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10 Gründe, warum Indiens Haltung gegenüber dem Gazastreifen unhaltbar ist

Von M.K. Bhadrakumar 9. Oktober 2023 - übernommen von indianpunchline.com
09. Oktober 2023

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Nach einem israelischen Luftangriff am Sonntag, 8. Oktober 2023, steigen Feuer und Rauch aus Gaza-Stadt auf.

Die indische Reaktion auf den massiven Gewaltausbruch zwischen der Hamas und Israel am Samstag geht an den Realitäten vorbei und ignoriert das geopolitische Umfeld in dieser Region und weltweit, in dem dieses katastrophale Ereignis eine sorgfältige Bewertung verdient. Sie wird sich als unhaltbar erweisen und kann den Interessen und dem Ansehen des Landes in der Welt schaden.

Erstens: Die indische Politik hat sich offenkundig auf Israel ausgerichtet. Was bisher eine Sache der Spekulation war, bekam einen Namen, als Premierminister Narendra Modi am Samstag in einem Tweet die "Solidarität" Indiens mit Israel betonte.

Dieser Ausdruck bedeutet eine historische Abkehr von Indiens konsequenter Haltung in der Palästina-Frage, die im Wesentlichen den Fußstapfen Gandhijis folgte, der die Weitsicht besaß, sich der Gründung Israels auf palästinensischem Boden zu widersetzen, und zwar auf die grausame Art und Weise, mit der die Westmächte Westasien dieses geopolitische Konstrukt aufzwangen.

Was diesen radikalen Wandel auf einem Boden ausgelöst hat, auf dem sich nicht einmal Engel trauen herumzulaufen, bleibt ein Rätsel, das in ein Mysterium innerhalb von einem Enigma gehüllt ist.

Zweitens hatte Delhi den Vorteil einer "Vorschau" auf das, was in den kommenden Wochen oder Monaten in Gaza folgen wird. Premierminister Benjamin verkündete, dass "der Feind einen noch nie dagewesenen Preis zahlen wird" und versprach, dass Israel "das Feuer in einem Ausmaß erwidern wird, wie es der Feind noch nicht erlebt hat". Er erklärte dem Gazastreifen den Krieg.

Netanjahus Fähigkeit zu sinnloser Gewalt ist Legion. Dennoch reagierte Delhi überstürzt und auf einer emotionalen, subjektiven Ebene.

Drittens: Die Möglichkeit einer Bodenoffensive und sogar einer Besetzung des Gazastreifens ist real. Einfach ausgedrückt: Indiens patentiertes Mantra, dass "dies keine Ära der Kriege ist", verpflichtet das Land dazu, sich von Netanjahu zu distanzieren. Doch stattdessen riskiert Indien, sich in das folgende Gemetzel einzumischen   – politisch, moralisch und diplomatisch.

An einem solch entscheidenden Punkt wird unsere Regierung als "Vishwa Guru", der unermüdlich die Idee von Vasudhaiva Kutumbakaam (Die Welt ist eine Familie) propagiert, zumindest mit allen Fehlern bloßgestellt. Indiens Rolle sollte die eines Einigers und nicht die eines Spalters sein.

Viertens: Indiens Reaktion steht eindeutig im Widerspruch zu den Gefühlen des globalen Südens. Denn abgesehen vom "kollektiven Westen" ist Indien ein Einzelkämpfer in der globalen Mehrheit, die sich an die Seite Israels stellt. Empathie mit den Opfern von Gewalt ist eine Sache, aber politische Unterstützung für den kollektiven Westen (was dies im vorherrschenden Klima der Weltpolitik in Wirklichkeit bedeutet) ist eine andere Sache.

Zwei Tage, nachdem Wladimir Putin in einer bahnbrechenden Rede vor einem Elitepublikum Modis Indien in den höchsten Tönen als Musterbeispiel eines zivilisierten Staates in einer multipolaren Welt lobte und es von den räuberischen neokolonialen westlichen Mächten abhob, verneinte Indien seine These.

Es steht außer Frage, dass die indische Haltung das Paradoxon seines selbst ernannten Anspruchs, der Anführer des globalen Südens zu sein, offenbart. Als es darauf ankam, haben die indischen Eliten ihr wahres Gesicht gezeigt.

Fünftens: Israels Reaktion, die bereits im Gange ist, wird voraussichtlich massiv, unerbittlich und rücksichtslos sein. Eine israelische Besetzung des Gazastreifens ist sehr wahrscheinlich, wie töricht sich das auch immer herausstellen mag. Die abschreckenden Worte des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant, der versprochen hat, "die Realität in Gaza zu verändern", werden dazu führen, dass es für die Länder der Region und des Globalen Südens   – und sogar für die "Freunde Israels" in den USA und Europa   – immer schwieriger wird, passiv zu bleiben.

Indien hat sich einen Schützengraben gegraben, aus dem es nur schwerlich wieder herauskommen wird, um sein Gesicht und seinen ramponierten Ruf und seine Glaubwürdigkeit zu wahren.

Sechs beunruhigende Fragen stellen sich in Bezug auf Indiens Berechtigung, ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats zu sein. Wessen Interessen vertritt Indien eigentlich, wenn nicht seine eigenen? Dies ist eine entmutigende Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Kurz gesagt, die Früchte jahrzehntelanger harter Arbeit der verschiedenen indischen Führungen und Diplomaten werden vergeudet.

Sieben, alle Kriege werden durch Verhandlungen beendet. Aber dieser neue Krieg wird lang und weitreichend sein. Der gerissene Politiker Netanjahu, der innenpolitisch unter immensem Druck steht, sich mit persönlichen Anklagen konfrontiert sieht und sich mit Hilfe ultranationalistischer und rechter Partner an der Macht hält, wird die Gelegenheit nutzen, um seinen Ruf als großer Beschützer Israels zu retten und das politische und sicherheitspolitische Establishment in seinem tief gespaltenen Land zu mobilisieren, und er wird es nicht eilig haben, sich mit der Hamas an einen Verhandlungstisch zu setzen.

Andererseits wollen sich die Amerikaner nach der Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien in der westasiatischen Politik nach oben hangeln. In einer großen Machtdemonstration schiebt sich eine riesige Armada von Kriegsschiffen und Flugzeugen in Richtung östliches Mittelmeer. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Machtprojektion auswirken wird.

Die Versuchung wird groß sein, die Hegemonie der USA in Westasien wiederherzustellen und Präsident Biden als entschlossene Führungspersönlichkeit zu präsentieren   – und das zu einer Zeit, in der einerseits seine Wiederwahl bei den Wahlen 2024 in greifbare Nähe gerückt ist und andererseits das Gespenst einer demütigenden Niederlage in der Ukraine seine Präsidentschaft verfolgt.

Es genügt zu sagen, dass die politischen Interessen von Biden und Netanjahu zusammenwachsen und der Gestank des israelischen Krieges wahrscheinlich den Himmel berühren und im Laufe der Zeit sogar andere Länder in der Region verschlingen wird. Der indischen Führung wird es schwerfallen, in einem apokalyptischen Szenario ihre Freundschaft und Verbundenheit mit Netanjahu zu demonstrieren.

Achttens: Die Modi-Regierung könnte sich in absehbarer Zeit auch von der großen Idee verabschieden, einen indisch-arabischen Wirtschaftskorridor nach Europa zu bauen. Das bedeutet, dass der Hafen von Haifa, der mit Netanjahus Segen von der Adani-Gruppe in einem "strategischen Kauf" zu einem Preis von 1,13 Milliarden Dollar erworben wurde, nicht die erhoffte Leistung erbringen wird. Zu einer klugen Wirtschaftsdiplomatie gehörte die Förderung der arabisch-israelischen Freundschaft.

Neun, die indische Regierung hat mühelos ignoriert, dass Israel ein Staat ist, der den Terrorismus sponsert. In der Politik und in internationalen Angelegenheiten kommt es auf die Optik an, und in einer Zeit, in der Indiens eigene Glaubwürdigkeit vom Westen unter die Lupe genommen wird, ist es doppelt wichtig, dass es in seinen Worten und seinem Verhalten vorsichtig ist. Es gibt ein altes Sprichwort: 'Zeig mir deine Freunde und ich zeige dir deine Zukunft!' Wenn die Absicht darin besteht, auf den Flügeln der israelischen Lobby in Nordamerika zu fliegen   – oder Bidens Aufmerksamkeit zu erregen   –, dann ist das, gelinde gesagt, naiv.

Schließlich sollte Indien wissen, dass die Sünden letztlich vergessen und vergeben werden, wenn eine politische Bewegung, die möglicherweise auch Gewalt angewendet hat, die überwältigende Unterstützung der Massen erhält. So sollte es in der Tat sein. Nach diesem Maßstab hat die Hamas den Lackmustest vor Jahrzehnten bestanden, lange bevor die BJP 2014 eine Regierung gebildet hat.

Die Hamas ist heute der unbestrittene Anführer der palästinensischen Bestrebungen, überragt alle anderen Gruppen und ist ein wichtiger Gesprächspartner für die Regionalmächte. Sie hat sogar eine Vertretung in Moskau. Die indische Reaktion, die dazu neigt, die gegenwärtige Entwicklung als ein "eigenständiges" Ereignis des Terrorismus zu betrachten, ist eindeutig anachronistisch.

Eine dauerhafte palästinensische Lösung muss alle Seiten einbeziehen und wird auch die Hamas mit einbeziehen, nachdem sie so kühne Hoffnungen geweckt hat. Die BJP-Führung sollte ihre Provinzführer mit einem Tunnelblick für internationale Angelegenheiten darüber aufklären, dass Islamismus nicht mit Terrorismus in der Weltgemeinschaft gleichzusetzen ist, insbesondere nicht mit der Politik der Muslimbruderschaft, zu der die Hamas gehört.

Quelle: https://www.indianpunchline.com/10-reasons-why-indias-stance-on-gaza-is-unsustainable/

Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

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