Alastair Crooke: Netanjahu von "gerissenem" Biden überlistet? Nein, Biden ist derjenige, mit dem gespielt wird
Biden mag glauben, dass er aufgrund seiner "langen Erfahrung" bei der Beurteilung von Ereignissen auf der "richtigen Seite" steht, aber seine Erfahrung stammt aus einer anderen Zeit.
Biden schmunzelte und antwortete: "Ich weiß", als ihm ein Gast sagte, dass Netanjahu die USA in einen zivilisatorischen Konflikt hineinzieht – und dass Netanjahu ihm (Biden) die Schuld gibt und sich darüber beschwert, dass das Weiße Haus Israel daran hindern will, das Problem an der Wurzel zu packen, indem es auf Gaza und dem "Tag danach" herumreitet.
In der Praxis ist das, was Netanjahu tut, einfach ein klassisches Flankenmanöver – der Versuch, Biden zu umgehen, indem er auf den "umfassenderen Konflikt" mit dem Iran verweist: "Warum belästigen Sie mich mit Gaza, wenn es einen monumentalen Konflikt gibt", meint Bibi verärgert.
"Dies ist nicht nur 'unser Krieg', sondern in vielerlei Hinsicht auch euer Krieg... Dies ist ein Kampf gegen die iranische Achse... die nun droht, die Meerenge von Bab Al-Mandeb zu schließen... Es ist das Interesse... der gesamten zivilisierten Gemeinschaft", sagte Netanjahu – nicht sehr subtil.
Biden reagiert mit einem süffisanten Lächeln, das andeutet, dass er glaubt, Netanjahu ("den Fuchs") übertrumpfen zu können. Das ist Bidens Ansatz: Er will Netanjahus Behauptung, die USA würden ihn behindern, durch eine Parade hochrangiger Besuche entkräften, die seine uneingeschränkte Unterstützung Israels bekräftigen – und Bibi zuvorkommen, indem er darauf besteht, dass er (Biden) sich um die Nicht-Gaza-Themen (Hisbollah, Jemen usw.) kümmern wird.
Also, die U.S. stellen eine Seestreitmacht zusammen, um AnsarAllah im Jemen entgegenzutreten; die Biden-Administration wird gewalttätige Siedler im Westjordanland sanktionieren; sie warnt Bagdad, die Hashad al Sha'abi zu zügeln; und seine Gesandten in Beirut versuchen, ein "diplomatisches Abkommen" zu schmieden, das den Rückzug der Radwan-Truppen der Hisbollah auf die andere Seite des Litani-Flusses im Südlibanon beinhaltet und auch die ungelösten Grenzstreitigkeiten zwischen Israel und dem Libanon behandelt.
Biden rühmt sich, ein äußerst erfahrener außenpolitischer Akteur zu sein – und hält sich für zu gewieft für Bibis Tricks. Aber vielleicht versteht Netanjahu – trotz seiner vielen Fehler – die Region besser?
Biden wird eindeutig ausgetrickst. Auch wenn er es nicht erkennt.
Netanjahu weiß, dass die Hisbollah sich "auf keinen Fall" entwaffnen und sich nördlich des Litani zurückziehen wird. Er weiß das und kann daher Bidens diplomatisches Versagen abwarten, bevor er sagt, dass die etwa 70.000 israelischen Bürger, die nach dem 7. Oktober aus den nördlichen Städten vertrieben wurden, "nach Hause gehen" müssen, und dass, wenn die USA die Hisbollah nicht vom Grenzzaun entfernen können, Israel es tun wird.
Netanjahu nutzt Bidens diplomatische Libanon-Initiative, um eine europäische Rechtfertigung für eine israelische Operation in einigen Wochen zu schaffen, um die Hisbollah von der Grenze zu Israel zu vertreiben. (Eine israelische Operation gegen die Hisbollah ist seit Beginn des Gaza-Krieges in Planung).
Netanjahu weiß auch, dass die Kontrolle über die gewalttätigen Siedler im Westjordanland nicht bei ihm liegt, sondern in den Händen seiner Partner, d.h. der Minister Ben Gvir und Smotrich. Weder er noch Biden können denen etwas vorschreiben – sie haben den Druck auf die Palästinenser im Westjordanland seit Monaten stillschweigend erhöht.
Und schließlich kennt Netanjahu die Houthis: Sie werden sich von Bidens Seeflottille nicht abschrecken lassen. Vielmehr werden sie es genießen, den Westen in einen Sumpf im Roten Meer zu ziehen.
Ob man es nun mag oder nicht, Bidens Taktik, die regionale Eskalation einzudämmen und ihr zuvorzukommen, indem die USA selbst zum Hauptakteur werden – anstelle von Israel –, zieht die USA eindeutig tiefer in den Konflikt hinein. Glaubt Biden, dass die Houthis einfach stillschweigend "umkippen" werden, weil die Gerald Ford vor Bab Al-Mandeb vor Anker liegt, oder dass die Hisbollah die Anweisungen von Amos Hochstein akzeptieren wird?
Die zweite Art und Weise, wie Biden überspielt wird, besteht darin, dass er das israelische Problem als "nur Bibi" ansieht und sich in persönlicher Politik ergeht. Natürlich stimmt es, dass der israelische Premierminister die israelische Politik nach seinen eigenen Überlebensbedürfnissen formt. Doch halten Sie einen Moment inne und bedenken Sie, was Präsident Herzog am Dienstag in einem Interview gesagt hat, das vom Atlantic Council, einer führenden Washingtoner Denkfabrik, vermittelt wurde.
Herzog wurde vom außenpolitischen Establishment am Beltway – vor dem Krieg – im Vergleich zu Netanjahu lange Zeit als ausgesprochen "dovish" und "links" angesehen.
In dem Interview sagte Herzog: "Wir haben vor, den gesamten Gazastreifen zu übernehmen und den Lauf der Geschichte zu ändern." Er sagte, dass der gegenwärtige Konflikt ein Zusammenstoß "einer Reihe von zivilisatorischen Werten" sei und bezeichnete die Hamas (in rein manichäischen Begriffen) als "Kraft des Bösen" und fügte hinzu, dass Israel nicht länger dulden werde, dass der Gazastreifen eine "Plattform für den Iran ist, die alle in den Abgrund des Blutvergießens und der Kriegsführung treibt".
Zwischen ihm und dem Premierminister besteht also kein grosser Unterschied.
Die Annäherung zwischen Herzog und Bibi spiegelt vielleicht einen grundlegenderen Wandel in Israel wider – einen strategischen Wandel, der weit über Bidens persönliche Besessenheit von Bibi hinausgeht:
Die New York Times und die Jerusalem Post berichten, dass seit dem 7. Oktober 36 % der Israelis in einer Reihe von politischen Fragen entschieden nach rechts gerückt sind, einschließlich der Unterstützung für Siedler im Westjordanland, der Zustimmung zu rechtsextremen Politikern und sogar zur Errichtung von Siedlungen im Gazastreifen. Und obwohl die öffentliche Meinung über die Person Netanjahu ins Wanken gerät, ist nicht zu erwarten, dass seine Regierung stürzt.
Und selbst wenn es dazu käme, ist der wichtigere Punkt, dass die Unterstützung für die von Netanjahus rechtsradikaler Regierung verfolgte Politik wächst, und zwar rapide.
Die israelische Rechte glaubt im Allgemeinen an die israelische Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen, und viele rechtsgerichtete Israelis lehnen die Existenz eines palästinensischen Staates an der Seite Israels grundsätzlich ab. Dies zeigt sich in vielen politischen Maßnahmen der derzeitigen Regierung, die auf eine Ausweitung der israelischen Besiedlung des Westjordanlandes und die Unbewohnbarkeit des Gazastreifens für die Palästinenser hinwirken.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Spektrums steht Israels Linke. Die Jerusalem Post stellt fest, dass die Linke weitgehend der Meinung ist, dass Israel das Westjordanland "besetzt" und ein Ende des Konflikts nur durch die Beendigung der Besatzung und die Ermöglichung einer Zwei-Staaten-Lösung erreicht werden kann. Aber niemand macht genaue Angaben darüber, wo dieser zweite Staat – ein palästinensischer Staat – angesiedelt werden soll. Rechtlich gesehen wären dies der Gazastreifen, das Westjordanland und ein Teil Jerusalems. Aber wer könnte das durchsetzen? Wer würde die Siedler aus dem Westjordanland vertreiben?
Für viele Israelis war der "Apartheid"-Besatzungsstaat der letzten 30 Jahre die praktikable "Zweistaatenlösung" – aber seine Säulen (strukturelle Trennung, militärische Durchsetzung und Abschreckung), die für viele Israelis die "Ruhe" zu versprechen schienen, auf die viele hofften, brachen am 7. Oktober auseinander.
"Das Trauma der Ereignisse vom 7. Oktober hat die israelische Gesellschaft verändert. Es brachte sie dazu, die grundlegendsten Prinzipien in Frage zu stellen, nämlich ob sie in ihren Häusern sicher sind", sagte der israelische Kolumnist Tal Schneider:
"Sie fordern jetzt mehr - mehr Militär, mehr Schutz, eine härtere Gangart".
"Viele Rechte", schreibt Ariella Marsden in der Jerusalem Post, "und eine Minderheit von Linken, sahen den 7. Oktober als Beweis dafür, dass ein Frieden mit den Palästinensern unmöglich ist." Es überrascht nicht, dass sich das Denken auf die Beseitigung der palästinensischen Bevölkerung verlagert hat, was zu Netanjahus Thema des "neuen Unabhängigkeitskrieges" passt.
Kurzum, Biden mag glauben, dass er aufgrund seiner "langjährigen Erfahrung" bei der Beurteilung der Ereignisse auf der "richtigen Seite" steht. Seine Erfahrung stammt jedoch aus einer anderen Zeit. Das politische Israel, das er kannte, gibt es nicht mehr: Es ist mit dem alten Paradigma seines palästinensischen Modus vivendi am Ende angelangt. Die Demographie drängt nicht mehr darauf, den Palästinensern einen Staat zu geben, sondern das Land von allen "feindlichen Bevölkerungsgruppen" zu säubern.
Die Israelis suchen jetzt nach ihrer neuen Lösung.
Und so wie der Widerstand der Hamas auf neue Wege der Kriegsführung hinweist, so deutet Bidens "langjährige Erfahrung", die in der Entsendung von Flugzeugträgern und Schiffen aus den 1960er Jahren zum Ausdruck kommt, auf etwas hin, das im Zeitalter intelligenter, wendiger, oft unauffindbarer Drohnen und zielgenauer Raketen ebenfalls passé ist.
Die USA sind heute im Jemen, im Libanon, im Westjordanland, im Irak und in Syrien direkt engagiert. Und je mehr sich der Krieg ausweitet, desto mehr werden die USA zumindest teilweise dafür verantwortlich gemacht werden – Sie haben Gaza absichtlich kaputt gehen lassen, und was kaputt ist, gehört Ihnen. Was weiter kaputt geht, gehört auch Ihnen.
Die mittellosen 2 Millionen Bewohner des Gazastreifens werden alle Flüchtlinge sein, die keine Regierung haben, die ihnen grundlegende Funktionen und Dienstleistungen zur Verfügung stellt. Hat Netanjahu das verstanden? Natürlich. Interessiert das die große Mehrheit der Israelis? Nein. Aber dem Rest der Welt ist es nicht egal, und er sieht einen dunklen Fleck, der sich über die Landkarte ausbreitet und in den Westen einsickert.
Werden die US-Flottille im Roten Meer, die diplomatischen Bemühungen im Libanon, die verzweifelten Anrufe bei China mit der Bitte um Hilfe bei der Eindämmung des Iran und die Bemühungen in Bagdad ausreichen, um den Plan der Achse zu stoppen?
Nein – der Widerstand muss sehen, dass die USA ins Trudeln geraten sind und dass Israel – von Wut erfüllt – zu dem nächsten Anstieg auf der Eskalationsleiter eines diffusen, schrittweise wachsenden Konflikts geradezu einlädt.
Alastair Crooke ist der Gründer und Direktor des Conflicts Forum, das sich für ein Engagement zwischen dem politischen Islam und dem Westen einsetzt.
Quelle: https://thealtworld.com/alastair_crooke/netanyahu-outsmarted-by-wily-biden-no-biden-is-the-one-being-played
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- Doctorow: Wer heute was über China sagt: westlicher Mainstream versus russischer Mainstream
- Zwischen Russland und dem Iran ist alles gut, was gut endet
- Kommende Veranstaltungen: Chat mit John Helmer über „The Duran“, Donnerstag, 17. Oktober
- Ken Silverstein: Jüngste Einstellungswelle bei WestExec Advisors enthüllt ein Nest von Kriegsverbrechern, zu deren Gründern Anthony Blinken gehört
- Rainer Rupp: Kann Amerika seine globale Vormachtstellung zurückgewinnen?
- Die Araber zeigen ganz offen, dass sie in einem von den USA geführten Krieg im Nahen Osten zu mehreren Lagern überlaufen
- Michael Hudson und Richard Wolff: Nahost explodiert, Ukraine zerfällt, werden die USA aktiv?
- M. K. Bhadrakumar: Russland verbündet sich mit dem Iran, die Kriegswolken zerstreuen sich
- Viktor Orbans Austausch von Höflichkeiten mit Ursula van der Leyen gestern in Straßburg
- Alastair Crooke: Die Niedertracht von Teheran
- Thierry Meyssan: Iran und Israel
- US-Weltmachtsanspruch: Ein sehr aufschlussreicher Artikel von US-Außenminister Blinken
- M. K. Bhadrakumar: Westasienkrise veranlasst Biden, das Eis mit Putin zu brechen
- Doctorow: Countdown im Iran bis zum Gegenschlag Israels: „Spotlight“ auf Press TV
- Doctorow: Eine Debatte mit John Mearsheimer über die amerikanisch-israelischen Beziehungen via „Judging Freedom“
- Mark Wauck: Verliere einen Krieg - beginne den nächsten
- Pepe Escobar: Die UN wollen Gaza nicht schützen, aber können einen „Pakt für die Zukunft“ verabschieden?
- Doctorow: „Judging Freedom“: Ausgabe vom 19. September
- GfP: Koloniale Denkschablonen
- Interview Nima mit Doctorow: „Dialogue Works“: Ausgabe vom 18. September 2024
- Doctorow: Das Feedback von wissbegierigen Menschen ist die beste Bestätigung für diese Website
- Larry Johnson: Die Huthis erhöhen den Druck auf Israel
- Lawrow zur Ukraine: Grundsatzrede im Wortlaut
- Peter Hänseler: Russland gewinnt – Europa verliert – USA lässt Europa hängen