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Hat der Besetzer ein Recht auf Selbstverteidigung?

26. März 2009

Hat der Besetzer ein Recht auf Selbstverteidigung?

Der Uno-Berichterstatter Falk untersucht Israels Krieg im Gazastreifen.

26. März 2009, jbi. Neue Zürcher Zeitung

In seinem Bericht an den Uno-Menschenrechtsrat in Genf zieht der spezielle Berichterstatter zu den palästinensischen Gebieten, Richard Falk, Israels Berechtigung zum Angriff auf den Gazastreifen in Zweifel.

jbi. Der spezielle Berichterstatter für die besetzten palästinensischen Gebiete, Richard Falk, hat dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf einen Bericht unterbreitet, in dem er Wege zur rechtlichen Aufarbeitung des jüngsten israelischen Kriegs gegen die Hamas im Gazastreifen aufzuzeigen versucht. Die von der israelischen Armee eingesetzten Mittel und die zahlreichen Opfer unter der Zivilbevölkerung hatten weitherum den Verdacht geweckt, während des Kriegs vom 27. Dezember bis zum 18. Januar seien Kriegsverbrechen begangen worden. Die Uno hat bisher erst eine Untersuchung der Angriffe auf ihre eigenen Einrichtungen im Gazastreifen in die Wege geleitet, aber nicht möglicher Verstösse gegen das Völkerrecht, die von der einen oder anderen Seite verübt worden wären.

Pflichten der Besetzer

Falk, emeritierter Professor für Völkerrecht der Universität Princeton in den USA, empfiehlt dem Menschenrechtsrat, von anerkannten Völkerrechtsexperten die Fakten abklären zu lassen, die einen Verdacht auf Kriegsverbrechen entstehen liessen. Die Experten, empfiehlt Falk, müssten auch israelische und palästinensische Erklärungen und Rechtfertigungen einholen, anwendbare Rechtsnormen zusammenstellen und die juristische Verantwortlichkeit kollektiver und individueller Akteure abklären. Selber kann Falk die Untersuchungen nicht durchführen, hat Israel ihn doch zur unerwünschten Person erklärt und ihn beim letzten Versuch, in seiner Eigenschaft als Uno-Rapporteur einzureisen, während 30 Stunden in Haft gehalten, bevor er ausgeschafft wurde.

Falks Bericht beschränkt sich nicht auf Verstösse gegen das Völkerrecht bei den militärischen Operationen, sondern untersucht auch die Frage nach der israelischen Berechtigung zum Angriff überhaupt. Er stellt fest, dass der Gazastreifen als besetztes Gebiet zu betrachten sei und Israel deshalb die von den Genfer Konventionen definierten Verpflichtungen einer Besatzungsmacht zu erfüllen habe, wie die Sicherstellung der Grundversorgung und des Schutzes der Zivilbevölkerung. Angesichts der Verhältnisse im dichtbesiedelten Gazastreifen sei die vom Völkerrecht geforderte Unterscheidung ziviler und militärischer Ziele wohl gar nicht möglich, sagt Falk. Wenn aber eine Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Zielen nicht gemacht werden könne, erscheine ein Angriff darauf als illegal und könne ein Kriegsverbrechen grössten Ausmasses darstellen.

Widerstandsrecht der Besetzten

Die Angriffe mit Artillerie, Kampfflugzeugen und Helikoptern wurden dadurch verschlimmert, dass den 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen die Fluchtwege verschlossen waren. Israel weigerte sich, schutzlosen Zivilpersonen, ja sogar vielen Kranken, Zuflucht zu gewähren, und auch die Grenze zu Ägypten blieb geschlossen. Humanitäre Schutzzonen wurden keine definiert, und Uno-Einrichtungen, in denen Zivilisten Zuflucht suchten, wurden zum Ziel von Angriffen. Wenn der Bevölkerung die Fluchtwege abgeschnitten würden, meint Falk, lasse sich der israelische Vorwurf nur schwer belegen, die Hamas habe die Zivilbevölkerung als Schutzschild missbraucht.

Israels Rechtfertigung zum Angriff, nämlich sein Recht auf Selbstverteidigung angesichts des Raketen- und Granatenbeschusses aus dem Gazastreifen, zieht Falk in Zweifel. Er stellt die Frage, ob eine Besatzungsmacht gegenüber der besetzten Gesellschaft überhaupt ein Recht auf Selbstverteidigung beanspruchen kann. Dem Recht Israels auf Selbstverteidigung stellt Falk somit das Recht der Palästinenser auf Widerstand gegen die Besatzung entgegen. Israels Angriff widersprach laut Falk aber auch dessen Verpflichtung als Uno-Mitglied, mit allen verfügbaren Mitteln eine friedliche Lösung seines Konflikts mit der Hamas zu suchen.

Wie Falk anführt, hat die zwischen Israel und der Hamas am 19. Juni vereinbarte Waffenruhe nämlich den Weg gezeigt, wie der Beschuss Israels aus dem Gazastreifen gestoppt werden kann. Zwischen Juli und Oktober wurden gesamthaft nur 11 Raketen auf Israel abgeschossen, und der Beschuss stieg erst wieder an, nachdem Israel am 4. November einen militärischen Vorstoss in den Gazastreifen unternommen hatte. Damals war auch klargeworden, dass der jüdische Staat das beim Abschluss der Waffenruhe abgegebene Versprechen eines Endes der Blockade gegen Gaza nicht einhalten würde. Auch die Schuld am Bruch der Waffenruhe vermutet Falk also auf israelischer Seite.

Keine Richter in Sicht

Falks Argumente sprechen Israel praktisch das Recht ab, gegen die Palästinenser Gewalt anzuwenden, die über die punktuelle, unmittelbare Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung hinausgeht. Israel hat den Uno-Menschenrechtsrat im Allgemeinen und den Bericht im Besonderen denn auch als einseitig abgelehnt, zu den von Falk entwickelten Argumenten im Einzelnen aber nicht Stellung genommen. Und was für eine Instanz schliesslich abklären soll, wer für das Leiden und die Zerstörungen in Gaza die Schuld trägt und dafür bestraft werden soll, bleibt offen.

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
http://www.nzz.ch/nachrichten/international/hat_der_besetzer_ein_recht_auf_selbstverteidigung_1.2260746.html

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