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«Ich bin kein Theoretiker, aber ich verstehe den Sozialismus ganz anders»  – Erinnerungen an Panaït Istrati

von Moritz Nestor  – 24. Januar 2023  – übernommen von Zeit-Fragen.ch
06. Februar 2023
Den ersten grossen Riss in meinem jugendlichen rosaroten Bild des Sozialismus in der damaligen Sowjetunion erzeugte in den frühen 70er Jahren die Lektüre von Panaït Istratis Russland-Buch «Auf falscher Bahn», das mir mein geschätzter psychologischer Lehrer Friedrich Liebling damals empfahl. Nun erinnerte mich wieder Birgit Schmidt mit ihrem 2019 erschienenen liebenswürdigen Bändchen «Ich bin kein Theoretiker, aber ich verstehe den Sozialismus ganz anders» an das Leben, die Arbeit und die Revolte jenes rumänischen Schriftstellers.

ZF BT Birgit Schmidt Panait Istrati
ISBN 3-86841-216-6

Geboren ist Panaït Istrati am 22. August 1884 in Braila, Rumänien, gestorben am 16. April 1935 in Bukarest. Einer der grossen rumänischen Schriftsteller. Und der erste ausländische europäische Linke, der, begeistert von der jungen Sowjetunion, sogar plant, in das Paradies des «neuen Menschen» überzusiedeln; der dann aber erschüttert ist, als er auf eigene Faust durch dieses schöne Land reist und mit wachem Verstand hinter die Fassaden der von der Partei vorgeführten Potemkinschen Dörfer blickt und plötzlich sieht, welch Elend und knallharte Diktatur wirklich herrschen, die hinter schönen Phrasen verborgen werden.

Istrati ist der erste namhafte ausländische linke Schriftsteller, der aus der Sowjetunion zurückkehrt und im Westen keine Jubelgeschichten veröffentlicht, sondern sich traut, die Wahrheit über den «roten Terror» der Bolschewiki zu schreiben. Er hat teuer dafür bezahlt. Aber mit seinem mutigen Bruch des über der westlichen Linken lastenden Schweigegebots, als linientreuer Linker die Sowjetunion nicht kritisieren zu dürfen, begann jene mühevolle, lange und langsame Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit Michail Gorbatschow und schliesslich Wladimir Putin zum Überwinden der Fehler der Russischen Revolution und des Stalinismus geführt hat.

Angesichts der an Primitivität kaum zu überbietenden aktuellen Verteufelung von Wladimir Putin und Russland in den westlichen Medien sei hier festgehalten: Putin ist Russe, er liebt sein Land und ist für jeden sichtbar kein Bolschewik. Im Gegenteil. Aber er und mit ihm die grosse Mehrheit der Russen werden sich der Diktatur des Finanzkapitals nicht noch ein weiteres Mal unterziehen.

Erste Reise in die Sowjetunion

1927 reist Panaït Istrati gemeinsam mit seinem bulgarischen Freund Christian Rakowski in die Sowjetunion, wohin sie zu den Feiern des 10. Jahrestages der Oktoberrevolution eingeladen sind. Rakowski ist gerade als Botschafter der UdSSR in Paris abberufen worden, da er der trotzkistischen Linksopposition angehört. Noch im selben Jahr wird er aus der KPdSU ausgeschlossen und verbannt, 1941 vom NKWD erschossen. Die kommunistische Partei zeigt Istrati und Rakowski 1927, was man sie sehen lassen will: das Paradies des «neuen Menschen».

Bald nach der Ankunft in der Sowjetunion lernt Istrati Nikos Kazantzakis kennen, den bekanntesten griechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Autor von «Alexis Sorbas» (1946). Die beiden planen, gemeinsam in die UdSSR überzusiedeln. Wie alle anderen europäischen linken Intellektuellen, die das bolschewistische «Arbeiterparadies» nach dem Ersten Weltkrieg besuchen, ist auch Istrati zunächst unkritisch begeistert und schliesst seine Reise mit einem Aufenthalt in Griechenland ab, wo er in feurigen Propagandareden die fortschrittlichen Leistungen der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale preist.

Vollkommen desillusioniert

Eine zweite Reise aber, die über ein Jahr dauert, beginnt im Winter 1928, als Panaït Istrati zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Schweizer Sängerin Marie Louise Baud-Bovy und seinem Freund Nikos Kazantzakis sowie dessen späterer Frau Eleni Samios auf eigene Faust und Kosten, um unabhängig zu sein, erneut in und durch die UdSSR reist. Istrati glüht zu Beginn immer noch für die UdSSR. Sie kommen bis ans Polarmeer, von dort aus an die Moldau, zum Ural und nach Süden bis an den Kaukasus. Auf dieser Reise wird Istrati vollkommen desillusioniert.

Auch Kazantzakis ist nicht mehr begeistert von den Bolschewiki, bleibt aber dem Land gegenüber trotzdem wohlwollend. Istrati aber ist zutiefst enttäuscht und erschüttert über das, was er erlebt hat. Anders als sein Freund Kazantzakis verfasst er eine empörte Abrechnung mit der bolschewistischen Diktatur, die unter dem Titel «Vers l’autre flamme» 1929 erscheint, zu deutsch «Auf falscher Bahn». Darin verurteilt er nun die «rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiter durch eine Bürokratie, die bereit ist, alles zu tun, um ihre Privilegien zu verteidigen».

Kritik an Stalin aus sozialistischer Sicht

Panaït Istrati ist der erste Schriftsteller von Weltrang, «der die Sowjetunion und die KPdSU, die seit 1922 unter dem Einfluss ihres Generalsekretärs Josef Stalin stand, von der Warte eines Sozialisten aus in aller Öffentlichkeit angriff». Vor Istratis Buch hat es von westlichen Intellektuellen «nur wohlwollende oder sogar begeisterte Reiseberichte gegeben, die keinesfalls ausschliesslich von organisierten Kommunisten oder Kommunistinnen stammten», sondern auch zum Beispiel von Humanisten wie dem berühmten Nobelpreisträger Romain Rolland und anderen bekannten Schriftstellern, wie Birgit Schmidt berichtet.

Viele wenden sich von Istrati ab

Schlagartig distanzieren sich nach der Veröffentlichung alle bisherigen Freunde öffentlich von Istrati, vor allem auch sein bisheriger Mentor Romain Rolland, der Panaït Istrati in tiefer menschlicher Not geholfen hat. Es muss ein besonders bitteres Erlebnis gewesen sein, dass einem gerade der Freund, der einem das Leben gerettet hat und der in seinem «-Clérambault» unter dem psychologischen Mikroskop derartige sozialpsychologische Abläufe minutiös beschrieben hat, dennoch zu ebendiesen Reaktionen fähig ist. Ebenso wenden sich Istratis frühere kommunistische Freunde, insbesondere die strammen stalinistischen Intellektuellen der Kommunistischen Partei Frankreichs von ihm ab   – allen voran Henri Barbusse, der Autor von «Das Feuer». Eine Hetzkampagne setzt ein. Istrati wird als «Faschist» öffentlich verleumdet. Von den Trotzkisten, denen er ansonsten fernsteht, wird er hingegen vereinnahmt.

Istratis Russland-Buch erscheint als erster von drei Bänden, die alle unter seinem Namen veröffentlicht werden. Zwei Bände sind nicht von ihm, sondern schützen durch seinen Namen ihre wahren Autoren: Band 2 «Soviets», deutsch «So geht es nicht! Die Sowjets von heute», stammt von Victor Serge. Band 3 mit dem Titel «La Russie nue», «Russland nackt, Zahlen beweisen» schrieb Boris Souvarine, der Autor jener bahnbrechenden Stalin-Biographie von 1935, der die Mythen und Realität des sowjetischen Zwangssystems analysiert als «Negation des Sozialismus und Kommunismus». Sowohl über Serge als auch über Souvarine hängen 1928 schon die Schatten der Vernichtung durch den «roten Terror» der Bolschewiki. Istrati schützt sie durch seine Autorenschaft.

ZF BT Panait Istrati 3 Buecher

Heute seiner gedenken

«Ich gedenke seiner mit Rührung», schreibt Victor Serge, mit dem Istrati lange befreundet war, in seinen Erinnerungen: «Er war noch jung, mager wie die Bergbewohner des Balkans […], ungemein begeistert zu leben! […] Er schrieb, ohne die mindeste Vorstellung von Grammatik und Stil zu haben, aber als geborener Dichter, der mit ganzer Seele von ein paar einfachen Dingen ergriffen war, Abenteuer, Freundschaft, Revolte, Fleisch und Blut. Er war unfähig zu theoretischen Erörterungen und infolgedessen gegen sophistische Fallstricke gefeit. Man sagte zu ihm in meiner Gegenwart: ‹Panaït, man kann keine Omeletten machen, ohne Eier zu zerschlagen. Unsere Revolution … usw.› Er rief: ‹Gut, ich sehe die zerschlagenen Eier. Wo ist eure Omelette?›» (Victor Serge. Beruf Revolutionär. 1901  –1917  –1941. Frankfurt/Main 1967, S. 13)

Schliesslich kehrt Panaït Istrati krank und gebrochen nach Rumänien zurück, wo er 1935 an den Folgen seiner Tuberkulose-Erkrankung stirbt. Russland darf heute seiner gedenken als jenes wunderbaren Schriftstellers, der als einer der ersten im Ausland nicht geschwiegen hat, sondern begonnen hat, die tragischen Irrtümer der Russischen Revolution zu überwinden. Die späten Erfolge konnte er nicht mehr erleben.

Von Alfred Adler stammt die Metapher «Das Auge sieht sich nicht selbst», denn Sehen braucht ein vertrautes Du, das einem die «Augen öffnet». Friedrich Liebling und Panaït Istrati waren jene beiden Augen, die mich damals zum Staunen brachten über mein beschränktes Bild des russischen Sozialismus’. Inwiefern bleibt eigentlich bei vielen von uns heute das eigene lebensgeschichtlich in ehrlichen und schweren Auseinandersetzungen gewonnene Bild von Russland doch noch etwas hinter dem heutigen Stand der Russischen Föderation zurück?   – Belastet von einigen lieb gewordenen Nebelschwaden aus früheren westlich-antikommunistischen, «liberalen» oder anderen liebgewordenen Theorien? 

Zum Autor

Moritz Nestor
Moritz Nestor

Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-2-24-januar-2023/ich-bin-kein-theoretiker-aber-ich-verstehe-den-sozialismus-ganz-anders-erinnerungen-an-panait-istrati

Mit freundlicher Genehmigung von Zeit-Fragen.ch
Hervorhebungen und 'Zum Autor' von seniora.org

 

 

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