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von Friedrich Liebling 1955
27. September 2025

Polybios: Der Krieg ist der Vater aller Dinge


(Red.) Friedrich Liebling   – als Flüchtling in der Schweiz schrieb er damals oft unter dem Pseudonym Polybios*   – war einer der Grossen der Psychologie des letzten Jahrhunderts, der weit über den Tellerrand der althergebrachten Psychologie und Psychiatrie hinausblickte. Auf Sigmund Freud, Alfred Adler und weitere aufbauend beschritt er den naturwissenschaftlichen Weg und überwand den heute noch verheerend wirkenden Vererbungsgedanken im psychischen Bereich. (ww)

Niemand kann bezweifeln, daß der Militarismus im Leben der Völker eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Der Kampf des Menschen gegen den Menschen hat immer wieder die Errungenschaften der Kultur in Frage gestellt und mitunter in kurzer Zeit die Fortschritte von Jahrhunderten rückgängig gemacht. Die kriegerische Lebensweise wirkte verrohend, und die Folge der Kriege war gewöhnlich ein Rückfall in die Barbarei, der sich auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens bemerkbar machte.

Leider war die Menschheit nicht imstande, dieses uralte Übel aus der Welt zu bannen; machtpolitische, wirtschaftliche und soziale Gründe gaben dem Geiste der Gewalt ständig neue Nahrung und führten zu vernichtenden Kriegen, in denen mühsam errungene Kulturgüter bedenkenlos vergeudet wurden. Angesichts der ungeheuren Opfer an Menschen und Material, von denen die Kriegsgeschichte berichtet, erhob sich von Zeit zu Zeit der Mahnruf hochgesinnter Menschen, die das Ideal einer friedlichen Welt proklamierten.

Die Idee eines ewigen Friedens ist vielleicht so alt wie die Menschheit, d. i. ebenso alt wie der Krieg; was die Besten der Zeiten in ihren Ahnungen vorweggenommen haben, ist auch tief in den Wünschen und Hoffnungen der Völker verankert, die sich in ihren Mythen und Sagen eine Aera erträumten, «in der der Wolf neben dem Lamm weidet».

Nur verblendete Menschen, blind von Aggressivität und Menschenverachtung, konnten sich dieser Friedenssehnsucht entziehen und in schamloser Weise vom «Ethos des Krieges» reden. Vor allem die Militärkaste selbst neigte dazu, den Krieg   – die Rechtfertigung ihrer Existenz   – zu verherrlichen; aber auch die herrschenden Schichten, die die eigentlichen Initianten und Nutznießer der kriegerischen Verwicklungen waren, verfochten die Lehre, daß die Gewalt die ultima ratio der Politik sei.

Daher kommt es, daß auch die Völker gegen ihr Lebensinteresse den Krieg idealisierten, und die sogenannten «soldatischen Tugenden» häufig über alles stellten. Man erkennt diese Geistesverwirrung, wenn man etwa einen Brief von Moltke zur Hand nimmt, worin die Mentalität der Militaristen ihren klassischen Ausdruck gefunden hat; in diesem Dokument ist alles enthalten, was die verlogene Philosophie des Militarismus beinhaltet, aber in der Regel nicht mit derart unverholener Deutlichkeit ausspricht. «Der ewige Friede», so schreibt der preußische Heerführer, «ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Muth und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen».

Die Diktatoren unserer Zeit haben diese Apologie der heldischen Lebenshaltung übernommen, und Mussolini schrieb anläßlich eines Aufsatzes über die «Lehre des Faschismus»: «Nur der Krieg bringt alle Kräfte des Menschen zur stärksten Anspannung und adelt die Völker, die die Fähigkeit haben, ihm ins Auge zu sehen».

  – Die blutigen Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart haben uns gelehrt, den «Völkeradel des Krieges» richtiger einzuschätzen, als es die Prediger des Hasses und der Feindseligkeit vermochten. Wir sehen heute klar, daß der Krieg nur Werke der Zerstörung vollbringen kann, und daß wir von ihm niemals unser Heil erwarten dürfen. Die geschichtliche Betrachtung zeigt uns sogar, daß der Niedergang der Kultur immer mit Kriegen verbunden war, und daß mitunter der Militarismus die Hauptursache für die kulturelle Stagnation darstellt. Eine Reihe von historischen Beispielen kann diese These verdeutlichen.

Das Unglück Spartas

Sparta war unzweifelhaft der stärkste Militärstaat der griechischen Antike. Der Grund hierfür liegt nicht in einer besonderen Eigenheit der Spartaner, sondern in den natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie ihr Staatswesen aufbauten.

Als die griechischen Städte im Laufe ihrer Entwicklung übervölkert wurden, halfen sie sich durch Koloniegründungen an den Küsten von Kleinasien, Italien und Sizilien: die Tochterstädte nahmen den Bevölkerungsüberschuß auf und entwickelten blühende Kulturen, die dann auf das Mutterland zurückwirkten. Sie verteidigten das Grenzland gegen die Barbaren, die sie zum Teil unterwarfen oder von ihren angestammten Wohnsitzen verdrängten. Diese Expansion über das Meer hinweg, die z. B. Athen mit besonderem Eifer und Erfolg betrieb, war den Spartanern versagt. Im Tale des Eurotas eingeschlossen, waren sie für die Verlockungen der Schiffahrt nicht anfällig; als ihre Bevölkerung wuchs, wandten sie sich gegen ihre Nachbarn, die ebenfalls hellenischen Messenier, die sie etwa im achten Jahrhundert zu ihren Vasallen machten. Als Griechen waren nun die Messenier gegenüber den Spartanern gleichwertig, und sie reagierten auf die Unterwerfung mit einem Aufstand, der zu einem fürchterlichen Kriege führte, in welchem Sparta beinahe unterlegen wäre.

Vom Zeitpunkt dieser Revolte herrschten die spartanischen Herren mit größter Strenge über ihre messenischen Heloten, und sie mußten ihren ganzen Staat darauf einrichten, ihre Untertanen in Botmäßigkeit zu halten. Ihr Gemeinwesen wurde kriegerisch, und nichts war ihnen so wichtig wie die Kriegstüchtigkeit, von der ihre Existenz abhing. Sie verankerten in ihrer Gesetzgebung das Prinzip, wonach das Militär zum Sinn und Wesen ihres Staates gemacht wurde: der Spartaner war Soldat, und der spartanische Staat bedeutete eine Gemeinschaft von Soldaten. Vom siebenten bis zum sechzigsten Jahre war der Bürger Spartas im Dienste seines Staates tätig; sein Heim war, modern gesprochen, die Kaserne, und die täglichen Waffenübungen waren für ihn Beruf und Lebensaufgabe.

Infolge systematischer Beeinflussung und unermüdlicher körperlicher Ertüchtigung von früher Kindheit an gelang es, einen Menschentypus heranzubilden, der an Härte und Tapferkeit in der damaligen Welt nicht seinesgleichen hatte. Feigheit im Kriege galt den Spartanern als die größte Schande, und es ist uns der Ausspruch einer spartanischen Mutter erhalten, die ihrem in den Krieg ziehenden Sohne sagt, er solle entweder mit dem Schild (d. h. nicht flüchten und den Schild wegwerfen) oder auf dem Schilde (tot) zurückkehren. Aus dieser Geisteshaltung sind die spartanischen Siege wie auch das Ausharren in aussichtsloser Kampfsituation, wie etwa bei den Termopylen, zu verstehen, denn die Regel der Spartaner war nach der Mitteilung eines ihrer Könige: «Im Kampf ist es verboten, sich vor den Feinden zurückzuziehen, wie stark auch diese sein mögen. Die Truppen haben ihre Schlachtordnung zu bewahren und zu siegen oder zu sterben».

Die Vervollkommnung im Kriegshandwerk aber hat ihr Gegenstück in der kulturellen Armut Spartas, die eigenartig von der hohen Blüte des hellenischen Kulturlebens absticht. Die Spartaner haben keine «klassische Kunst» hervorgebracht; ihr gesellschaftliches Leben blieb starr und unmusisch, denn der «Mann in der Rüstung» ist für Kunst und Künstlerschaft unempfänglich. Sparta hat, im Gegensatz zu Athen, keine bleibenden Kulturwerte geschaffen. Sein diktatorisches und militärisches Regime mußte unschöpferisch bleiben. Darüber hinaus wurde es in besonderem Maße mitschuldig am Verfall Griechenlands, denn der Neid Spartas gegenüber Athens Größe führte zum Peloponnesischen Krieg, in dem sich die Griechen untereinander bekämpften.

Als die Spartaner im Jahre 404 über die Athener siegten, erwies sich auch, daß sie   – auf Krieg und Feindseligkeit geschult   – mit anderen Völkerschaften nicht umzugehen wußten; ihre Roheit und Korruption war sprichwörtlich. Sie waren nur erzogen zum Kampfe, und im Frieden verloren sie alle Tugenden, die man ihnen nachrühmte. Darin liegt auch der Grund für Spartas Untergang, der ganz Griechenland mit sich riß. Aristoteles hat in einer allgemeinen Betrachtung hierzu den Kommentar gegeben:

«… Denn kriegerische Staaten bestehen nur so lange, wie sie Krieg führen, und gehen zugrunde, sobald sie aufhören, Eroberungen zu machen. Der Frieden läßt ihr Schwert stumpf werden. Und die Ursache liegt darin, daß die entlassenen Soldaten nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.»

Der assyrische Militarismus

Unter den kleinasiatischen Staaten des Altertums ragten die Assyrer als besonders kriegstüchtig hervor. Ihre Hauptstadt Ninive, am Tigris gelegen, muß etwa zweitausend Jahre v. Chr. gegründet worden sein. Von diesem Stammland aus begannen assyrische Könige früh, ihr Reich in alle Richtungen hin auszudehnen, wodurch vor allem heftige Kämpfe gegen die Babylonier ausgelöst wurden. Im 9. und 8. Jahrhundert vor Christus entfaltete sich die assyrische Macht bis zu ihren Höhepunkten, und unter den kriegerischen Königen Assurbanipal, Salmanassar und Tiglatpileser III. wurde Assur zu einer Weltmacht, die ringsum von Vasallen umgeben war.

Aber diese Größe, durch Gewalt errungen, hielt nicht lange vor: das Reich, das durch den Krieg mächtig geworden war, ging auch durch Kriege zugrunde. Noch zur Zeit des Königs Assurbanipal (669—626 v. Chr.) schien Assurs Macht festgegründet; sein Heer war sowohl an Rüstung als auch an Kriegskunst schier unübertrefflich, so daß man hätte meinen müssen, das von ihm bewachte Staatswesen sei für immer gesichert. Und doch wurde Assur zerstört, und der Grund hierfür ist nicht nur in äußerer Bedrohung gegeben, sondern hauptsächlich im Militarismus der Assyrer selbst, der sich in unzähligen Kriegen zersplitterte und sich mit jedem neuen Sieg einen neuen Feind schuf. So z. B. führte die Ausdehnung des Reiches die assyrischen Heerscharen bis nach Ägypten, und wenn es ihnen auch gelang, den Pharaonenstaat zu besiegen, mußten sie doch ungeheure Kräfte für ein Land verschwenden, das sie auf die Dauer nicht zu halten vermochten.

Ähnlich war es mit Babylon, das sich nach der Unterwerfung durch die Assyrer zu immer neuen Aufständen erhob und stets zu kriegerischen Verwicklungen führte. Der Haß der Babylonier vereinigte zahlreiche assyrische Untertanen unter den Waffen. Unter Nabopolassar wandten sich die Babylonier mit Hilfe der Meder gegen Assur, und im Krieg von 614—610 löschten sie das Staatswesen aus, das zu den mächtigsten seiner Zeit gehörte. Assyrien hatte im Laufe seiner Geschichte viele Städte vernichtet und die Bevölkerung gefangen hinweggeführt. Dieses Schicksal, das es anderen bereitet hatte, wurde ihm selber auch zuteil; die Hauptstadt Ninive wurde von den Feinden eingenommen, und der Groll, der sich in Jahrhunderten aufgespeichert hatte, ergoß sich über die Stadt am Tigris mit einer derart vernichtenden Gewalt, daß Assyrien sich nicht mehr davon erholen konnte. Der Sieg seiner Gegner schloß die Annalen seiner Geschichte, die sich auf dem Schwert begründete und folgerichtig auch durch das Schwert beendet wurde. Assur ist ein Musterbeispiel vom selbstmörderischen Charakter des Militarismus.

Timur der Lahme

Als asiatischer Kriegsherr hat sich Timur-Lenk (1333 - 1405) im Gedächtnis der Völker als eines der schauerlichsten Exemplare des kriegerischen Menschentypus bewahrt. Von seiner Hauptstadt Samarkand aus unternahm er im Laufe von etwa zwanzig Jahren Dutzende von Feldzügen, in denen er die Flamme des Krieges über beinahe den gesamten asiatischen Kontinent verbreitete. Seine siegreichen Heere unterwarfen zuerst Persien, dann Georgien; 1394 drang Timur bis nach Moskau vor, zertrümmerte alle Reiche Mittelasiens und eroberte Hindostan vom Indus bis zur Gangesmündung. Im Jahre 1400 schlug er bei Cäsarea ein türkisches Heer, unterjochte Damaskus, Bagdad und Syrien, besiegte in einer Riesenschlacht bei Angora noch einmal die Türken und wandte sich schließlich nach China, das er zweifelsohne auch noch erobert hätte, wenn er nicht auf diesem Feldzug gestorben wäre.

Betrachtet man die «ruhmreichen Kriegstaten», mit denen er sein Leben ausgefüllt hatte, so muten Timurs Handlungen wie ein Amoklauf an, in dem ein Wahnwitziger über andere Menschen herfällt, um sie zu töten oder zu vernichten. Sein Name ist im Buche der Geschichte eingeschrieben als der eines Mörders, der den Menschen ein Schicksal von Blut und Tränen bereitete. Kein bleibendes Gut hinterließ er, und das Riesenreich, das er in wenigen Jahren errichtet hatte, zerfiel ebenso schnell, wie es aufgebaut worden war. Seine Greueltaten haben mehr Menschenopfer gefordert als einige Jahrhunderte «normaler Kriegsgeschichte», und das Abschlachten ganzer Völker war sinnlos, wie der Geist des Krieges und der Gewalt überhaupt. «Wir denken an das Ungeheuer», schreibt Toynbee über Timur, «das 1381 Asfarein dem Boden gleichmachte; 1383 in Sesbar aus zweitausend Gefangenen einen lebenden Damm baute und dann übermauerte; im gleichen Jahr in Siri fünftausend Menschenköpfe zu Minaretten auftürmte; 1386 seine luristanischen Gefangenen lebendig in Abgründe stürzte; 1387 in Isphahan siebzigtausend Menschen abschlachtete und ihre Köpfe zu Minaretten aufschichtete; 1393 die Besatzung von Takrit niedermetzelte und aus den Köpfen Minarette errichtete; 1398 in Delhi hunderttausend Gefangene umbrachte; 1400 die viertausend christlichen Soldaten der Besatzung von Siwas, die sich ergeben hatten, lebendig begrub; 1400 und 1401 in Syrien zwanzig Türme aus Schädeln bauen ließ und 1401 mit Bagdad verfuhr, wie vierzehn Jahre früher mit Isphahan.»

Wenn es irgend ein Beispiel für den sinnlosen Größenwahn jener Menschenschlächter gibt, die durch den Militarismus zum Ruhm gelangten, so ist dies neben Alexander, Cäsar und Napoleon sicherlich Timur der Lahme, dessen blutige Taten ebenso sinnlos sind wie die Schreie eines Wahnsinnigen, welche im Winde verhallen.

Aufstieg und Fall des römischen Reiches

Durch Krieg gelangte Rom auf den Gipfel seiner Macht, und durch Krieg wurde es auch vernichtet.

Anläßlich der großen Kämpfe mit den Puniern und vor allem gegen Hannibal lernten die Römer, ihre Kriegskunst über alles zu stellen: das Heer, das über die Karthager gesiegt hatte, bekam eine derartige Durchschlagskraft, daß sich ihm in der damaligen Welt nichts entgegenzustellen vermochte. Von da an datieren die Eroberungen, die Roms Weltherrschaft begründeten. Außer ganz Italien eroberten die römischen Legionen in kurzer Zeit Sizilien, Sardinien, Spanien, Afrika, Mazedonien, Griechenland und Kleinasien; später drangen sie unter Cäsar und anderen nach Frankreich, England, Deutschland und den Balkan vor und pflanzten ihre Feldzeichen an der Donau, am Rhein und an der Themse auf.

Dieses gewaltige Staatswesen, dessen Rückgrat das römische Militär war, überlebte einige hundert Jahre und erwies sich infolge römischer Staatskunst als dauerhafter denn viele seiner Rivalen.

Der Preis aber, der für diese Kriegstüchtigkeit und Stärke gegen außen bezahlt wurde, war sehr hoch. Die Geschichtsschreibung schildert uns, wie die herrschende Klasse Roms die italienischen Bauern von ihren Ländereien vertrieb, um sie mobilisieren zu können. Schon um Hundert vor Christus hatte dieser Zustand derartige Formen angenommen, daß mit der italienischen Landwirtschaft der ganze Römerstaat bedroht wurde.

Daraus erwuchs der Reformversuch des Tiberius Gracchus, der die Reichtümer Roms dem gesamten Volke zugute kommen lassen wollte. «Die wilden Tiere», so heißt es, «die durch Italien schweifen, haben eine Grube, und jedes von ihnen hat sein Lager und sein Nest, aber die Männer, welche für Italien kämpfen und sterben, haben an nichts Anteil als an der Luft und am Licht der Sonne… Nur damit andere im Reichtum und Überfluß leben können, ziehen sie in den Krieg und opfern sie ihr Leben. Man nennt sie die Herren der Welt, und doch haben sie nicht ein einziges Stückchen Erde, das sie ihr eigen nennen könnten.» Dieser Appell des Gracchus, einer räuberischen Oberkaste entgegengehalten, blieb ungehört, und der hochherzige Reformer wurde von seinen Feinden getötet.

Indem Rom seinen militärischen Errungenschaften keine sozialen Fortschritte beifügte, schuf es innere Übelstände, an denen der von ihnen behaftete Gesellschaftskörper zugrundegehen sollte. Als Augustus starb und seinen Nachfolgern den römischen Universalstaat hinterließ, gab er ihnen den mäßigenden Rat, ihre Grenzen nicht mehr auszuweiten; aber das Reich hatte in diesem Zeitpunkt bereits Dimensionen angenommen, die nicht mehr übersehbar waren, so daß der Ansturm der Barbaren in der Völkerwanderung nirgends ein ernstliches Hindernis vorfand.

In einer Periode der Wirren, die etwa das fünfte Jahrhundert nach Christus ausfüllt, brach das Gebäude zusammen, an dem römische Staatsmänner und Feldherren über ein Jahrtausend lang gebaut hatten: Roms Zeit war zu Ende, als die Hand, die die Waffe trug, erschlaffte und durch eine stärkere überwältigt wurde.

Krieg und Kultur

Ähnlich wie die Kriege des Altertums sind auch diejenigen des Mittelalters und der Neuzeit durch Machtgier und Eroberungslust der herrschenden Kasten ausgelöst worden; die Willkür der Könige und ihres militärischen Adels hat den kriegerischen Geist gezüchtet und die Völker ins Verderben geführt.

Ein weiteres Moment war die Gegensätzlichkeit des religiösen Bekenntnisses, wobei die Menschen   – von ihrem jeweiligen Klerus aufgehetzt   – sich gegen andere wandten, deren größtes Laster der Glaube an eine andere Gottheit war.

Könige und Klerus haben mörderische Kriege auf ihrem Gewissen, und die Religion, die die Liebe zu den Menschen verkündet, war zumeist ein Instrument des Hasses und der Überheblichkeit, das die Abgründe zwischen den Einzelnen und den Völkern aufriß.

In den letzten Jahrhunderten verblaßte die monarchische Macht gegenüber derjenigen des Bürgertums, das durch Handel und Industrie zur dominierenden Gesellschaftsschicht wurde. Das Primat der Wirtschaft schuf den Typus des Wirtschaftskrieges, in dem neben Macht und Herrschgier vor allem auch das wirtschaftliche Interesse nach Absatzmärkten und Rohstoffgebieten ausschlaggebend ist. Ein zahlenmäßig geringer Teil der Gesellschaft, der die maßgeblichen Positionen in Politik, Handel und Militär besetzt hält, treibt unter nationalistischen und chauvinistischen Vorspiegelungen die Völker zum Krieg, und bereichert sich an den kriegerischen Auseinandersetzungen, die im Zeitalter der hochentwickelten Technik immer verderblichere Ausmaße angenommen haben.

Die Frage des Krieges aber ist eine allgemeine Kulturfrage, die uns daran erinnert, daß unsere gesamte Kultur vom Prinzip der Gewalttätigkeit durchdrungen ist, und deshalb immer wieder auch auf den Irrtum verfällt, völkische Probleme durch die Methode der Gewalt, d. i. den Krieg lösen zu können. Im Aufbau der Gesellschaft, in Staat, Wirtschaft, Beziehung der Geschlechter untereinander, Kindererziehung usw. zeigt sich der autoritäre Charakter unserer Kultur, die überall die Macht über die menschliche Solidarität und das Gemeinschaftsgefühl stellt.

Seit Jahrtausenden arbeiten die ethischen Führer der Menschheit daran, den Irrtum der Herrschsucht aufzuweisen und an seiner Stelle jene «absolute Wahrheit» zu verkünden, wonach die Menschen zusammengehören und unter dem Gesetz stehen, zusammenzuwirken und einander die Hände zu reichen. Die Vorrechte der Regierenden und die Verblendung der Regierten ermöglicht aber ständig Rückfälle in die kriegerische Gesinnung, die im Leben des Einzelnen wie der Völker unsägliches Leiden verursacht.

«Das Erdreich ordnen wollen mit Gewalt», sagt Lao-tse, «mißlingt, wie die Erfahrung zeigt»   – und dennoch wird gegen alle Vernunft immer wieder der Versuch unternommen, der von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Wir wissen heute, daß der Krieg ein Verhängnis ist, und wir wissen auch, daß seine Ursache nicht in der «menschlichen Natur», sondern in der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit unserer Sozialordnung begründet ist.

Dieser Umstand jedoch darf uns nicht vergessen machen, daß die Geschichte ein Werk des Menschen ist, und daß man den Menschen ändern muß, wenn man die Welt ändern will. Demgemäß sind Aufklärung und Erziehung die wichtigsten Maßnahmen, die gegen den Krieg ergriffen werden können: die autoritäre Erziehung der Vergangenheit schuf den kriegerischen Menschentypus, der nicht nur imstande war, den Mitmenschen auf Geheiß seiner Obrigkeit zu töten, sondern auch in seiner sonstigen Lebensführung nur die Kategorien «Herrschen» und «Dienen» kannte. Kein Wunder, daß diese Art Mensch   – die die Geschichte des Abendlandes «gemacht» hat   – weder die sozialen Probleme lösen, noch den Krieg aus der Welt schaffen konnte.

Religiöse und nationale Ideologien, Privilegien im gesellschaftlichen Leben usw. hindern die Menschen daran, die Einheit des Menschengeschlechtes zu begreifen; so wird Zwietracht unter denen gesät, die darauf angewiesen wären, sich gemeinsam gegen die Naturgewalten zu wenden und allen Menschen auf dieser Erde ein erträgliches Dasein zu sichern.

Noch können wir heute nicht sagen, wann sich das Menschheitsgewissen, dessen Mahnruf durch die Jahrhunderte geht, endgültig Gehör verschaffen wird. Aber wir zweifeln nicht daran, daß an der Frage, ob sich die Menschen in weit höherem Maße als bis anhin zur allmenschlichen Solidarität bekennen werden, der Bestand des Menschengeschlechtes hängt. 


Warum wählte Friedrich Liebling »Polybios« zu seinem Pseudonym?


*Polybios war ein alt-griechischer Historiker um 200 v. Chr.  Er verfasste die Historien, eine Universalgeschichte in 40 Büchern für die Zeit von 264 bis 146 v. Christus.   Es ging ihm um die Einsicht in Ursachen und Zusammenhänge. Als Historiker entwickelte er Standards für die pragmatische Geschichtsschreibung (pragmatike historia). Diese zielt auf eine Belehrung durch Präsentation von Tatsachen und Verhalten. Quelle: https://www.frag-machiavelli.de/polybios/ 


  • Quelle: Autor: Polybios Zeitschrift: Befreiung Band (Jahr): 3 (1955) Heft 1