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Russische Militärexperten über den aktuellen Stand des Krieges

Auf den westlichen alternativen Nachrichtenportalen werden die militärischen Erfolge Russlands häufig bejubelt.
Von Gilbert Doctorow 25.07.2023 - übernommen von gilbertdoctorow.com
25. Juli 2023
Auch die russischen Kriegskorrespondenten des russischen Staatsfernsehens, die an vorderster Front stehen, jubeln in großem Umfang. Doch wie ich bereits in früheren Beiträgen angedeutet habe, kommen in den seriöseren russischen Nachrichtensendungen wie "Sechzig Minuten" und "Abend mit Wladimir Solowjow" auch Militärexperten aus den Reihen der Duma-Ausschussvorsitzenden und anderer Personen zu Wort, die tatsächlich Verantwortung und Rechenschaft für die Kriegsanstrengungen tragen und nicht einfach nur "talking heads" sind. Diese Redner äußern sich sehr viel zurückhaltender über den Verlauf des Krieges, und ich nutze diese Gelegenheit, um den Lesern mitzuteilen, was ich aus solchen Quellen höre. Ich werde mich insbesondere auf das stützen, was vor zwei Tagen in der Solowjow-Sendung gesagt wurde.

Die nüchternste Bemerkung war, dass es ein Fehler ist, sich über Berichte zu freuen, dass den Ukrainern die Reserven ausgegangen sind und dass ihre Soldaten an der Front nur noch alte Männer und junge Leute sind, die demoralisiert sind und sich den Russen ergeben, wenn sie können. Wenn wir das sagen, schmälert das unseren Respekt vor dem Heldentum der russischen Soldaten, die in den ukrainischen Streitkräften tatsächlich ihresgleichen haben. Dies ist ein harter Krieg.

Außerdem sind die ukrainischen Reserven noch nicht erschöpft. Von den rund 60.000 Elitetruppen, die in NATO-Ländern ausgebildet wurden, sind in der Schlacht um Bakhmut und dem anschließenden ukrainischen Gegenangriff nach dem 4. Juni nur 30 bis 40 % gefallen oder verwundet worden. Die Russen werden ihre eigene massive Offensive zur Ausschaltung des ukrainischen Militärs erst dann beginnen, wenn sie sicher sind, dass die meisten ukrainischen Reserven in dem laufenden Zermürbungskrieg aufgebraucht sind.

Dementsprechend handelt es sich in diesen Tagen um örtlich begrenzte Angriffe, die taktische, nicht strategische Bedeutung haben. Ja, die Ukrainer rücken hier und da ein paar Meter vor, aber das kostet viele Soldaten das Leben. Ja, die Russen rücken hier und da drei oder vier Kilometer vor, zu wesentlich geringeren Kosten. Die Russen warten ihre Zeit ab. Es handelt sich nicht um eine Pattsituation, wie die westlichen Medien ihrem Publikum immer wieder weismachen wollen.

Wenden wir uns nun einem anderen Aspekt des Konflikts zu, der in der vergangenen Woche für Schlagzeilen sorgte, als die Bodenscharmützel zwischen den verfeindeten Kräften auf die hinteren Seiten unserer Zeitungen wanderten. Ich denke dabei an die spektakulären russischen Raketenangriffe auf die ukrainische Hafeninfrastruktur in Odessa, in Nikolajew und gestern in einem Flusshafen an der Donaumündung gleich hinter der rumänischen Grenze. Diese Angriffe werden von offiziellen russischen Militärquellen als "Racheangriffe" für die Schäden beschrieben, die ukrainische Bodendrohnen, die unter Brückenpfeilern explodierten, auf einer der Fahrbahnen der Krimbrücke angerichtet haben.

Das ist natürlich nur PR-Geschwätz, um die russische Öffentlichkeit zu befriedigen und die lokale Empörung über das Versagen bei der Verteidigung einer letztlich verwundbaren Infrastruktur zu übertönen. Nein, der Grund für die russische Zerstörung der ukrainischen Hafenanlagen Tag für Tag liegt woanders. Die Raketenangriffe dienten nicht so sehr dazu, den Ukrainern Schmerzen zuzufügen, sondern vielmehr dazu, eine mögliche Seeschlacht im Schwarzen Meer und einen Quantensprung im Risiko eines totalen Krieges abzuwenden. Und sie haben en passant gezeigt, dass die neuesten russischen Marschflugkörper mit einer Reichweite von 3.000 km, die mit Mach 3 nur 15 Meter über dem Meer fliegen, von der derzeitigen ukrainischen Luftabwehr nicht abgefangen werden können.

Wir erinnern uns: Als Wladimir Putin ankündigte, dass das Getreideabkommen mit der Türkei und den Vereinten Nationen am 18. Juli auslaufen würde, verkündete das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation, dass alle Schiffe, die ukrainische Häfen anlaufen, um angeblich Exportgetreide zu empfangen, fortan als Waffentransporter für die Ukraine betrachtet würden und von den russischen Streitkräften vernichtet werden könnten.

Unmittelbar danach ging der ukrainische Präsident Zelensky mit seinem Vorschlag an die Türkei auf Sendung, die Getreideexporte auf dem Seeweg ohne russische Beteiligung fortzusetzen. Die Sicherheit der Schiffe würde durch türkische und andere NATO-Marinekonvois gewährleistet werden. Vor dem Hintergrund von Erdogans jüngster Hinwendung zu den USA und weg von Russland schien es, als sei Ankara bereit, mit Zelensky eine Vereinbarung zu treffen. In diesem Fall wären die Chancen auf Seeschlachten zwischen russischen und NATO-Schiffen im Schwarzen Meer gestiegen.

So beschlossen die Russen, die im Getreidehandel tätigen ukrainischen Hafenanlagen zu zerstören und so den drohenden Gefahren vorzubeugen. Erdogan sah sich gezwungen, von einer Vereinbarung mit Zelensky über die Wiederaufnahme der Getreidekorridormission Abstand zu nehmen.

Sicherlich ist der Getreideexport per Schiff die billigste Lösung, um ukrainisches Getreide auf die Weltmärkte zu bringen. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, nämlich den Transport per Bahn und Lkw über Bulgarien, Rumänien oder Polen nach Norden und Westen. Auf diese Weise wurde im letzten Herbst viel Getreide transportiert, das jedoch in den nominellen Transitländern verschwand, wo es bei den Landwirten dieser Länder für Empörung sorgte, weil ihre eigene Getreideernte zu niedrig bewertet wurde. In den kommenden Monaten ist mit weiteren politischen Unruhen in Osteuropa und Protesten gegen die Ukraine zu rechnen, was auch dem russischen Ziel dienen wird, Europa für seine Unterstützung Kiews bezahlen zu lassen.

Die Vertreter des US-Außenministeriums haben sich über die humanitäre Katastrophe aufgeregt, die die Russen erst durch den Rückzug aus dem Getreidehandel und dann durch die Zerstörung der ukrainischen Exportinfrastruktur im Schwarzen Meer verursacht haben. Besonderes Augenmerk wurde auf die afrikanischen Länder gerichtet, die angeblich einen großen Teil der armen Zielländer für ukrainisches Getreide darstellen.

Es ist interessant festzustellen, dass die afrikanischen Staats- und Regierungschefs trotz der bösartigen amerikanischen Propaganda gegen den russischen Ausstieg aus dem Getreideabkommen nicht auf den Köder hereingefallen sind. Heute versammeln sich alle 47 afrikanischen Staats- und Regierungschefs in Russland zu strategischen Gesprächen und Verhandlungen auf höchster Ebene mit ihren russischen Amtskollegen. Die Russen bieten den ärmsten Ländern kostenloses Getreide an und den anderen Ländern Verträge über Getreidelieferungen zu normalen Handelsbedingungen. Die Versorgungssicherheit wird dadurch gewährleistet, dass die Russen in dieser Saison die größte Getreideernte aller Zeiten einfahren werden.

Obwohl ich die Politik des US-Außenministeriums unter Antony Blinken als eine Kraft des Bösen in der gegenwärtigen Weltlage anprangere, will ich nicht sagen, dass jeder einzelne Akteur dort ein Schurke ist. Es amüsiert mich, im russischen Fernsehen Bilder der Reden zu sehen, die Rosemary Di Carlo, eine ehemalige US-Karrierediplomatin, die seit 2018 bei den Vereinten Nationen als Untergeneralsekretärin für politische und friedensfördernde Angelegenheiten tätig ist, vor den Vereinten Nationen zum Getreidekorridor hält.

Es war vor langer Zeit, 1998, als ich mich mit Rosemary unterhielt, als sie in der US-Botschaft in Moskau für kulturelle Angelegenheiten zuständig war. Wir saßen zusammen am Kopfende eines Treffens amerikanischer Studenten und Professoren im Rahmen des akademischen Austauschs mit Russland, der von einer aus dem Kalten Krieg übrig gebliebenen Nichtregierungsorganisation, IREX, geleitet wurde, für die ich damals kurzzeitig Landesleiter war. Rosemary sprach über die Theatersaison in Moskau, und wir erörterten Möglichkeiten, wie man russische Museen und andere Kultureinrichtungen dabei unterstützen könnte, sich an die postsowjetischen Gegebenheiten anzupassen, die von geringen staatlichen Mitteln und der Suche nach privaten Sponsoren geprägt waren. Sie hat einen Doktortitel in slawischer Literatur. Sie war eine der relativ wenigen Berufsdiplomaten, die tatsächlich Russisch verstanden und sprachen. Sie hatte das Herz am rechten Fleck, und ich bezweifle sehr, dass sie heute daran arbeitet, den Russen einen schlechten Dienst zu erweisen.

Die Moral von der Geschichte: Sehr oft sind die Dinge nicht so, was sie zu sein scheinen.

Quelle: https://gilbertdoctorow.com/
Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Doctorow
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

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