe Gefängnisstrafen wegen »Geheimnisverrat«, – ein »Geheimnis« umrankt so ziemlich alles, was mit Militär zu tun hat: es gilt als sicherheitsrelevant, so daß, wer etwas davon veröffentlicht, die Sicherheit der Öffentlichkeit, insbesondere die der Soldaten, gefährdet. Was das amerikanische Militär in Vietnam, im Irak, in Afghanistan, in Syrien an Verbrechen begangen hat, muß daher unter Verschluß bleiben, so daß es zu einem Verbrechen wird, wenigstens einige der Staats-Untaten bekannt zu machen, wie der Fall des Australiers Julian Assange zeigt; und wenn die US-Regierung angeblich zur nationalen Sicherheit sich großmächtig über die Datenschutzgesetze in aller Welt hinwegsetzt und ein globales Überwachungssystem einrichtet, muß ein Mann wie Edward Snowden froh sein, wenn er in Rußland Unterschlupf findet31. Doch um so mehr bleibt zu fragen: Wie verlogen muß ein politisches System sein, wenn man die Lüge, die Heimlichkeit, die Nicht-Publizität des Regierungshandelns schützen muß, indem man ihre Aufdeckung per Gesetz als ein Verbrechen unter Strafe stellt?
Es scheint gleichwohl schier unmöglich, mit ethisch noch so richtigen Überlegungen und Appellen das bestehende Geflecht von Macht, Gewalt und Lüge, in das ein jeder Krieg verwoben ist, auch nur als verhängnisvoll bewußt zu machen, geschweige denn es selbst mit diesem Wissen aufzuknoten. Der Grund dafür ergibt sich aus der allseits aufzufindenden Neigung, aus lauter Angst in Sicherheitsmaßnahmen zu flüchten, welche die Gefährdung, vor der die Angst warnen sollte, objektiv Stufe für Stufe zu vergrößern, statt sie abzubauen. Die Wahrheit ist recht einfach: Um Frieden zu ermöglichen, bedarf es einer Verringerung der Angst angesichts der Ungesichertheit des menschlichen Daseins; doch gerade dazu ist weder die Politik noch die Ethik imstande: die eine antwortet auf Angst mit Angstverbreitung und verschlimmert das Problem dadurch noch in Gestalt immer schrecklicherer Kriege, die andere erzeigt sich außerstande, die Folgen einer fehlgeleiteten Angstverarbeitung mit den Mitteln moralischer Selbstkontrolle abzutragen.“
Dringend gesucht ist deshalb eine Einstellung, welche die Kriegsproblematik durch Vermittlung eines angstbesänftigenden Vertrauens zu überwinden vermag; eine solche indessen ist möglich allein auf der Basis einer Religiosität, wie sie die Bergpredigt empfiehlt und als Erlösung anbietet.“
Gerade wegen der zunehmenden weltweiten katastrophalen kriegerischen Auseinandersetzungen in der letzten Zeit und der rasanten Militarisierung des Denkens und Handelns in Deutschland ist es dringend erforderlich, dass das neue Buch von Eugen Drewermann einem möglichst breiten Publikum vorgestellt wird.
Zum Schluss möchte ich noch auf drei wichtige Beiträge hinweisen, die im Zusammenhang mit dem hier empfohlenen Buch von besonderer Bedeutung sind:
1) Sind wir geborene Krieger? Zu psychosozialen Voraussetzungen von Friedfertigkeit und Destruktivität. Vortrag, gehalten am 30.6.2023 innerhalb der Vorlesungsreihe „Psychologische Anthropologie: Militarismus und Krieg“ an der Universität zu Köln (bearbeitetes Manuskript)
Von Andreas Peglau
https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/sind-wir-geborene-krieger-zu-psychosozialen-voraussetzungen-von-friedfertigkeit-und-destruktivitaet/
2) Angstgesellschaft
Von Hans-Joachim Maaz
Erste Auflage Mai 2022, Verlag Frank & Timme, Berlin
ISBN: 978-3-7329-0852-3
3) Der Mensch ist kein Objekt.
Interview mit dem Neurobiologen und Hirnforscher Gerald Hüther
https://www.100aerzte.com/kongress/gerald-huether/
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Anmerkungen
1) Kindheit 6.7. Eine Geschichte der familialen Sozialisation, KINDHEIT, Erziehung und Beschulung des Menschen
Von Michael Hüter, Co-Autorin Gabriele Penzenauer
9. bis 10. Auflage September 2022, Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 978-3-200-05507-0
2) Zwei Betrachtungsweisen und die Verantwortung jedes einzelnen Menschen
31.10.2023; https://afsaneyebahar.com/2023/10/31/20697032/
3) Aus Eugen Drewermann, Nur durch Frieden bewahren wir uns selber. Die Bergpredigt als Zeitenwende © Patmos Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2023 www.verlagsgruppe-patmos.de; Seite 131
4) Quelle wie unter 3 angegeben; Seite 237
5) Welt ohne Frieden. Zwischen Staaten wie auch innergesellschaftlich werden sich immer wieder Fronten auftun, solange wir glauben, an Kreuzzügen gegen das Böse mitwirken zu müssen.
Von Gabriele Gysi; 27.10.2023; https://www.manova.news/artikel/welt-ohne-frieden
6) Quelle wie unter 3 angegeben; Seite 88 bis 90
7) Quelle wie unter 3 angegeben; Seite 153 und 154
8) Quelle wie unter 3 angegeben; Seite 157
9) Quelle wie unter 3 angegeben; Seite 158 bis 161
10) Quelle wie unter 3 angegeben; Seite 253 und 254
© Patmos Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG; Ostfildern
Erste Auflage 2023
ISBN: 978-3-8436-1428-3
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