Skip to main content

«An die Kinder hat niemand gedacht»

Der Landbote hat ein Interview mit der Schulleiterin Isabella Okle geführt

publiziert: 04. Dezember 2020
Deborah Stoffel/Landbote: 03.12.2020, 05:30

Isabella Okle
«Dass ich, wenn ich ausser Puste vom Fahrrad steige und über den Pausenhof laufe, eine Maske anziehen muss, ist absurd», sagt Isabella Okle, Schulleiterin in Neuhegi. Foto: Marc Dahinden

Sie haben in einem Leserbrief* vor den psychischen Folgen der Corona-Massnahmen für Kinder gewarnt. Wo sehen Sie die grössten Probleme?

Bildung vermitteln heisst Beziehung leben. Kinder lernen, wenn sie in Beziehung treten mit jemandem. Je kleiner sie sind, desto wichtiger. Doch selbst bei Erwachsenen ist es noch zentral, wer Inhalte vermittelt. Beziehung heisst Nähe schaffen, Emotionen dürfen und sollen gelebt und sichtbar sein. Das Maskentragen erschwert den Beziehungsaufbau und distanziert die Menschen voneinander. Zudem ist der Unterricht mit Maske für Lehrpersonen sehr anstrengend, man fragt sich zum Beispiel, ob man richtig gehört wird.

Merkt man das den Kindern in der Schule denn an, dass es ihnen nicht gut geht?

Viele psychische Auswirkungen sind erst später sichtbar. Kinder akzeptieren vieles, sie machen keine Revolte. Ich kann nicht sagen, welche Auswirkungen das Maskentragen auf ihre Psyche wirklich hat, und die Auswirkungen variieren sicher von Kind zu Kind. Eine angstvolle Erziehung ist sicher nicht förderlich für die Entwicklung des Selbstvertrauens beim Kind. Ausgelöst durch die Pandemie gibt es viele Erwachsene, bei welchen die Angst vor dem Virus Auswirkungen auf ihr Sozialverhalten hat, und dies bekommen auch Kinder zu spüren. Einige Kinder haben mir persönlich mitgeteilt, dass sie es schade finden, dass Anlässe wie Sportturniere, Adventsfeiern und Klassenlager abgesagt werden. Die Schülerband hat zum Beispiel seit dem Sommer geübt und durfte jetzt nicht live auftreten.

Nicht alle Kinder sind gleich betroffen von den Einschränkungen, welche Kinder trifft es besonders hart?

Kinder, die zu Hause wenig Beziehung erfahren und sich oft selbst überlassen sind, haben es nun doppelt schwer, wenn auch in der Schule Distanz und Abgrenzung gelebt werden.

«Kinder akzeptieren vieles, sie machen keine Revolte.»

Spielt die soziale Schicht, spielt das Haushaltseinkommen eine Rolle?

Pauschalisierungen sind schwierig und nicht hilfreich, um eine Situation zu analysieren. Falls Eltern aufgrund der Pandemie ihren Job verlieren und in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, hat das sicher Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Kinder.

Die Ansprüche der Eltern sind sicher auch sehr unterschiedlich.

Natürlich, das ist auch o.k., aber für uns nicht einfach. Es gibt Eltern, die sehr ängstlich sind und nicht wollen, dass die Klassen noch zusammen in den Wald gehen. Dabei haben wir klassendurchmischten Unterricht und Anlässe an unserer Schule aufgebaut und verankert, damit die Kinder verschiedenen Alters von- und miteinander lernen. Das Gemeinschaftsgefühl, das dadurch erlebt wird, ist der Grundbaustein für die Solidarität untereinander. Das wird durch die Corona-Massnahmen gekappt.

Gerade jetzt in der Adventszeit fehlen solche Anlässe wohl besonders.

Ja, wir haben zum Beispiel im Advent jeweils mehrmals pro Woche miteinander gesungen. Das fehlt jetzt. Aber die Lehrpersonen machen das Beste daraus und schicken sich gegenseitig zum Beispiel kurze Filme ihrer Adventsfeiern im Klassenzimmer, um so das Gemeinschaftsgefühl zumindest virtuell erleben zu lassen. Chapeau für diesen Aufwand!

Im Frühling konnten die Kinder eine Weile gar nicht zur Schule, war das nicht schlimmer als die Situation jetzt?

Nein, das war eine Extremsituation, und es war klar: Wir stehen zusammen, sind solidarisch und machen das Beste daraus. Der Fernunterricht hat funktioniert, zumindest vordergründig. Was und wie viel der Lerninhalte nachhaltig verinnerlicht wurden, ist wieder eine andere Frage. Aber zum Glück war der Lockdown absehbar.

«Die Lehrer machen das Beste daraus.»

Es gibt Studien, die behaupten, viele Kinder hätten im Lockdown nahezu gar nichts gelernt. Deckt sich das mit ihrer Wahrnehmung?

Ich glaube diesen Studien. Die Folgen des Fernunterrichts sind aber auch bei älteren Kindern sichtbar. Mein Sohn hat sein Studium an der ETH im Sommer von zu Hause aus angefangen. Er hat weder die ETH so richtig von innen noch die Professoren persönlich gesehen. Zum Glück ist er sehr strukturiert, lernt mit anderen bei uns zu Hause am Stubentisch und geht dazwischen joggen. Das können nicht alle, und die Gefahr der sozialen Einsamkeit ist da. Das Bildungssystem ist auf allen Ebenen so durcheinandergerüttelt.

«Das Bildungssystem ist auf allen Ebenen so durcheinandergerüttelt.»

Was finden Sie denn, müssten die Behörden jetzt tun?

Man sollte aufhören mit den Masken an den Schulen und es den Lehrpersonen überlassen, ob sie eine tragen wollen oder nicht. Die Angstpropaganda soll abgelöst werden mit Tipps zur sogenannten Salutogenese, also Informationen, wie man sein Immunsystem stärkt. Draussen an der frischen Luft soll das Maskenverbot schon morgen aufgehoben werden. Dass ich, wenn ich ausser Puste vom Fahrrad steige und über den Pausenhof laufe, eine Maske anziehen muss, ist absurd. Und man sollte die langen Quarantänemassnahmen für Lehrpersonen mit einem negativen Testresultat aufheben.

Da sind aber auch die anderen Stimmen, die dem Bundesrat vorwerfen, zu viele Tote in Kauf zu nehmen. Die Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr liberal unterwegs.

Zentral finde ich, dass wir Rücksicht nehmen darauf, wie es den Leuten geht und was jeder Einzelne braucht. Bei den Massnahmen hat man nicht an die Kinder gedacht, und auch nicht an ältere Menschen. Sie sind aber beide, wie auch Kranke, schützenswerte Menschen. Ihr Schutz kann aber verschieden sein. Eine Maske kann für eine chronisch kranke Person lebensnotwendig sein; für die gesunde Entwicklung eines Kindes ist sie nicht förderlich. Es gibt zahlreiche ältere Menschen, denen der soziale Kontakt wichtiger ist als die scheinbare Sicherheit durch eine Isolation. In der Taskforce, die den Bundesrat beratet, ist primär die Medizin und die Wirtschaft vertreten   – warum sitzt da niemand aus der Bildung?

Bald wird man sich gegen das Virus impfen können, das heisst, der Ablauf der Massnahmen ist absehbar. Ist es da nicht vernünftig, durchzuhalten?

Nein, man sollte die Massnahmen jetzt zurückfahren. Man kann doch nicht den gesamten Schutz vor diesem Virus von einer Impfung abhängig machen. Die Gesundheit ist so vielschichtig. Ich habe das am eigenen Körper erlebt, als bei mir vor zwei Jahren ein bösartiger Tumor festgestellt wurde. Ich wurde sehr gut beraten von meinem Onkologen in integrativer Medizin. Er ermunterte mich, auch während der Chemotherapie oft nach draussen an die frische Luft zu gehen und mich viel zu bewegen, soziale Kontakte zu pflegen und auch zu arbeiten, soweit ich mag. Ich erwähne meine Erkrankung, weil ich überzeugt bin, dass diverse Faktoren das Immunsystem beeinflussen können. Zudem ist wissenschaftlich erwiesen, dass Einsamkeit das Immunsystem schwächt und man eher anfällig wird für Krankheiten.

Das sagt das Volksschulamt dazu

Auf dem Pausenplatz, im Turnunterricht, im Klassenzimmer: Überall gilt für Erwachsene in der Schule eine strikte Maskenpflicht. Und das aus triftigen Gründen. So haben Untersuchungen ergeben, dass Ansteckungen mit Covid-19 mehrheitlich von Erwachsenen zu Erwachsenen oder von Erwachsenen zu Kindern erfolgen. Das Zürcher Volksschulamt hält Masken in der Schule deshalb für eine verhältnismässige Massnahme. Im Vordergrund stehe das Ziel, erneute Schulschliessungen zu verhindern, sagt Myriam Ziegler, Leiterin des Volksschulamts. Denn diese hätten negative Auswirkungen auf die Psyche der Kinder, das sei inzwischen wissenschaftlich belegt.

Negative Auswirkungen der Corona-Massnahmen auf die Kinderpsyche sind dem Volksschulamt bisher hingegen nicht bekannt. Entsprechend gibt das Amt auch keine Empfehlungen ab, wie eventuelle emotionale Schäden abzufedern wären. Ziegler betont die wichtige Rolle der Lehrpersonen: «Sie müssen aktuell sehr viel leisten, ihren Unterricht den Umständen anpassen und beispielsweise Nachteile, die sich durch das Maskentragen ergeben, mit anderen Mitteln der Körpersprache teilweise ausgleichen.»

Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht?

Es wurde mir bewusst, dass wir nicht alles im Griff haben im Leben und Glück und Schicksal mit dazugehören. Die Erfahrung zeigte mir aber auch, dass es selbst bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung wichtig ist, selbstbestimmt handeln zu dürfen. Die Pandemiemassnahmen unterbinden meiner Ansicht nach dieses Recht.

Was leiten Sie davon ab für die aktuelle Situation?

Ich möchte die Kinder zu selbstständigen Wesen erziehen, ihnen beibringen, wie man auf sich selber hört, sie fragen: Denk mal nach, was findest du? Sich selbst zu kennen, das ist zentral beim Menschwerden. Hier an den Schulen, sollten wir den Grundstein dafür legen, auch in Bezug auf das Thema Gesundheit: viel Bewegung, gesunde Ernährung, soziale Kontakte, Konflikte lösen; das alles gehört dazu. Die Pandemiemassnahmen machen das Gegenteil. Sie sagen, was man alles nicht tun soll, um sein Immunsystem zu schützen, anstatt, was man tun soll, um es zu stärken.

Sagen wir, es gibt einen Tag im Frühling, an dem die Schule wieder ohne Einschränkungen und Ängste stattfinden kann. Haben Sie schon an diesen Tag gedacht: Was machen Sie dann?

Ich stelle mir vor, dass es ein schöner, gelassener Tag wird, man muss ihn nicht zelebrieren, aber man kann wieder lachen und weinen. Ich freue mich sehr darauf und hoffe, dass er vor dem Frühling kommt.

Quelle: https://www.landbote.ch/an-die-kinder-hat-niemand-gedacht-812693914059

*Lesen Sie hier den Leserbrief, den die Schulleiterin an den Tagesanzeiger geschrieben hat


Weitere Beiträge in dieser Kategorie