Jenseits der Propaganda

Syrien ist anders, als man uns glauben machen will.
Mit freundlicher Genehmigung von Rubikons Weltredaktion
19. Mai 2018
Claudia Fahlbusch lebt als Texterin und Autorin in der Schweiz. Über Ostern reiste sie mit rund 20 anderen Interessierten nach Syrien. Sie stieß auf überwältigende Offenheit und Herzlichkeit bei den Einheimischen und entdeckte ein Land, das mit der medialen Darstellung hierzulande als „Herz der Finsternis“ wenig gemein hat. Ihre Eindrücke hat sie in einem Videotagebuch festgehalten und schildert sie im Interview mit Rubikon.

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Frau Fahlbusch, wie kommt man darauf, ausgerechnet nach Syrien zu reisen?

Ich schreibe an einem Roman, und mein Protagonist hat einen syrischen Background. Ich hielt es gar nicht für möglich, dass man jetzt nach Syrien reisen kann. Im Dezember 2017 erhielt ich einen Newsletter vom Magazin „Zeitpunkt“. Darin wurde auf die Reise hingewiesen, und ich hatte spontan das Gefühl, dass ich teilnehmen sollte, also meldete ich mich an, in der Hoffnung, auf dieser Reise etwas mehr über meine Romanfigur zu erfahren. Was dann auch der Fall war.

Was war das für eine Reisegruppe, wer war der Veranstalter?

Der Reiseveranstalter war der Luzerner Anwalt Vital Burger vom „Freundeskreis Schweiz-Iran“, der schon mehrmals in Syrien war. Einige der anderen Reiseteilnehmer kannten Vital Burger schon, im Gegensatz zu mir. Es waren alles „Privatleute“, welche die Reise aus persönlichem Interesse unternahmen, keine Journalisten, keine Vertreter von Hilfswerken, keine Geschäftsleute. Wir hatten alle den Wunsch, uns selbst ein Bild von dem Land zu machen, von dem wir hier immer nur hören und sehen, dass es in Schutt und Asche liegt. Die meisten Reiseteilnehmer waren Leute im beruflichen Ruhestand, zum größten Teil aus der Schweiz, zwei aus Südtirol und vier aus Deutschland. Die älteste Teilnehmerin war 84 Jahre alt.

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Hatten Sie keine Angst, in ein Kriegsland zu reisen?

Ich persönlich hatte nicht das Gefühl, viel zu riskieren. Allerdings wurde mir etwas mulmig, als im Februar erneut Angriffe aus Israel gemeldet wurden und überall zu lesen war, Syrien sei derzeit der gefährlichste Platz auf Erden. Ein Treffen mit Vital Burger und der Gruppe einige Wochen vor der Reise überzeugte mich davon, dass er gut Bescheid weiß und keine unverantwortlichen Risiken eingeht. Außerdem ist er Helikopterpilot. Das fand ich sehr beruhigend.

Bei mir entstand zu dieser Zeit auch der Eindruck, dass es hierzulande vielleicht gar nicht gewollt ist, dass Europäer oder überhaupt „Westler“ nach Syrien reisen und Dinge sehen, über die hier nicht berichtet wird.

Wie kommt man im Land mit Einheimischen in Kontakt?

Die Einheimischen kamen mit uns in Kontakt. Die Leute dort sind herzlich und gast-freundlich und freuten sich sehr, wieder Touristen im Land zu sehen. Für sie ist es ein Zeichen dafür, dass es aufwärts geht. An manchen Orten waren wir eine richtige Attraktion   – offenbar waren wir seit Jahren die erste „offizielle“ Reisegruppe aus Europa, die Syrien besuchte. Manche Kinder hatten noch nie einen Touristen gesehen.

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Viele Leute sprachen uns an, auf der Straße, am Bahnhof, in Restaurants und Geschäften; wollten wissen, woher wir kommen und wollten Selfies mit uns machen. Wir hatten zwei Dolmetscher dabei, das war sehr hilfreich. Ansonsten behalf man sich mit ein paar Brocken Deutsch, Englisch, Französisch oder Italienisch und mit Händen und Füssen. Wir trafen aber auch immer wieder Syrer, die eine dieser Fremdsprachen erstaunlich gut beherrschten.

Waren Sie früher schon einmal in Syrien?

Ich war vorher noch nie in Syrien, wollte aber schon immer mal gerne nach Damaskus, nachdem ich Bücher von Rafik Shami gelesen hatte, in denen er die Stadt so wunderbar beschreibt.

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Wie haben Sie die Reise organisiert?

Ich habe mich per Mail angemeldet und erhielt von Vital Burger das Formular für den Visumsantrag. Den füllte ich aus, und alles Weitere erledigte Vital Burger: Visum, Flug, Transport im Land, Unterkünfte, Verpflegung.

Er arrangierte auch verschiedene sehr interessante Begegnungen für unsere Gruppe: In Kfarbou, einer christlichen Gemeinde nahe Hama, wohnten wir drei Tage lang bei einheimischen Familien und erfuhren viel über das Leben in der Kirchgemeinde. Wir feierten ein Fest mit den Jugendlichen dort und gehörten ein bisschen zur Familie.

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In Damaskus trafen wir Marie-Louise Haddad, eine 94-jährige Schweizerin, die seit 40 Jahren in der Altstadt von Damaskus lebt, und den französischen Journalisten Thierry Meyssan, der ebenfalls in Syrien lebt. Und schließlich konnten wir spontan ein Treffen vereinbaren mit dem Leiter des Schweizer Büros für humanitäre Hilfe in Damaskus, der uns empfing und über die Aktivitäten der DEZA, der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit in Syrien berichtete.

Insgesamt haben wir sehr viel Kultur gesehen, vor allem Kirchen, Moscheen und Ausgrabungen sowie in Damaskus die alte Dampfeisenbahn, die man extra für uns flott machte   – ein Traum für Bahnnostalgiker.

War es einfach, ein Visum zu bekommen?

Für uns schon   – Vital Burger hat das alles organisiert und unsere Pässe nach Genf geschickt, wo er sie dann mit dem Visum abholte. Man muss aber für ein Touristenvisum gut drei Monate Bearbeitungszeit rechnen.

Mit welchem Gefühl sind sie aufgebrochen, was haben Sie erwartet?

Ich stellte mir durchaus die Frage, ob es angebracht ist, als Touristin in ein Land zu reisen, in dem Krieg herrscht. Teile meines Umfelds reagierten mit Befremden auf meine Ankündigung dieser Reise. Einige machten sich Sorgen über mein Wohlergehen, und andere hatten wohl den Eindruck, ich wolle mich damit irgendwie profilieren und fände es besonders cool und abgefahren, in ein Kriegsland zu reisen.

Es wurde aber von Vital Burger von Anfang an klar kommuniziert, dass wir nicht den Kick suchen, keine Konfliktzonen „besuchen“ und auch nicht nach Syrien reisen, um Betroffene und Trümmer zu „begaffen“. Die gemeinsame Motivation war, dass wir uns selbst ein Bild machen wollten.

Das wiederum erschien mir erstrebenswert, nachdem ich begonnen hatte, mich intensiver mit der Berichterstattung über Syrien in den westlichen Medien auseinanderzusetzen und unabhängigen Journalisten auf Twitter zu folgen, die aus Syrien berichteten. Ihre Geschichten unterschieden sich erheblich von dem, was wir hier in den Medien erfahren, und ich war gespannt darauf, welche Erfahrungen wir machen würden. Erwartet habe ich nichts Bestimmtes.

Haben Sie etwas gesehen oder gehört, was der Krieg hinterlassen hat? Zerstörung, Flüchtlingslager, Vertriebene?

Wir haben wenig von der Zerstörung gesehen, und das wundert nun vor allem die Daheimgebliebenen, wenn ich meine Videos zeige. Nach dem, was hier berichtet wird, könnte man meinen, ganz Syrien liege in Trümmern. Dass das Leben in vielen Teilen des Landes ganz alltäglich ist, können viele hier kaum glauben. Die Altstadt von Damaskus zum Beispiel scheint vollständig in Takt zu sein; dort nimmt das Leben seinen Gang, man flaniert im Souk und überall gehen die Menschen ihren Geschäften nach. Mein Hotelzimmer war direkt über einer belebten Straße in der Altstadt. Dort ging bis nachts um drei die Post ab, mit Musik und Menschen auf der Straße und in den Cafés, wie in anderen Hauptstädten auch. Insgesamt empfand ich die Stimmung als weitgehend entspannt. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass hier ein Volk von Geknechteten lebt, wo sich kaum jemand traut, den Mund aufzumachen, aus Angst, gleich verhaftet oder schikaniert zu werden.

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Ruinen und ausgebombte Gebäude sahen wir in Maaloula, zirka 60 Kilometer von Damaskus entfernt. Im dortigen Kloster sahen wir auch zerstörte Heiligenbilder, bei denen die Gesichter weggeschossen worden waren. Der Ikonoklasmus, die Zerstörung heiliger Bilder, ist eine gängige Praxis des IS. Die kulturelle Identität eines Volkes soll ausgelöscht werden.

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In Kfarbou hörte ich in der Nacht auf Ostersonntag einen lauten Knall; da war ich einen Moment lang schon etwas beunruhigt und überlegte, ob ich jetzt wohl aufstehen und packen müsse. Am anderen Tag erfuhren wir, dass einige Kilometer von uns ein Munitionsdepot in die Luft gesprengt worden war.

Als wir nach Damaskus kamen, mussten wir einen großen Umweg in die Stadt fahren, weil im Stadtteil Duma entgegen den Erwartungen noch gekämpft wurde. Auch in Damaskus hörten wir verschiedentlich einzelne Granateneinschläge.

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Auffallend ist die große Militärpräsenz, auf den Straßen, in den Städten, bei den Sehenswürdigkeiten. Es gibt zahlreiche Straßensperren und wir wurden mehrmals angehalten und befragt. Nach Homs fuhren wir letztlich nicht, obwohl das vorgesehen war, weil wir erfuhren, dass enorm viel kontrolliert wird und wir ewig gebraucht hätten, um durchzukommen.
Flüchtlingslager sahen wir nur im Libanon, und das waren palästinensische Flüchtlinge, die dort schon seit Jahrzehnten leben.

Haben Sie mit den Menschen, die Sie getroffen haben, über den Krieg gesprochen? Wie haben Sie sich verständigt? Was haben diese Menschen Ihnen erzählt?

Über den Krieg an sich wurde nicht sehr viel gesprochen, eher über die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. In Kfarbou trafen wir uns mit der lokalen Frauengruppe. Die Frauen erzählten, dass dem Land die jungen Männer zwischen 18 und 35 fehlen, weil sie entweder geflohen oder im Krieg gefallen sind, und dass deshalb viele Frauen keinen Mann zum Heiraten finden. Oder wenn, dann hat er kein Geld, um ein Haus zu bauen, und das wiederum braucht er, um eine Familie gründen zu können. Die jungen Männer fehlen auch der Wirtschaft und beim Wiederaufbau des Landes.

Die Frauen klagten über die mangelnde ärztliche Versorgung; in Kfarbou, wo immerhin rund 20.000 Menschen wohnen, gibt es keine einzige Krankenstation und zu wenig Medikamente. Das durchschnittliche Monatseinkommen der Syrer ist von 400 vor dem Krieg auf 80 Dollar gefallen. Wegen den Sanktionen durch die westlichen Regierungen kommt die Wirtschaft nicht auf die Füße. Es fehlt an allem: Maschinen, Material, Ersatzteile.

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Alle hoffen, dass der Krieg endlich vorbei ist. Wir trafen übrigens niemanden, der gegen die Regierung Assad war. Niemand sprach von „Rebellen“, sondern von Terroristen. Ich hatte den Eindruck, dass Assad zumindest für die Christen, die wir trafen, ein Garant für Stabilität und für ihre Sicherheit als Minderheit in einem vor allem von Sunniten bevölkerten Staat ist.

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In Kfarbou wohnte ich bei einer Familie, deren Sohn im Krieg gefallen ist, mit 23 Jahren. Die anderen drei Söhne sind nach Deutschland geflohen   – nicht vor Assad, sondern vor der Wehrpflicht, und das hörten wir oft. In Syrien muss jeder junge Mann zum Militär, es sei denn, er ist der Stammhalter. Man kann sich freikaufen, für 8.000 Dollar, und jetzt sparen die Eltern meiner Gastfamilie, damit die Söhne irgendwann heimkommen können.

Der gefallene Sohn ist überall präsent. Überall hängen Bilder, das WLAN wurde nach ihm benannt und ebenso der einzige Enkel. Es wird viel von ihm gesprochen, und immer noch fließen Tränen. Der Hausherr zeigte mir das Maschinengewehr, das in einer Schublade im Schlafzimmer liegt, und sagte, die Regierung habe den Christen Waffen abgegeben, damit sie sich wehren können, wenn die Terroristen kommen.

Verständigt habe ich mich in der Familie mittels Google Translator und einem der Söhne in Deutschland über Face Time. Er spricht schon recht gut Deutsch und übersetzte zwischen seinen Eltern und uns hin und her.

Aufgefallen ist mir während der Reise, dass die Menschen, die wir trafen und mit denen wir sprachen, nie wütend waren, auf nichts und niemanden, auch nicht auf uns „Westler“, obwohl in Syrien viele wissen, was unsere Medien berichten und dass westliche Regierungen die Terroristen mit Waffen und Geld unterstützen. Manche dankten uns, dass wir den Mut hatten, nach Syrien zu kommen, und wir wurden gebeten, daheim zu erzählen, wie es wirklich ist.

Trotz der schrecklichen Ereignisse ist sehr viel Kraft und Lebensfreude spürbar, das erlebten wir insbesondere, wenn wir mit den Syrern feierten. Ausnahmslos alle waren freundlich zu uns, auch die Soldaten, die mit uns plauderten, während sie einen Posten oder eine Sehenswürdigkeit bewachten und sich freuten über die Abwechslung. Ich erlebte die Menschen in Syrien als sehr offen, lebensfroh, herzlich und humorvoll. Es wurde tatsächlich viel gelacht.

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Ganz allgemein hatte ich den Eindruck, dass man einfach unendlich kriegsmüde ist und endlich wieder Stabilität und Sicherheit will, damit man ein „normales“ Leben führen kann.

Wie hat die Reise Ihren Blick auf Syrien und die politische Führung in Damaskus, wie Ihren Blick auf Nachrichten unserer Medien über Syrien verändert?

Ich habe eine Vorstellung davon gewonnen, wie über die Berichterstattung durch die Medien die öffentliche Meinung manipuliert werden kann. Wenn man etwas oft genug sieht und hört, noch dazu aus Quellen, die man für seriös hält, glaubt man es irgendwann, zumal man nicht die Möglichkeit hat, es selbst zu überprüfen.

Es ist nicht nur das Geschriebene und Gesprochene, es sind auch die Bilder, die man ständig vorgesetzt bekommt: zerstörte Gebäude (auffällig viele Krankenhäuser), Menschen auf der Flucht, Opfer von (angeblichen) Giftgasangriffen, und dazu die Information, dass die syrische Regierung und insbesondere Präsident Assad dafür verantwortlich ist. Diese Bilder verbinden wir dann mit der Information und finden es schrecklich, dass ein Regent seinem Volk so etwas antut. Es kommt mir vor wie eine kollektive Trance.

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Es ist mir aufgefallen, dass die Berichterstattung in den westlichen Medien zahlreiche Elemente von Kriegspropaganda enthält   – leider auch die des Schweizer Fernsehens SRF und der hoch angesehenen Neuen Zürcher Zeitung NZZ. So wird Assad beispielsweise als „Schlächter von Damaskus“ (Focus Magazin) betitelt und erhält damit dämonische Züge; die NZZ bezeichnet syrische Soldaten als „Schergen“   – typische Botschaften der Kriegspropaganda. Bei Gesprächsrunden über Syrien ist die Auswahl einseitig, indem man vorwiegend Leute einlädt, die gegen die syrische Regierung sind, und dazu jemanden, der mit seiner gegensätzlichen Meinung einen schweren Stand hat.

Was mich einigermassen erschütterte, war die Reaktion der westlichen Medien auf den angeblichen Giftgaseinsatz in Duma am 7. April 2018. Er wurde der syrischen Regierung in die Schuhe geschoben, und da griff ich mir wirklich an den Kopf: Assad hatte den Krieg praktisch gewonnen; als wir in Damaskus waren, wurden zahlreiche Busse konfisziert, damit man die Terroristen, die kapituliert hatten, und ihre Familien aus Duma abtransportieren konnte. Warum sollte Assad ausgerechnet jetzt Giftgas einsetzen und einen Angriff der westlichen Alliierten provozieren? Das widerspricht jeglicher Logik, selbst wenn man kein Freund von Assad ist, aber so wurde es uns verkauft   – und sehr viele intelligente Menschen haben es geglaubt.

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Was meinen Blick auf Syrien und die politische Führung betrifft: Es ist unbestritten, dass durch die Bombardierungen der von Terroristen belagerten Städte durch die syrische Regierung zahlreiche Zivilisten gestorben sind. Dazu wurde uns erklärt, dass sich die syrische Armee schon allein aufgrund der geringen Mannstärke und der zu erwartenden Verluste einfach keinen Häuserkampf leisten konnte.

Es ist ebenfalls unbestritten, dass die Regierung Assad nicht zimperlich ist, wenn es darum geht, an der Macht zu bleiben. Syrien ist ein Überwachungsstaat, es gibt dort rund 40 Geheimdienste, es kann nicht jeder tun und sagen, was er will, und die Korruption blüht. Es gibt durchaus Kritik an der Regierung, auch das wurde uns gesagt.

Eine halbe Million Menschen sind im Syrienkrieg gestorben; mehr als 5 Millionen sind geflohen; wie viele von ihnen wirklich Syrer sind, sei dahingestellt. Es darf wohl angenommen werden, dass knapp 50 Jahre Assad-Regime in der Bevölkerung nicht annähernd so viel Leid verursacht haben wie diese 7 Jahre Krieg und Terror.

Dass insbesondere die religiösen Minderheiten, darunter die Christen, zur Regierung halten, hat mir bewusst gemacht, dass es nicht nur schwarz und weiss gibt. Wir hier im Westen halten Demokratie und Meinungsfreiheit für das Allergrösste, aber wir sollten uns nicht anmassen zu wissen, was für ein anderes Land am besten ist. Demokratie ist nicht etwas, das man einem Land von aussen überstülpen kann, und eine arabische Gesellschaft funktioniert anders als eine westliche. Hier spielt Religion eine ganz andere Rolle als bei uns, und das hat Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft, die wir nicht verstehen, wenn wir nur lesen, was in der Zeitung steht und in der Tagesschau berichtet wird.

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Wem empfehlen Sie Syrien als Reiseland?

Nebst denjenigen, die sich für die Menschen und für das Leben in Syrien interessieren, kommen wohl vor allem Kulturfreunde auf ihre Kosten: Kirchen und Moscheen, Ausgrabungen, Museen, Altstädte, Märkte.

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Zum jetzigen Zeitpunkt sollte man wohl ein erfahrener Traveller sein, wenn man auf eigene Faust gehen will. Wer Arabisch kann oder einen Dolmetscher dabei hat, ist im Vorteil; es könnte schwierig werden, sich bei Kontrollen verständlich zu machen. Die Bürokratie kostet manchmal Nerven; man sollte es nicht eilig haben.

Was den Komfort betrifft: Wir reisten zwar als Gruppe, aber dennoch unkonventionell, mit einheimischen Bussen und Fahrern, sprich ohne Klimaanlage und Bordtoilette, mit verschlissenen Polstern und Stossdämpfern, die uns in den Sitzen hüpfen liessen. Die Benutzung mancher Toiletten kostete grosse Überwindung, und Plumpsklos sind keine Seltenheit. Wer es immer und überall sauber, ordentlich und pünktlich braucht, reist wohl besser woanders hin.

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Das Programm wurde mehrmals spontan abgeändert und unter anderem der Sicherheitslage angepasst, einzelne Programmpunkte wurden gestrichen, und damit muss man leben können. In den Hotels bemüht man sich sehr, aber manche Prozesse sind etwas eingerostet, und nicht alles klappt auf Anhieb.

Ich empfehle Syrien unkomplizierten Reisenden, die sich für Land und Leute interessieren, die unvoreingenommen und offen sind und nicht in erster Linie erholsame und unbeschwerte Ferien machen wollen, um sich von den Strapazen des Alltags zu erholen.

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Soll man überhaupt nach Syrien reisen, zum jetzigen Zeitpunkt?

Ich finde: Unbedingt, wenn es die Sicherheitslage erlaubt und wenn man die Möglichkeit hat   – gute Vorbereitung, Offenheit und seriöse, erfahrene Reiseleitung vorausgesetzt. Wenn wir vor Ort Solidarität mit den Menschen bekunden und die lokale Wirtschaft unterstützen, hilft ihnen das mehr, als wenn wir unreflektiert Kriegspropaganda und empörte Aufrufe auf Facebook teilen.
Ich werde nie die Freude in den Gesichtern der Menschen vergessen, die uns auf der Strasse winkten und begrüssten; Freude darüber, dass wieder Touristen ins Land kommen und dass sie nicht vergessen wurden.

Herzlichen Dank für das Interview!

Claudia Fahlbuschs Videotagebuch über ihre Syrienreise finden Sie hier, ihre Fotos hier.

Quelle: https://www.rubikon.news/artikel/jenseits-der-propaganda

Mehr zu Claudia Fahlbusch
Ausbildung zur Pflegefachfrau HF Psychiatrie, Sprachdiplome Deutsch und Englisch, 7 Jahre Korrekturlesen in der väterlichen Druckerei, 1996 der Sprung ins kalte Wasser, sprich in die eigene Firma, zunächst im Kollektiv mit «Icebörg» und seit 2010 mit «escribo». https://www.escribo.ch   

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