Konferenz der Vereinten Nationen zur Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise 2009

29. März 2013

Konferenz der Vereinten Nationen zur Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise 2009

«We have an historic opportunity —and a collective responsibility— to bring new stability and sustainability to the international economic financial order.»

von Miguel d'Escoto Brockmann, President, 63rd Session of the General Assembly

descoto brockman

Ansprache zur Eröffnung der Konferenz in New York, 24. bis 30. Juni 2009, von H.E. Miguel D’Escoto Brockmann, Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen

Verehrte Präsidenten, Premierminister, Aussenminister, Exzellenzen, Herr Generalsekretär, Brüder und Schwestern

Wir, die Vertreter von Staaten und Regierungen der Welt, kommen hier bei den Vereinten Nationen zusammen, weil wir einen aussergewöhnlichen Zeitpunkt der Geschichte durchleben, in dem unsere gemeinsame Zukunft auf dem Spiel steht. Wir sind Bürger verschiedener Nationen, und gleichzeitig sind wir Bürger des Planeten; wir alle haben mannigfache und voneinander abhängige Beziehungen zueinander.

Die Arche Noah, die uns alle rettet

In diesem kritischen Moment müssen wir all unsere Anstrengungen vereinen, um zu verhindern, dass die globale Krise mit ihren unzähligen Gesichtern zu einer sozialen, ökologischen und humanitären Tragödie wird. Die Herausforderungen der verschiedenen Krisen sind alle miteinander verbunden und verpflichten uns alle als Vertreter der Völker der Erde, unsere Verantwortung füreinander kundzutun, in der grossen Hoffnung, Lösungen für alle zu finden. Welcher Ort wäre besser dazu geeignet, als dieser Saal der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Dies ist der Saal der Demokratie, die alle einschliesst par excellence, der Hauptsitz der G 192. Selbstverständlich hat jeder Staat die Möglichkeit, den Grad seiner Beteiligung so zu bestimmen, wie es der Bedeutung, die er dem Thema jeder Versammlung zumisst, entspricht.

Es wäre weder human noch verantwortungsbewusst, eine Arche Noah einzig zur Rettung des bestehenden Wirtschaftssystems zu bauen und die überwiegende Mehrheit der Menschheit ihrem Schicksal zu überlassen und sie die negativen Auswirkungen eines Systems erleiden zu lassen, das eine verantwortungslose, aber mächtige Minderheit aufzwang. Wir müssen Entscheidungen treffen, die uns alle im grösstmöglichen Ausmass gemeinsam betreffen, dazu gehört die Gemeinschaft allen Lebens und unser gemeinsames Heim, Mutter Erde.

Die Vergangenheit überwinden und die Zukunft aufbauen

Vor allem anderen müssen wir eine bedrückende Vergangenheit überwinden und eine hoffnungsvolle Zukunft aufbauen. Dazu müssen wir eingestehen, dass die Finanzkrise das Endergebnis einer egoistischen und verantwortungslosen Art des Lebens, Produzierens, Konsumierens und Aufbaus der Beziehungen untereinander und zur Natur ist, die systematische Aggression gegen die Erde und ihre Ökosysteme und ein tiefgreifendes soziales Ungleichgewicht mit sich brachte   – ein analytischer Begriff, der eine perverse weltweite soziale Ungerechtigkeit verdeckt. Meiner Meinung nach haben wir die äusserste Grenze erreicht. Es scheint, dass wir am Ende des bisherigen Weges angelangt sind, sollten wir auf diesem Wege weiterfahren, könnte uns dasselbe Schicksal ereilen, das schon den Dinosauriern widerfahren ist.

Deshalb sind Kontrollen und Korrekturen am bestehenden Modell, obwohl zweifellos notwendig, mittel- und langfristig unzureichend. Deren inhärente Fähigkeit zur Bewältigung der globalen Krise hat sich als zu schwach erwiesen. Bei Kontrollen und Korrekturen des Modells stehenzubleiben wäre Zeugnis eines grausamen Mangels an sozialer Sensibilität, Vorstellungskraft und Engagement zur Bildung eines gerechten und dauerhaften Friedens.

Egoismus und Gier können nicht korrigiert werden. Sie müssen durch Solidarität ersetzt werden, was ganz offensichtlich einen radikalen Wandel mit einschliesst. Wenn wir wirklich einen stabilen und dauerhaften Frieden wollen, muss absolut klar sein, dass wir über Kontrollen und Korrekturen des bestehenden Systems hinausgehen müssen, um etwas zu schaffen, das ein neues Paradigma sozialer Koexistenz anstrebt.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es wesentlich, sich um das zu bemühen, was die Erd-Charta einen «nachhaltigen Lebensstil» nennt. Dazu gehört eine von allen geteilte Vorstellung der Werte und Prinzipien, die eine bestimmt Art, diese Erde zu bewohnen, fördert und das Wohlergehen aller gegenwärtigen und zukünftigen Generationen garantiert. So gross die Gefahr, der wir angesichts der Konvergenz dieser verschiedenen Probleme gegenüberstehen, auch ist, noch grösser ist die Chance zur Erkenntnis des Heils, zu der uns die weltweite Krise verhilft oder zwingt. Wir haben eine globalisierte Wirtschaft konstruiert. Jetzt ist es Zeit, eine globalisierte Politik und Ethik zu schaffen, die auf den vielen kulturellen Erfahrungen und Traditionen unserer Völker gründet.

Mutter Erde und globale Ethik

Eine neue Ethik setzt eine neue Betrachtungsweise voraus. Mit anderen Worten: Eine andere Sicht der Welt schafft eine andere Ethik, eine neue Art, wie wir uns aufeinander beziehen.

Wir müssen den Standpunkt, der sich aus den sogenannten Erdwissenschaften ergibt, integrieren, wonach die Erde Teil eines unermesslichen, komplexen und sich ständig entwickelnden Kosmos ist. Diese Mutter Erde, um den Begriff wieder aufzunehmen, dem die Generalversammlung am vergangenen 22. April zugestimmt hat, ist lebendig. Mutter Erde reguliert sich selber und hält das subtile Gleichgewicht zwischen Physik, Chemie und Biologie in einer Weise aufrecht, die immer das Leben begünstigt. Sie brachte eine einzigartige Gemeinschaft von Leben hervor, aus der die Gemeinschaft des menschlichen Lebens   – die Menschheit   – als der bewusste und intelligente Teil der Erde selbst hervorgegangen ist.

Dieses zeitgenössische Konzept steht mit der altüberlieferten Vorstellung der Menschheit und der eingeborenen Völker in Übereinstimmung, für welche die Erde immer verehrt wurde als Mutter, als Magna Mater, Inana, Tonantzin, wie sie die Náhuati meines Landes Nicaragua nennen, oder Pacha Mama, wie die Aymaras in Bolivien sie bezeichnen.

Das Bewusstsein nimmt zu, dass wir alle Söhne und Töchter der Erde sind und zu ihr gehören. Wie Präsident Evo Morales uns immer wieder erinnert hat, kann sie ohne uns leben, aber wir nicht ohne sie. Unsere Mission als menschliche Wesen ist es, Hüter und Beschützer der Lebenskraft und Unversehrtheit von Mutter Erde zu sein. Auf Grund unseres übermässigen Konsums und unserer Verschwendungssucht hat die Erde ihre Kapazität, die Güter und Dienste, die sie uns grosszügig bietet, zu ersetzen, leider zu 40 Prozent überschritten.

Diese Sicht der lebenden Erde wird von den Astronauten bestätigt, die aus ihrem Raumschiff staunend erkennen, dass Erde und Menschheit eine einzigartige Wirklichkeit darstellen. Sie haben das erlebt, was man den Overview-Effekt nennt, die Erkenntnis, dass wir mit der Erde so vereinigt sind, dass wir die Erde sind: die Erde, die fühlt, denkt, liebt und verehrt.

Diese Perspektive führt zu Respekt, Ehrfurcht und einem Sinn für Verantwortung und Sorge für unser gemeinsames Heim, Haltungen, die angesichts der gegenwärtigen Schädigung der Natur äusserst dringend sind. Aus dieser Perspektive wird eine neue Ethik geboren. Eine neue Form des Umgangs mit all jenen, die in unserer menschlichen Bleibe leben, und mit der Natur, die uns umgibt. Heute ist Ethik entweder global, oder es ist keine Ethik.

Axiome einer Ethik des Gemeinwohls

Die erste Bejahung dieser globalen Ethik besteht darin, das Gemeinwohl der Erde und der Menschheit zu erklären und zu wahren. Wir beginnen mit der Voraussetzung, dass die Gemeinschaft der Völker eine Gemeinschaft gemeinsamer Güter ist. Diese können von niemandem privat in Besitz genommen werden und müssen dem Leben aller, der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen und der Gemeinschaft aller Lebewesen, dienen.

Das Gemeinwohl der Menschheit und der Erde ist durch Universalität und Freiheit charakterisiert. Das heisst, es muss alle Menschen, Völker und die Gemeinschaft allen Lebens umfassen. Niemand und nichts kann von diesem globalen Gemeinwohl ausgeschlossen werden. Auf Grund seiner Natur steht es zudem allen frei zur Verfügung und kann daher weder gekauft noch verkauft werden oder Gegenstand des Wettbewerbs sein. Ausserdem muss es allen ständig verfügbar sein, sonst wäre das Gemeinwohl kein gemeinsames mehr.

Welches sind die grundlegenden Güter, welche das Gemeingut der Menschheit und der Erde bilden?
Das erste ist zweifellos die Erde selbst.

Wem gehört die Erde?

Die Erde gehört nicht den Mächtigen, die sich die Güter und Dienstleistungen aneignen, sondern allen Ökosystemen, die das Ganze ausmachen. Sie ist eine Gabe des Universums, hervorgegangen aus der Milchstrasse von einer längst vergangenen Ursonne, von der auch unsere Sonne abstammt, um welche die Erde als einer ihrer Planeten kreist. Auf Grund der Tatsache, dass sie lebendig ist und alle Lebewesen hervorgebracht hat, hat sie Würde (dignitas terrae). Diese Würde verlangt Respekt und Ehrerbietung und verleiht ihr Recht: das Recht, gepflegt zu werden, geschützt und in einem Zustand erhalten zu werden, in dem sie in der Lage ist, Leben hervorzubringen und fortzupflanzen.

Nach wie vor müssen wir einsehen, dass die globalisierten Produktionsmittel in ihrer industriellen Gefrässigkeit die Erde in grossem Ausmass zerstört und damit auch dem Gemeinwohl von Erde und Menschheit Schaden zugefügt haben. Wir müssen dringend andere Wege suchen, die menschlicher und dem Leben wohlgesonnener sind: die Wege der Gerechtigkeit und der Solidarität, die zu Frieden und Glück führen.

Dann haben wir die Biosphäre der Erde als gemeinsames Erbe allen Lebens und die Menschheit als deren Hüterin. Wie in der Uno-Konferenz über die menschliche Umwelt von 1972 festgelegt, gehört sie zum Gemeinwohl von Menschheit und Erde: «Die natürlichen Ressourcen der Erde, einschliess­lich der Luft, des Wassers, der Flora und Fauna und besonders die repräsentativen Muster natürlicher Ökosysteme».

Besonders Wasser, Ozeane und Wälder gehören zum Gemeinwohl der Menschheit und der Erde. Wasser ist eine natürliche Ressource, ein lebenswichtiges Gemeingut, für das es keinen Ersatz gibt und zu dem alle das Recht auf Zugang haben, unabhängig von den Kosten, die mit seiner Fassung, Lagerung, Reinigung und Verteilung verbunden sind, die von Regierungen und der Gesellschaft getragen werden. Der Eifer, es zu privatisieren und zu einer Handelsware zu machen, die viel Geld einbringen kann, ist uns daher eine grosse Sorge. Wasser ist Leben, und Leben ist heilig und sollte nicht gehandelt werden. Diese Versammlung möchte Bemühungen unterstützen, die den Abschluss eines internationalen Wasserpaktes anstreben, um mittels gemeinsamer Verwaltung diese lebensnotwendige Ressource für alle zu garantieren.

Das gleiche lässt sich von den Wäldern sagen, vor allem von den tropischen und subtropischen Wäldern, in denen die grösste Biodiversität und die für die Lebenskraft der Erde notwendige Feuchtigkeit konzentriert sind. Die Wälder verhindern, dass der Klimawandel das Leben auf der Erde unmöglich macht, indem sie wesentliche Teile des Kohlendioxids binden. Ohne Wälder gäbe es kein Leben und keine Biodiversität. Die Ozeane dienen als grosses Behältnis des Lebens, sie regulieren das Klima und halten die physikalische und chemische Grundlage der Erde im Gleichgewicht. Wälder und Ozean werfen Fragen des Lebens auf, nicht nur der Umwelt.

Das Klima der Erde gehört zum Gemeinwohl der Menschheit und der Erde. Resolution 43/53 der Generalversammlung vom 6. Dezember 1988 zum «Schutz des globalen Klimas für gegenwärtige und zukünftige Generationen der Menschheit» anerkennt, dass Klimata gemeinsame Belange der Menschheit darstellen, da «Klima eine wesentliche Bedingung ist, die das Leben auf der Erde aufrechterhält». Die intergouvernementale Expertengruppe zur Entwicklung des Klimas, bekannt unter seinem englischen Kürzel IPCC [Intergovernmental Panel on Climate Change, Uno-Klimarat] ist der Meinung, dass

«Klimawandel die Menschheit als ganzes betrifft, man sollte ihm in globalem Rahmen geteilter Verantwortung entgegentreten.»

Aber das grösste gemeinsame Gut der Menschheit und der Erde ist die Menschheit als Ganze.

Sie hat höchsten Wert in sich selbst und hat ihren Zweck in sich selbst. Sie ist Teil des Reiches des Lebens, hochkomplex, fähig zu Bewusstsein, Sensibilität, Intelligenz, schöpferischer Vorstellung, Liebe und Offenheit gegenüber allem. In allen Kulturen besteht die klare Erkenntnis,  dass der Menschheit eine unantastbare Würde zukommt. Jene, die Kriege führen und Instrumente des Todes konstruieren, die das menschliche Leben vom Erdboden eliminieren und die Biosphäre schwer schädigen, begehen Verbrechen gegen die Menschheit.

Deshalb, meine lieben Brüder und Schwestern, dürfen wir nicht länger warten. Wir müssen unverzüglich die völlige Abschaffung von Atomwaffen voranbringen   – nicht nur deren Reduzierung oder Nichtweiterverbreitung. Für Atomwaffen muss dringend ein Null-Toleranz-Standard festgelegt werden, und Entscheidungen in diesem Bereich dulden keinen Aufschub mehr. Wir leben in einer dafür günstigen Zeit, und wir dürfen nicht versäumen, den Nutzen daraus zu ziehen. Genausowenig kann die Welt fortfahren, die Obszönität von immer weiter steigenden astronomischen Rüstungsausgaben zu tolerieren, während sie absurd kleine Beträge zur Verfügung stellt, um die Hälfte der Menschheit aus unentschuldbarem Grad an Armut zu heben, welcher zudem eine Zeitbombe für alle Gesellschaften darstellt. Gewalt erzeugt Gewalt, und Menschen im Zustand des Hungers und in menschenunwürdigen Lebensumständen zu halten ist die schlimmste Form von Gewalt.

Strategien zur Überwindung der Krise

Im gegenwärtigen geschichtlichen Zeitpunkt   – angesichts der globalen Krise und um des Gemeinwohls der Erde und der Menschheit willen   – müssen wir gemeinsam kurz- und mittelfristige Massnahmen ergreifen, einerseits, um das Funktionieren der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, und andererseits, um die Grundlagen für neue Formen nachhaltigen Lebens zu legen. Fünf wesentliche Elemente könnten neuen Initiativen, die sich um Alternativen bemühen, Kohärenz verleihen und als Orientierung für die vielen Verfahren dienen, die in den nächsten Tagen in der Generalversammlung diskutiert werden.

Erstens: Die verantwortungsvolle und nachhaltige Nutzung begrenzter natürlicher Ressourcen. Das bedeutet, über die Ausbeutung hinauszugehen und eine Beziehung des Respekts und der Synergie mit der Natur zu stärken.

Zweitens: Die Wirtschaft gehört zurück auf ihren eigentlichen Platz in der Gesellschaft als Ganzer, und die reduktionistische Sicht, welche sie zum Mittelpunkt menschlichen Zusammenlebens machte, ist aufzugeben. Die Wirtschaft sollte Werte respektieren, aber nicht selbst eine Quelle von Werten sein; sie sollte als die Aktivität gesehen werden, welche die Grundlage für das physische, kulturelle und geistige Leben aller Menschen auf dem Planeten legt   – in Respekt vor den Normen von Gesellschaft und Umwelt.

Drittens: Demokratie auf alle sozialen Beziehungen und Einrichtungen ausweiten. Sie sollte nicht nur in der politischen Arena angewendet und gestärkt werden mit einer neuen Definition des Staates und internationaler Organisationen, sondern auch auf die Bereiche von Wirtschaft, Kultur und die Beziehung zwischen Mann und Frau ausgeweitet werden, so dass Demokratie zu einem universalen Wert und einem bleibenden Zustand wird.

Viertens: Das Bilden eines minimalen Ethos auf der Grundlage des Austausches unter den Kulturen und der philosophischen und religiösen Traditionen der Völker, so dass diese an der Definition des Gemeinwohls der Menschheit und der Erde und der Entwicklung neuer Werte teilhaben können.

Fünftens: Stärken einer geistigen Sicht der Welt, die der Suche des Menschen nach dem Sinn des Lebens, der schöpferischen Tätigkeit der Menschen und unserem kurzen Aufenthalt auf diesem kleinen Planeten gerecht wird.

Persönliches und soziales Wohlergehen, aber auch das des ganzen Planeten können nur erreicht werden, wenn diese fünf Elemente verwirklicht werden. Möglich wird das durch eine Wirtschaft, die ausreichende und anständige Vorkehrungen für die ganze Gemeinschaft trifft, in der die Menschen in Harmonie miteinander, mit der Natur und mit dem Ganzen, von dem wir ein Teil sind, leben.

Dies sind die Grundlagen für eine Biozivilisation, die dem Leben, der Erde und der Menschheit eine zentrale Rolle gibt.

Vier grundlegende ethische Prinzipien

Alle diese Herausforderungen können nicht angemessen bewältigt werden, wenn wir nicht unsern Geist und unsere Herzen ändern und Raum schaffen für das Entstehen und Entwickeln anderer wesentlicher Aspekte des Menschen. Der ausschliessliche und übermässige Gebrauch des instrumentell-analytischen Denkens in der heutigen Zeit hat uns taub gemacht für den Ruf der Erde und gefühllos gegenüber den Schreien der Unterdrückten, welche die überwiegende Mehrheit der Menschheit ausmachen. Im Innersten unserer menschlichen Natur sind wir Wesen der Liebe, der Solidarität, des Mitgefühls und des Teilens. Deshalb müssen wir unsere analytische Denkweise erweitern um ein Denken der Empfindsamkeit, des Gemüts und des Herzens, das die Quelle der erwähnten Werte ist.
Das Gemeinwohl von Menschheit und Erde ist eine dynamische Realität, die sich ständig entwickelt.

Um es lebendig und für die weitere Entwicklung offen zu erhalten, sind vier ethische Prinzipien von Bedeutung.

Das erste ethische Prinzip ist Respekt.

Jeder Mensch hat einen Wert in sich selbst und kann dem Wohl der Menschheit dienen, wenn er nicht durch eine rein utilitaristische Ethik geleitet ist, wie sie in unserem gegenwärtigen sozioökonomischen System vorherrscht, sondern durch ein Gefühl gegenseitiger Zugehörigkeit, Verantwortung und Erhalt des Lebens.

Das zweite ist die Fürsorge.

Fürsorge umfasst eine nichtaggressive Haltung zur Realität, eine Haltung der Liebe, die vergangenes Leid heilt und zukünftiges vermeidet und sich gleichzeitig über alle Bereiche individueller und sozialer menschlicher Aktivität erstreckt. Hätte es genügend Fürsorge gegeben, wäre die heutige Finanz- und Wirtschaftskrise nicht entstanden. Fürsorge ist wesenhaft verbunden mit dem Erhalten des Lebens, denn ohne Fürsorge wird das Leben schwach und verschwindet.

Im Orient wird für Fürsorge der Ausdruck Mitleid verwendet, das heute, da ein Grossteil der Menschheit und der Erde selbst in einem Meer von Leiden geschunden und gequält wird, so dringend gebraucht wird. In einer Marktwirtschaft, die mehr von Wettbewerb denn von Kooperation getrieben wird, besteht ein grausamer Mangel an Mitgefühl für all die leidenden Wesen in der Gesellschaft und der Natur.

Das dritte Prinzip ist die universale Verantwortung.

Wir sind alle von der Umwelt und voneinander abhängig. Unsere Handlungen können dem Leben und dem Gemeinwohl von Erde und Menschheit nützen oder schaden. Die vielen Krisen, die jetzt auftreten, sind weitgehend das Resultat eines Mangels an Verantwortung in unseren gemeinsamen Projekten und Praktiken, der zu einem globalen Ungleichgewicht der Märkte und im Erdsystem geführt hat.

Das vierte Prinzip ist die Kooperation.

Wenn wir nicht alle kooperieren, werden wir aus der gegenwärtigen Krise nicht gestärkt hervorgehen. Kooperation ist derart grundlegend, dass sie in der Vergangenheit unsern anthropoiden Vorfahren ermöglichte, den Sprung vom Tierzustand zum Menschsein zu machen. Wenn sie Nahrung hatten, assen sie sie nicht jeder für sich, sondern brachten alles in die Gruppe, um es in kooperativer und solidarischer Weise mit allen zu teilen. Was in der Vergangenheit grundlegend war, ist es auch heute noch.

Schliesslich gibt es den Glauben, der zum Gemeinwohl der Menschheit gehört, ein Glaube, der aus den spirituellen Traditionen stammt und von heutigen Kosmologen und Astrophysikern bestätigt wird, und der besagt, dass hinter dem gesamten Universum, jedem Lebewesen, jeder Person, jedem Ereignis und selbst unserer derzeitigen Krise eine fundamentale Energie am Werk ist, mysteriös und unbeschreiblich, die auch als nährende Quelle allen Seins bekannt ist.

Diese namenlose Energie   – dessen sind wir gewiss   – wirkt auch in dieser Zeit des Chaos, um uns zu helfen und uns zu befähigen, den Egoismus zu überwinden und die nötigen Massnahmen zu treffen, damit die Krise nicht zur Katastrophe, sondern zu einer Gelegenheit wird, neue Formen des Zusammenlebens, innovative Wirtschaftsmodelle und einen höher entwickelten Sinn für das Leben und das Zusammenleben zu schaffen.

Keine Tragödie, sondern eine Krise

Abschliessend möchte ich meiner tiefen Überzeugung Ausdruck geben, dass die gegenwärtige Situation keine Tragödie, sondern eine Krise ist. Eine Tragödie hat einen schlechten Ausgang mit einer verwüsteten Erde, die ohne uns weiterbesteht. Eine Krise läutert uns und zwingt uns, reifer zu werden und Wege des Überlebens zu finden, die für die ganze Gemeinschaft des Lebens, der Menschen und der Erde zufriedenstellend sind. Der Schmerz, den wir heute fühlen, ist nicht das Todesröcheln eines sterbenden Menschen, sondern es sind die Wehen einer neuen Geburt. Bisher haben wir begrenztes materielles Kapital vollständig ausgebeutet, von nun an müssen wir mit geistigem Kapital arbeiten, das unbegrenzt ist, denn wir haben eine unbegrenzte Fähigkeit zu lieben, in Brüderlichkeit zusammenzuleben und in die Mysterien des Universums und des menschlichen Herzens vorzudringen.

Da wir alle unseren Ursprung im Herzen der roten Sterne haben, in denen sich die Elemente gebildet haben, aus denen wir bestehen, ist klar, dass wir dazu geboren sind, unser Licht leuchten zu lassen und nicht zu leiden. Und wir werden unser Licht wieder leuchten lassen   – das ist meine feste Zuversicht   – in einer weltweiten Zivilisation, die respektvoller gegenüber Mutter Erde ist, alle Menschen vermehrt einschliesst, die mehr Solidarität mit den Ärmsten zeigt, die spiritueller ist und viel mehr Ehrfurcht vor der Pracht des Universums hat und die viel glücklicher ist.

Mit diesen Worten haben unsere Diskussionen an dieser äusserst wichtigen Konferenz zur Weltfinanz- und Wirtschaftskrise begonnen. Indem ich diese Fragen in einen grösseren Zusammenhang gestellt habe, möchte ich betonen, dass wir   – wenn wir die Chancen, die uns die derzeitige Krise bietet, nutzen wollen   – alle unsere egoistischen Haltungen beiseitelegen müssen. Solche Haltungen streben nur danach, ein System zu erhalten, das eine Minderheit scheinbar  begünstigt und für die überwiegende Mehrheit der Einwohner dieses Planeten eindeutig verheerende Folgen hat. Wir müssen uns mit Solidarität und Kooperation ausstatten, um einen qualitativen Sprung vorwärts zu einer Zukunft in Frieden und Wohlstand machen zu können.

Erlauben Sie mir, liebe Brüder und Schwestern, diese Reflexionen mit den Worten des Heiligen Vaters, Papst Benedikt XVI, für diese Konferenz abzuschliessen:

«Ich bitte für alle Teilnehmer der Konferenz und für all jene, die für das öffentliche Leben und das Schicksal des Planeten verantwortlich sind, um den Geist der Weisheit und der menschlichen Solidarität, auf dass die gegenwärtige Krise zu einer Gelegenheit werden möge, die uns helfen kann, der Würde jedes Menschen mehr Beachtung zu schenken und eine gleichberechtigte Verteilung der Entscheidungsgewalt und der Ressourcen zu fördern   – mit besonderer Berücksichtigung der Armen, deren Zahl unglücklicherweise ständig zunimmt.»

Vielen Dank.

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Quelle: Ausgabe Nr. 28 vom 13. Juli 2009 bei der Wochenzeitschrift Zeit-Fragen
http://www.zeit-fragen.ch/ausgaben/2009/nr28-vom-1372009/konferenz-der-vereinten-nationen-zur-weltfinanz-und-weltwirtschaftskrise/

Quelle:
www.un.org/ga/econcrisissummit

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«Wir müssen gemeinsam unsere Kräfte und unsere Intelligenz einsetzen»

Die gegenwärtige multidimensionale Krise erfordert sowohl Sofortmassnahmen als auch langfristige Planungen zur Unterstützung der Ärmsten, besonders in Afrika. Wir müssen gemeinsam unsere Kräfte und unsere Intelligenz einsetzen, um die Probleme der Ungerechtigkeit, der Armut, der Verletzbarkeit und des Ausschlusses anzugehen. Wir müssen unsere wirtschaftlichen, finanziellen und Hilfssysteme transparenter gestalten und mehr Teilnahme und Mitsprache daran ermöglichen, insbesondere durch intensivere Integration von Entwicklungsländern. Bessere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Entwicklung ist von ausschlaggebender Bedeutung.

Wir vertrauen auf die Reform der internationalen Finanzinstitutionen und auf deren zentrale Rolle bei der Sicherstellung der Stabilität der Finanz- und Wirtschaftssysteme. Lassen Sie uns dasselbe mit der Uno machen, die in der humanistischen Tradition des Zieles einer besseren Welt für alle gegründet wurde. Das Chief Executive Board hat neun zusammenhängende Initiativen entworfen, die die vielfältigen Aspekte der Krise und die Basis der individuellen Mandate und Verantwortlichkeiten der Uno-Organisationen ansprechen. Wir unterstützen diesen Ansatz sehr, der die Uno-Organisationen im Interesse einer schnellen und effektiven Reaktion auf die Krise auf Kohärenz und Koordination ihrer Politik verpflichtet.

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Quelle: Auszug aus der Stellungnahme des Direktors der Direktion für Zusammenarbeit, Schweiz (Deza), Martin Dahinden
http://www.zeit-fragen.ch/

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