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Indiens Kehrtwende in der Palästina-Frage bedeutet mehr als man denkt

Die indische Diplomatie vollzieht Ende 2023 eine folgenschwere Wende. Was als Kurskorrektur begann, die durch die Flut von Ereignissen in Westasien notwendig wurde, nimmt nun strategische Züge an.
Von M. K. Bhadrakumar 26. Dezember 2023 - übernommen von indianpunchline.com
27. Dezember 2023

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Ein palästinensischer Mann trägt die Leiche seiner Tochter in der Nähe des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza, nachdem sie bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde

Die Fehlentwicklungen in der indischen Politik lassen sich in der Tat bis zur UPA-Regierung (2004-2014) zurückverfolgen, aber in der Zeit seit 2014 haben sie sich erheblich verschärft und zu Widersprüchen geführt, die die nationalen Interessen untergraben. Diese Fehlentwicklung führte auch zu einer ernsthaften Erosion der strategischen Autonomie Indiens in einem sich wandelnden internationalen Umfeld.

Indiens Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt ist in letzter Zeit durch eine kalibrierte Distanzierung von Israel gekennzeichnet. Noch vor wenigen Wochen bezeichnete der israelische Botschafter in Delhi die indische Haltung als "hundertprozentige Unterstützung" für sein Land. Doch das ist heute nicht mehr der Fall.

Delhi hat die wiederholten israelischen Bitten zurückgewiesen, die Hamas zu einer terroristischen Organisation zu erklären, und damit seine unabhängige Meinung über das Ökosystem der Widerstandsbewegungen zum Ausdruck gebracht. Dies ist in der Tat eine sehr wichtige Unterscheidung, die Delhi gegenüber der israelischen und westlichen Darstellung der Hamas vornimmt. Obwohl Indien nicht gezögert hat, die gegen Israel gerichtete Gewalt am 7. Oktober zu verurteilen, hat es sich geweigert, die Hamas zu benennen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Hamas in der Vergangenheit von Israel unterstützt wurde, hat Tel Aviv kein Recht, von Delhi zu erwarten, dass es nach seiner Pfeife tanzt. Auch die Zukunft der Hamas ist alles andere als eine ausgemachte Sache. Die Tatsache, dass Sinn Fein und die irische Öffentlichkeit Mitgefühl mit der Hamas gezeigt haben, oder dass Südafrika, das selbst ein Opfer der Apartheid war, seinen Botschafter und seine diplomatische Mission in Israel zurückgerufen und die schrecklichen Morde im Gazastreifen als "Völkermord" bezeichnet hat, zeigt, dass die Glut des nationalen Befreiungskampfes noch immer brennt.

Obwohl Indien seine "Solidarität" mit dem israelischen Volk angesichts der brutalen Gewalt am 7. Oktober zum Ausdruck gebracht hat, kann es die seitherigen, völlig unverhältnismäßigen israelischen Vergeltungsmaßnahmen nicht dulden, die es leichtfertig als "Recht Israels auf Selbstverteidigung" bezeichnet. Am 13. Dezember stimmte Indien in der UN-Generalversammlung für eine Resolution, in der ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand im Konflikt zwischen Israel und Hamas gefordert wurde.

Dies war das erste Mal, dass Indien eine solche Resolution seit Ausbruch des Krieges vor mehr als zwei Monaten unterstützt hat. Mit dieser Haltung steht Indien auf der richtigen Seite der Geschichte, denn die Resolution wurde von der 193 Mitglieder zählenden UN-Generalversammlung in einer Sondersitzung mit überwältigender Mehrheit angenommen, wobei 153 Länder für die Resolution stimmten.

Ein dritter Aspekt ist, dass sich Delhi aus geopolitischer Sicht von der amerikanisch-israelischen Kampagne distanziert, die den Iran als Anstifter extremistischer Gruppen, die gegen Israel agieren, brandmarkt. Interessanterweise war Indien am 19. Dezember einer von nur dreißig Staaten   – neben Russland und China   –, die gegen eine UN-Resolution zur "Menschenrechtssituation im Iran" stimmten.

Der rote Faden ist hier, dass Indien zu seiner traditionellen Haltung in der Palästina-Frage zurückgekehrt ist und die Neigung zur Unterstützung israelischer Interessen abgelegt hat. Die beispiellose Einigkeit unter den arabischen Ländern, die enge Abstimmung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die gewaltige Meinungswelle in der arabischen Welt gegen die israelischen Gräueltaten an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen und im Westjordanland   – all dies hat eine neue Dynamik in der Nahostpolitik geschaffen, die das Palästina-Problem in den Mittelpunkt gerückt hat, und das kann Indien nicht ignorieren.

Delhi kann sich auch nicht der neuen Realität verschließen, dass sich die Dynamik des Palästina-Problems nach den Ereignissen vom 7. Oktober grundlegend verändert hat. Die israelischen Tricks des Verschweigens und Ausweichens und der absichtlichen Zerstörung des Dialogprozesses und der Verhandlungen funktionieren möglicherweise nicht mehr. Die überwältigende militärische Überlegenheit Israels gegenüber seinen arabischen Nachbarn hat in der Tat an Bedeutung verloren. In Verbindung mit dem Einflussverlust der USA und der schwindenden globalen Hegemonie Amerikas sowie der starken Polarisierung der Meinungen innerhalb Israels selbst ergeben sich ernsthafte Unsicherheiten hinsichtlich der Zukunft des Staates Israel in seiner heutigen Form.

Es genügt zu sagen, dass Indien das Bedürfnis hat, sich an die neuen Bedingungen in Westasien anzupassen, wo die Länder der Region es vorziehen, ihre Probleme selbst zu regeln, was wiederum die Gründe für die Gründung Israels als Plattform für westliche strategische Interessen untergräbt. Der Ausweg aus dieser Sackgasse besteht darin, dass Israel sich neu erfindet. Aber die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Land werden dies nicht zulassen.

Eine unmittelbare Folge all dessen wird sein, dass sich Indien wahrscheinlich nicht an der von den USA angeführten Allianz im Roten Meer beteiligen wird, die sich auf einen Krieg gegen den Terror der Houthis im Jemen vorbereitet. Dies gilt trotz der Bemühungen der USA, die Quad-Länder in die Operationen im Roten Meer einzubeziehen. Übrigens haben sich sowohl Japan als auch Australien von einer Beteiligung an der US-geführten Koalition der Willigen distanziert. Auch hier wird sich Delhi von der Überlegung leiten lassen, dass der unglückliche Schachzug der USA, militärisch gegen die Houthis vorzugehen, bei den Staaten der Region keinen Anklang findet.

Das US-Marineunternehmen im Roten Meer kämpft um seine Existenz. Der bekannte ehemalige CIA-Analyst Larry Johnson hat geschrieben: "Auf dem Papier sieht es so aus, als ob der Jemen zahlenmäßig und waffentechnisch unterlegen ist. Ein sicherer Verlierer? Nicht so schnell. Die US-Marine, die den größten Teil der Flotte stellt, die gegen den Jemen segelt, hat einige echte Schwachstellen, die ihre Aktionen einschränken werden."

Johnson zitiert die Expertenmeinung von Cdr. Anthony Cowden, einem Reserveoffizier der US-Marine, wonach die US-Marine angesichts ihrer derzeitigen Konfiguration als "vorwärtsgerichtete Marine"   – im Gegensatz zu einer "Expeditionsmarine"   – "nicht mehr über ausreichende Fähigkeiten verfügt, um Expeditionsoperationen durchzuführen."

Schließlich lag der Stabschef des Korps der Islamischen Revolutionsgarden Irans, Mohammad Reza Naqdi, nicht weit daneben, als er letzte Woche warnte, die USA und ihre Verbündeten säßen im Roten Meer "in der Falle" und sollten sich auf die Sperrung von Wasserwegen bis hin zum westlichen Zugang des Mittelmeers vorbereiten.

Die indischen Verteidigungs- und Sicherheitsinstitutionen sind unverdrossene Befürworter der strategischen Bindungen Indiens zu Israel. Diese übertriebene Lobpreisung des israelischen Modells als nachahmenswert für Indien beruhte auf reiner Naivität und übersah, dass die beiden Länder unter völlig unterschiedlichen Bedingungen und mit einem völlig anderen nationalen Ethos arbeiten. Es ist offenkundig absurd, dass Indien die israelischen Methoden der brutalen Unterdrückung oder Ermordung als Teil der Staatskunst, der Apartheidpolitik usw. nachahmen kann und damit durchkommt.

Die Vorfälle vom 7. Oktober haben den Indern die Augen geöffnet und nicht nur Israels Schwächen als moderner Staat, sondern auch das Getöse des Militärs und das Versagen der Geheimdienste aufgezeigt. Die Gefolgsleute Israels in der indischen strategischen Gemeinschaft sind völlig desillusioniert. Einfach ausgedrückt: Eine einflussreiche Wählerschaft in Indien und die von ihr hervorgebrachten Interessengruppen haben in Delhi nicht mehr das Sagen. Das wird Folgen haben.

Gleichzeitig bricht die gesamte ideologische Grundlage der Neigung der derzeitigen Regierung zur israelischen Führung unter Benjamin Netanjahu weg. In einem brillanten Essay hat der bekannte französische Wissenschaftler und Autor über rechtsgerichtete Politik in Indien, Christophe Jaffrelot, geschrieben, dass die in den letzten Jahren entstandene indisch-israelische Allianz nicht nur auf der Feindseligkeit der beiden herrschenden Eliten gegenüber dem Islam beruht, sondern auch auf Affinitäten zwischen Hindutva und Zionismus, die durch "ethno-nationalistische Ideologien, die Faktoren wie Rasse, Territorium und Nativismus in den Vordergrund stellen" gekennzeichnet sind.

In Zukunft wird es für die indische Elite schwer sein, solche Affinitäten aufrechtzuerhalten, geschweige denn offen zur Schau zu stellen, wenn Israel sich in einen Apartheidstaat verwandelt und von den Kräften der Geschichte zerschlagen wird.

Quelle: https://www.indianpunchline.com/indias-turnaround-on-palestine-has-more-than-meets-the-eye/
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

 

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