«Die Welt kann nicht mehr so eurozentrisch sein wie in der Vergangenheit»
Indien ist ein riesiges Land (rund 3 287 200 km2 und rund 1,42 Milliarden Einwohner) mit einer reichen Vielfalt (28 Bundesstaaten, 2 Unionssprachen (Hindi und englisch), weitere 21 Amtssprachen und mehr als 100 verschiedene Sprachen aus vier verschiedenen Sprachfamilien).
ev. «Ihr kapiert es einfach nicht», formulierte der Politikwissenschaftler, Diplomat und Professor an der National University of Singapore, Kishore Mahbubani, vor ein paar Jahren in der «Zeit»: Der Westen begreife nicht, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert grundlegend verändere – und schon verändert hat. Noch immer halten Washington und seine transatlantischen Anhänger an der Vorstellung fest, ihre Hegemonie zu erhalten. Kluge Politik wäre demgegenüber, so Mahbubani – durchaus als Freund des Westens – in weiteren Schriften, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, sich darauf einzustellen und den Übergang zu einer multipolaren Welt so zu gestalten, dass er für die eigenen Bevölkerungen nicht traumatisch wird, sondern möglichst zum Vorteil gereicht.
Derzeit scheint der Westen davon noch weit entfernt. Wir nehmen die Entwicklungen nicht wirklich zur Kenntnis. Die Arroganz hegemonialer Ansprüche scheint den Blick auf die Realität, die Vorgänge und Entwicklungen in anderen Weltregionen zu verstellen. Zum Beispiel in Indien. Der nachfolgende Auszug aus einem Gespräch mit dem indischen Aussenminister, Subrahmanyam Jaishankar, vermittelt einen kleinen Eindruck davon, was im Gange ist. Hier begegnet einem ein neues, selbstbewusstes Indien, das sich von niemandem vorschreiben lassen will, wie es sich in der Welt positioniert. Ein Indien, welches das westliche Konstrukt von «the West and the Rest», des «Gartens» versus den «Dschungel» (Josep Borrell), «Demokratie» versus «Autokratie» als hegemonialen Anspruch des Westens, sich auf seine, auf die «richtige Seite» stellen zu müssen, ablehnt und seinen eigenen Weg gehen will und geht.
Im Rahmen einer mehrtägigen Reise in mittel- und osteuropäische Staaten stellte sich der indische Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar am 3. Juni 2022 auf dem GLOBSEC 2022 in Bratislava (siehe Kasten) Fragen von Moderatorin und Publikum. Nachfolgend die leicht gekürzten und für die Lesbarkeit bearbeiteten Aussagen.
Auf die einleitende Frage der Moderatorin, ein Bild der derzeitigen Situation Indiens zu skizzieren – sie spricht den Ukraine-Krieg an, der nun nicht mehr nur Europa und den Westen beschäftige, sondern auch «in den Rest der Welt einsickere», zudem nennt sie die Stichworte Covid, Indiens Verhältnis zu China, die wirtschaftliche Situation in schwierigen Zeiten – äussert sich der indische Aussenminister wie folgt, zuerst zu Covid:
Enorme Entwicklungsschritte
«Ja, wir haben Covid weitgehend überwunden, mit einem starken Gefühl des wirtschaftlichen Aufschwungs. Es herrscht eine Menge Optimismus, nicht nur in bezug auf den Wiederaufbau, sondern über den faktischen Sprung nach vorne [er verwendet den Begriff leapfrogging, ein Begriff für einen wirtschaftlichen Sprung über mehrere Entwicklungsschritte hinweg] in vielen Bereichen, insbesondere im digitalen Bereich.
Ich denke, wir sind sehr umsichtig damit [Covid] umgegangen, ich bin fast versucht zu sagen, klug im Hinblick auf die finanziellen Reaktionen, was bedeutet, dass wir die [Zentral-] Bank [die RBI Reserve Bank of India] nicht zerstört haben, indem wir dort interveniert haben, wo wir mussten, und zwar sehr effektiv.
Derzeit hat die Modi-Regierung gerade acht Jahre Amtszeit hinter sich, und was wir in diesen acht Jahren getan haben, ist wirklich der Aufbau einer, ich würde sagen, sozialen Wohlfahrtsgesellschaft mit einer Geschwindigkeit und in einem Ausmass, das die Welt noch nicht gesehen hat.
In gewisser Weise hat Covid das sogar beschleunigt. Zum Beispiel geben wir 800 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe, und das tun wir seit mehr als zwei Jahren – das ist so viel wie für die Bevölkerung der USA und der EU zusammen.
Wir haben ein öffentlich gefördertes Wohneigentumsprogramm, das etwa 115 Millionen Begünstigte umfasst, das ist fast so, als würde man Häuser für Japan bauen.
Oder auch, wenn man sich das Programm anschaut, mit dem das Kochen mit Brennholz ersetzt wird durch Kochen mit Gas, das 80 Millionen Menschen betrifft, das ist so, als würde man Deutschlands Küchen in einem Zeitraum von ein paar Jahren verändern.
Also da ist vieles im Gange, und warum ich das erwähnt habe, ist, weil viele der globalen Entwicklungen heute das Potential haben, das [diese Entwicklung] tatsächlich unter Druck zu setzen.
Auf der Welt geschehen Dinge, denen Europa zu wenig Aufmerksamkeit schenkt
Weiterlesen: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-7-4-april-2023/die-welt-kann-nicht-mehr-so-eurozentrisch-sein-wie-in-der-vergangenheit
Weitere Beiträge in dieser Zeit-Fragen-Ausgabe:
von Chris Devonshire-Ellis
Editorial von «La Jornada» vom 21. März 2023
Interview von ÖkologiePolitik mit Prof. Dr. Christian Kreiß
Wichtige Stimmen aus der Schweiz zur Versenkung der CS | von Marianne und Werner Wüthrich – UBS im Visier der US-Regierung
von Karl-Jürgen Müller
von Eliane Perret
von Živadin Jovanović, Belgrader Forum für eine Welt der Gleichen
Erinnerung an einen Besuch der weissrussischen Gedenkstätte Chatyn am 13. Oktober 1988
| von Leo Ensel
Neutralität | Matthias Elmiger u. Gertrud Pfändler, Ebnat-Kappel
Mit freundlicher Genehmigung von zeit-fragen.ch
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