… weil die Demokratie zur Menschenwürde gehört

von Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer in Deutschland. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde.
23. März 2017

Schon seit geraumer Zeit ist die Demokratie zahlreichen Angriffen ausgesetzt. Die Abstimmungen der Franzosen und der Niederländer über den Verfassungsvertrag der Europäischen Union im Jahr 2005, die Abstimmung der Griechen über die Maßnahmen der Europäischen Union im Jahr 2015, der Umgang mit Wahlergebnissen wie dem in den USA   – es gibt politische Kräfte, die all dies und noch viel mehr nicht akzeptieren wollten und wollen und alles daran gesetzt haben und daran setzen, den Mehrheitswillen der jeweiligen Bürgerschaft aus den Angeln zu heben. Sie nutzen dazu alle ihre Mittel und haben dabei wohl keinerlei Skrupel. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass diejenigen, die derzeit in vielen Staaten des Westens noch die «Machthaber» sind, ihre Macht immer weniger als geliehene Macht auf Zeit im Dienste des Gemeinwohls verstehen, sondern immer mehr als quasi absolutistische Macht zur Durchsetzung von Minderheitsinteressen. Die Französin Natacha Polony aus Frankreich hat dies (nicht nur) für ihr Land eindrucksvoll dargelegt und spricht von einem sich ausbreitenden Soft-Totalitarismus (vgl. Zeit-Fragen, Nr. 2, vom 17. Januar 2017).

Kritik an der Demokratie

Und wie verhält sich die veröffentlichte Meinung? Viele Mainstream-Medien munitionieren den Weg der politischen Eliten. Insbesondere der direkten Demokratie wird unterstellt   – leider mancherorts auch in der Schweiz   –, sie sei eine Gefahr für Recht und Freiheit, gebe dumpfen Stimmungen zuviel Gewicht und sei ein Einfallstor für Volksverführer. Manche sprechen sogar davon, dass Mehrheitsentscheidungen der Bürger in eine Tyrannei münden können. Bemerkenswert ist indes, was unter der Oberfläche solcher Behauptungen hervorscheint: das Streben nach einer «Eliten-Herrschaft   – nichts Neues in der Geschichte, aber in der Geschichte in der Regel mit fatalen Folgen für Staaten und Völker.

In Zeit-Fragen, Nr. 6, vom 14. März 2017 zitierte Werner Wüthrich aus einer Rede des ehemaligen Rektors der Universität Zürich, Zaccaria Giacometti: «Das Volk muss für die freiheitliche Demokratie vorbereitet, politisch reif sein. Ein Volk erscheint für echte Demokratie reif, wenn es gewisse Voraussetzungen erfüllt.» Dann listet der Artikel Giacomettis «Voraussetzungen» auf:

Voraussetzungen der Demokratie

«Freiheitsidee: ‹Erstens muss die Freiheitsidee im Individuum und im Volk lebendig und das rechtsstaatliche Naturrecht zwar nicht als Recht, aber als ethische Kraft wirksam sein.›

Politische Überzeugung: ‹Es müssen freiheitliche Wertvorstellungen herrschen, aber nicht als vom Augenblick geborene euphoristische Stimmungen oder opportunistische Eingebungen, sondern als tiefe politische Überzeugungen, die das Bewusstsein des Volkes dauernd beherrschen und von den treibenden Kräften des politischen Lebens getragen werden. ›

Geschichtliches Bewusstsein: ‹Das Volk muss eine freiheitliche Tradition besitzen. Seine freiheitlichen Überzeugungen müssen in einer solchen Tradition wurzeln. Tradition ist aber geschichtliches Bewusstsein, und freiheitliche Tradition infolgedessen freiheitliches historisches Bewusstsein. Ein solches geschichtliches Bewusstsein besitzt aber die Demokratie in dem Falle, dass eine freiheitliche Vergangenheit auf sie nachwirkt, dass also die vorausgegangene Generation der lebenden Generation einen Schatz an freiheitlichen politischen Vorstellungen, Anschauungen und Erfahrungen überliefert hat. […] Es gilt auch hier das Dichterwort: Was du von deinem Vater ererbt hast, erwirb es, um es zu besitzen.›

Politische Erziehung: ‹Die lebende Generation muss sich diesen ererbten Schatz an freiheitlichen politischen Einsichten und an freiheitlichen politischen Erfahrungen aneignen, ja erkämpfen durch entsprechende politische Erziehung, Erprobung und Bewährung als Verfassungsgeber und als einfacher Gesetzgeber einer echten Demokratie.›»

Würden wir diese Ausführungen aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ernst nehmen, dann müssten wir heute sagen: Davon sind wir (in allen Ländern) mehr oder weniger weit entfernt. Haben die heutigen Kritiker der Demokratie also doch recht? Sind die Menschen wirklich noch (oder schon) reif für die Demokratie?

Voraussetzungen schaffen statt Demokratie kritisieren

Aber diese Frage geht in die falsche Richtung. Die Tatsache, dass Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, dass eine Demokratie leben kann, kann bei allen, die Demokratie wollen, doch nur heißen, alles daran zu setzen, dass diese Voraussetzungen geschaffen werden   – sofern sie noch nicht vorhanden sind.

Aber genau das Gegenteil geschieht   – und zwar von klein auf. Das, was heute in vielen Familien geschieht, was in vielen Kindergärten, an vielen unserer Schulen und Hochschulen zu beobachten ist, ist nicht dazu angetan, unsere Kinder und Jugendlichen zu mündigen Staatsbürgern werden zu lassen, die eine Demokratie mit Leben füllen können. Ganz im Gegenteil!

Nicht besser sieht es mit der Einladung zur Demokratie an unsere erwachsenen Mitbürger aus. Das, was in vielen unserer Medien zu sehen, zu hören und zu lesen ist, ist kaum ein Beitrag zur Förderung demokratischen Denkens und demokratischen Lebens. Auch das Verhalten von vielen aus unseren «Eliten» geht in eine andere Richtung   – mögen Sie auch immer wieder das Wort Demokratie in den Mund nehmen.

Wozu wird die Demokratie kritisiert?

Also stellt sich die Frage, ob nicht diejenigen, die die Demokratie kritisieren, etwas ganz anderes wollen … und warum sie etwas anderes wollen.

Nicht grundsätzlich: Denn wenn Mehrheitsentscheidungen in ihrem Sinne sind, werden sie sehr wohl begrüßt. Jeder konnte dies nach den Wahlen in den Niederlanden miterleben. Der neue SPD-Kanzlerkandidat erzielte bei seiner Wahl zum Parteivorsitzenden sogar 100 Prozent der Stimmen. Solch ein Ergebnis hatte es in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis dahin noch nie gegeben. Die meisten Kommentare am Tag danach waren eher euphorisch als kritisch. Und nicht viel anders wäre es gewesen, wenn Hillary Clinton gewählt worden wäre, wenn die Griechen den von der EU vorgesehenen drastischen Einschnitten in ihr tägliches Leben und die Souveränität ihres Landes zugestimmt hätten und wenn die Mehrheit der Franzosen und Niederländer 2005 mit deutlicher Mehrheit für den EU-Verfassungsvertrag votiert hätte.

Gegen gesteuerte Demokratie, Change Management und Zukunftswerkstatt …

Man kann auch sagen: Eine «gesteuerte» Demokratie im Sinne eines nationalen und internationalen «Change Managements» oder einer nationalen und internationalen «Zukunftswerkstatt»   – mit guten Steuerungsgruppen, die erfolgreich am Werk sind   – wäre ganz im Sinne derjenigen, die die Demokratie kritisieren. Kritisieren tun sie vor allem, wenn die Ergebnisse ihnen nicht passen und wenn es wirklich um freie Entscheidungen eigenständiger, am Gemeinwohl interessierter Bürgerinnen und Bürger geht.

Fazit: Jeder ist gut beraten, ein kritisches Auge auf die Kritiker der Demokratie zu richten. Alle sind aufgerufen, dabei mitzuhelfen, die Voraussetzungen dafür, dass eine Demokratie leben und gelingen kann, zu erhalten, zu erneuern oder zu schaffen.

… statt dessen Sachthemen wieder ehrlich und sachkundig diskutieren

Dazu gehört es ganz wesentlich, dabei mitzuhelfen, dass die wirklichen Sachthemen wieder ehrlich und sachkundig diskutiert werden. Es gibt genug davon: Wie sind die Kriege auf dieser Welt zu beenden? Wie kann denen geholfen werden, die in existentieller Not sind, sei es wegen Gewalt, Hunger oder anderen schwerwiegenden Notlagen? Wie kann die aus dem Ruder gelaufene Weltfinanz- und Weltwirtschaftsordnung wieder auf ein solides Fundament gestellt werden? Wie kommen mehr Menschen zu einer sinnvollen Beschäftigung? Wie kann erreicht werden, dass den Familien wieder die Wertschätzung und die Unterstützung zuteil werden, die ihrer Bedeutung für unser Zusammenleben gemäß sind? Wie kann es gelingen, dass unsere Kinder und Jugendlichen zu lebensfrohen, lebensmutigen und lebenstüchtigen Menschen erzogen und gebildet werden? Wie kann mehr Verbundenheit zwischen den Menschen entstehen? Wie gewinnen wir alle wieder einen sicheren ethischen Boden unter unseren Füßen, der auch unser tägliches Handeln prägen kann? Und so weiter und so fort.

Menschenwürde und Demokratie

In einem Kommentar aus dem Jahr 1983 zum deutschen Grundgesetz ist über die Menschenwürde zu lesen: «Die Personenwürde besteht darin, dass der Mensch als geistig-sittliches Wesen darauf angelegt ist, in Freiheit und Selbstbewusstsein sich selbst zu bestimmen und in der Umwelt auszuwirken. […] Um seiner Würde willen muss dem Menschen eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden. Für den politisch-sozialen Bereich bedeutet das: der Einzelne soll in möglichst weitem Umfange an den Entscheidungen der Gesamtheit mitwirken.» Auch deshalb ist der Einsatz für die Demokratie so existentiell.

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