«Unsere Probleme sind von Menschen geschaffen, deshalb können sie auch von Menschen gelöst werden»
ISBN 978-3-280-05708-7
Die dunkle Seite von Wikipedia …
Dass ein Engagement für den Frieden nicht immer ungefährlich ist, weil es einem mächtigen militärisch-industriellen-medialen Komplex in die Quere kommt, ist dem Buch in vielen Beispielen zu entnehmen, aber auch der Autor selbst hat da seine einschlägigen Erfahrungen gemacht. Einer, der die Reihe der Imperien der Weltgeschichte ins 20. Jahrhundert nachführt und hier nach Grossbritannien als Imperium des 19. Jahrhunderts die USA als dasjenige des 20. Jahrhunderts auflistet, sieht sich einem scharfen Gegenwind ausgesetzt: Schlägt man den Namen des Autors nach, und das tut heute die grosse Mehrheit via den in den USA domizilierten Konzern Google, so findet man auf dem ebenfalls in den USA beheimateten Online-«Nachschlagewerk» Wikipedia unter dem Stichwort «Daniele Ganser» viel Despektierliches. Wer Näheres zur Entstehung solcher Einträge in der Online-«Enzyklopädie» erfahren will, sei auf die sehr lohnenswerte Dokumentation «Die dunkle Seite der Wikipedia» der Filmemacher Markus Fiedler und Frank-Michael Speer verwiesen,3 die gerade am Beispiel von Daniele Ganser aufzeigen, wie unwissenschaftlich diese Webseite aufgebaut ist, was gesellschafts- und machtpolitische Themen betrifft – während naturwissenschaftliche Beiträge durchaus zu würdigen seien.
… oder der diffamierende Angriff ad personam
Auf Grund seiner kritischen historischen Untersuchungen zur US-Geschichte wurden die verschiedenen anonym agierenden Hierarchiestufen der Wikipedia-Editoren auf Ganser aufmerksam und haben ihn mit Schmähungen eingedeckt, die sich nicht mehr entfernen lassen. So gilt er seit einiger Zeit als einer, der «Verschwörungstheorien zu verschiedenen Themen, insbesondere Verschwörungstheorien zum 11. September 2001» verbreite.4 Dass Ganser mit dieser Abqualifizierung, dieser Attacke ad personam, als Autor unglaubwürdig gemacht werden soll, dient dem einzigen Zweck, die Leser von einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Inhalt seiner Forschungen abzuhalten. Schon seine Dissertation «Nato-Geheimarmeen in Europa» aus dem Jahre 2008 stiess in den einschlägigen Kreisen nicht auf Gegenliebe, ebensowenig «Europa im Erdölrausch» von 2012 oder «Illegale Kriege» 2016. Bei der interessierten Leserschaft hingegen fanden diese Titel reissenden Absatz. Auch das hier anzuzeigende neueste Werk von Ganser figuriert bereits auf der Spiegel-Bestsellerliste. Und warum? Wohl weil er eben gerade keine Verschwörungstheorien verbreitet, sondern gut belegte, nachprüfbare reale Verschwörungen gegen den Frieden und die Menschlichkeit nachzeichnet, somit Verbrechen, die geahndet gehörten.
Das US-Imperium – die grösste Gefahr für den Weltfrieden
Schon der Klappentext und ein erster Blick auf das Inhaltsverzeichnis machen deutlich, wieso der Schweizer Historiker, dessen Vorträge im Internet von Hunderttausenden angeklickt werden, einigen sehr mächtigen Menschen ein Dorn im Auge ist. So ergab eine Umfrage aus dem Jahre 2019, dass die USA für die Mehrheit der Deutschen derzeit die grösste Bedrohung für den Weltfrieden darstellten – und nicht etwa, wie von US-Präsident Trump immer wieder insinuiert, Russland, China oder der inzwischen in Vergessenheit geratene dubiose IS. Und schon 2013 betrachteten nach Gallup International 56 % aller weltweit Befragten die USA als das Land mit dem stärksten destabilisierenden Einfluss auf das Weltgeschehen.
Dass solche Zahlen nicht einem plumpen Anti-Amerikanismus entspringen, macht Ganser deutlich, wenn er betont, dass die überwältigende Mehrheit der US-Amerikaner wie die Menschen in anderen Ländern auch nichts lieber als in Frieden leben möchten. Dennoch gibt Ganser zu bedenken, dass die Weltmacht Nummer 1 mit ihren 300 000 sehr reichen Familien wie keine andere Macht nach dem Zweiten Weltkrieg Länder sonder Zahl bombardiert hat. «Kein anderes Land hat seit 1945 so viele Regierungen gestürzt und war in so viele offene und verdeckte Konflikte verstrickt wie die USA. Kein anderes Land der Welt unterhält in so vielen anderen Ländern Militärstützpunkte, exportiert so viele Waffen und unterhält einen so hohen Rüstungsetat wie die USA.» Einschüchterung, Manipulation und Gewalt seien die Mittel, die von gewissen Kreisen in den USA eingesetzt würden.
Von Beginn weg «hard power» und «soft power» kombiniert
Ganser schlägt einen weiten Bogen über die Geschichte der USA, sein Inhaltsverzeichnis liest sich wie eine Zusammenfassung seines Buches. Nachdem die aktuelle militärische Maschinerie und das Faktum dargestellt worden sind, dass die USA heute als Oligarchie bezeichnet werden müsse, setzt der Autor bei den Indianerkriegen ein. Vieles, was dann folgt, ist dem Leser über 25 Jahren nicht unbekannt, liest sich aber, quellenkundlich seriös mit vorwiegend US-amerikanischen Quellen abgestützt, oft in erhellend neuem Zusammenhang. Auf die «Ursünden» des jungen Staates, die vier Millionen getöteten Indianer und die zwölf Millionen verschleppten Afrikaner, folgt der imperialistische Griff über Nordamerika hinaus: immer mit Täuschung, False-flag-Operationen, psychologischer Kriegsführung, aber auch nackter Gewalt wird ein Repertoire aufgebaut, das später von Joseph S. Nye einmal als «smart power» bezeichnet wurde, jener Mischung aus «hard power» und «soft power», also Instrumenten, die je nach Bedarf in verschiedenen Kombinationen einsetzbar sind.5
National Security Council und verdeckte Kriegsführung
Mit Interesse wird man nicht nur über die US-Verstrickungen mit Nazi-Deutschland lesen, sondern auch das Kapitel «Verdeckte Kriegsführung», in dem der National Security Council (NSC), der Nationale Sicherheitsrat, vorgestellt wird als Lenkungsgremium mit höchster Kompetenz. Dieser geheim tagende Rat halte die Schlüssel der Macht in den Händen und kommandiere die US-Armee und alle US-Geheimdienste. Nebst dem Präsidenten sind bei den Sitzungen des NSC anwesend: der Vizepräsident, der Aussenminister, der Verteidigungsminister, der CIA-Direktor, der Nationale Sicherheitsberater, der Generalstabschef und weitere hochrangige Beamte. Laut dem US-Historiker John Prados, auf den sich Ganser hier beruft, ist dieser Rat «die höchste Ebene des Politikbetriebes» (S. 169). Und apropos CIA: Mit Bezug auf den vom US-Kongress am 26. Juli 1947 verabschiedeten National Security Act weist Ganser auch unmissverständlich nach, dass die CIA, an diesem Tag gegründet, nicht nur ein Nachrichtendienst war und ist, sondern auch weitreichende Kompetenzen zur verdeckten Kriegsführung erhielt.
Und wo überall verdeckt Krieg geführt wurde, zeigt Gansers Kapitel 8: Wenn auch vieles dem geneigten Leser schon aus anderen Darstellungen bekannt ist, so erhält man hier noch einmal eine konzise, mit US-amerikanischen Quellen gut belegte Übersicht über die schiere Mordlust der Agenten, die zum Teil selbst der Propaganda unterlagen, sie würden für die freie Welt kämpfen. Spannend auch die Rolle von CIA-Direktor Allen Dulles, insbesondere im Zusammenhang mit der Ermordung von John F. Kennedy … Dass die Dokumente so viele Jahrzehnte nach dem Attentat immer noch nicht vollumfänglich freigegeben worden sind, spricht für sich!
Erschreckende Befunde der Church-Kommission
Spannend auch die Rolle der Church-Kommission bei der Aufdeckung der Mordanschläge der CIA. Der 1975 publizierte Bericht des US-Senats unter Leitung des Senators Frank Church aus Idaho listete auf 350 Seiten die Verbrechen des operativen Armes der CIA, der Abteilung für verdeckte Operationen, auf. Die Befunde waren so niederschmetternd, dass Noam Chomsky sein Heimatland USA als «den führenden terroristischen Staat» bezeichnete. Der Bericht der Church-Kommission ist öffentlich zugänglich und müsste Pflichtlektüre für jeden sein, der diese Welt besser verstehen will. Gleichzeitig zeigt der Vorgang auch, dass die USA immer wieder selbstreinigende Kräfte hervorbringen, die den Staat in den Kreis der zivilisierten Völker zurückbringen möchten. Die vollständige Dokumentation der Berichte des Church Committee (14 Bände) sowie rund 1000 Seiten freigegebene Originalakten sind im Internet leicht zu finden.6
Da den meisten Menschen die Zeit fehlt, sich durch die Dokumente durchzuarbeiten, sei hier mit Ganser die Quintessenz der Untersuchung der Senatoren wiedergegeben: «‹Wir glauben, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat zu erfahren, welche Instrumente ihre Regierung einsetzt›, erklärte die Church-Kommission in ihrem brisanten Mordbericht. ‹Die Kommission ist der Überzeugung, dass die Wahrheit über diese Mordversuche ausgesprochen werden muss, da die Demokratie von einer gut informierten Wählerschaft› abhängig ist. Im Bericht drückten die Senatoren ihre ‹Abscheu gegenüber dem, was wir erfahren haben›, aus. ‹Das ist eine traurige Geschichte. Aber dieses Land hat die Kraft, diese Geschichte anzuhören und daraus zu lernen›, glaubten die Senatoren. ‹Wir müssen ein Volk bleiben, das seine Fehler sieht und das fest entschlossen ist, sie nicht zu wiederholen. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir untergehen. Aber wenn wir es schaffen, wird unsere Zukunft strahlend sein wie die besten Zeiten unserer Vergangenheit›.» (S. 176)
Diese Worte der Church-Kommission im Ohr wird sich der Leser bei den weiteren Teilen des Buches die leidvolle Frage stellen müssen, warum die Kommission nicht erhört wurde – insbesondere auch bei der Iran-Contra-Affäre, die Ganser im Kapitel 11 beschreibt.
Digitales Imperium und personalisierte Propaganda
Spätestens nach der Lektüre dieses unglaublichen Skandals wird der Leser das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollen, kommt Ganser nun doch zu 9/11, dort insbesondere zum Gebäude WTC 7, dann zum sogenannten Krieg gegen den Terror. Es sei der Lektüre der geneigten Leserschaft überlassen, zu beurteilen, ob es sich hier um ein neues Pearl Harbor handle … Wer sich nicht mehr genau zu erinnern vermag, wie der Stand der Forschung zu jenem Ereignis ist, das zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg führte: Auch dies hat Ganser in einem Kapitel «Die USA und der Zweite Weltkrieg» in Erinnerung gerufen.
Das Kapitel «Das digitale Imperium» ruft u. a. noch einmal den Skandal um Cambridge Analytica und die subtile personalisierte Wahlpropaganda via Facebook in Erinnerung, um sich dann nur kurz mit der zu Beginn dieses Artikels schon erwähnten «dunklen Seite» von Wikipedia zu befassen.
Kampf um Eurasien statt Krieg gegen den Terror
Wenn man sich dem letzten Kapitel «Der Kampf um Eurasien» zuwendet, schadet es nicht, sich an die Worte von Zbigniew Brzezinski zu erinnern. Wie hatte der inzwischen verstorbene Altmeister der Geostrategie und Sicherheitsberater von Jimmy Carter einmal gesagt? Was sind schon einige islamistische Terroristen im Vergleich dazu, das sowjetische Imperium in die Knie gezwungen zu haben? Und an anderer Stelle meinte er, dass der islamistische Terror im Vergleich zu der Auseinandersetzung mit Russland und China im 21. Jahrhundert bald vergessen sein werde.7
Vor diesem Hintergrund wirkt Gansers Vergleich zwischen dem Bau der Berlin-Bagdad-Bahn vor dem Ersten Weltkrieg und der «Neuen Seidenstrasse» Chinas noch ungemütlicher: Durfte erstere nicht vollendet werden, weil sonst Grossbritannien, das damalige Empire, seine Macht mit dem Deutschen Reich hätte teilen oder sie gar an dieses abtreten müssen, so stelle sich dem US-Imperium heute die Frage, ob die Verwirklichung von Road and Belt oder eben der «Neuen Seidenstrasse» nicht auch das Ende des US-Imperiums bedeuten könnte. Ob wir dann gemäss dem Thukydides-Dilemma (demnach greife die bis anhin vorherrschende Macht die aufstrebende an, damals Sparta Athen) einen Krieg der USA gegen China und Russland sehen, wird nicht zuletzt auch von uns allen abhängen, von uns Bürgern der Welt, die nichts lieber als friedlich zusammenleben möchten – so, wie es der Sozialnatur des Menschen auch entspricht.
Probleme, von Menschen geschaffen, von Menschen zu lösen
Abschliessend sei mit Ganser der zwar nicht über alle Zweifel erhabene John F. Kennedy mit einer sehr wahren Aussage zitiert, die uns Mut machen kann, selbst vor die Haustüre zu treten und zu schauen, was es gibt, wie es der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller einmal formulierte. Kennedy meinte: «Lassen Sie uns zunächst unsere Haltung gegenüber dem Frieden selbst überprüfen. Zu viele von uns halten ihn für unmöglich … Aber das ist ein gefährlicher, defätistischer Glaube. Er führt zu der Schlussfolgerung, dass der Krieg unvermeidlich ist, dass die Menschheit zum Untergang verurteilt ist … Doch unsere Probleme sind von Menschen geschaffen, deshalb können sie auch von Menschen gelöst werden.» Eine Aussage, der nur beizupflichten ist. •
1 Ganser, Daniele. Imperium USA. Die skrupellose Weltmacht, 2020, S. 2
2 vgl. https://www.siper.ch/ und https://www.danieleganser.ch/
3 https://www.youtube.com/watch?v=5p4NmPLoh8k
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Daniele_Ganser. Status 3.6.2020
5 vgl. zum Beispiel Nye, Joseph S. Jr. «Get Smart: Combining Hard and Soft Power»; in: Foreign Affairs, Vol. 88, No. 4 (July/August 2009), pp. 160 –163.
Oder u. a.: Professor Joseph Nye on «Smart Power» at the Australian Institute of International Affairs; https://www.youtube.com/watch?v=K3sLkLbmsuU. Status 4.6.2020
6 http://www.aarclibrary.org/publib/church/contents.htm
7 vgl. Brzezinski, Zbigniew. «How Jimmy Carter and I Started the Mujahideen»; https://theaustrianeconomists.wordpress.com/2010/02/24/zbigniew-brzezinski-how-jimmy-carter-and-i-started-the-mujahideen/ Status 4.6.2020
Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2020/nr-13-16-juni-2020/unsere-probleme-sind-von-menschen-geschaffen-deshalb-koennen-sie-auch-von-menschen-geloest-werden.html
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