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2011  – ein gutes Jahr für Lateinamerika?

29. März 2013

2011   – ein gutes Jahr für Lateinamerika?

von Wolf Gauer*

Verließe man sich allein auf die häufig zitierte, privatrechtliche Datenbank Latinobarómetro, eine in Chile ansässige Nichtregierungsorganisation, die von der EU, den USA und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) mitfinanziert wird, wäre ein naives Ja angebracht.

Sie konstatiert in 18 der 20 lateinamerikanischen Staaten wachsende Ansprüche der Bürger an ihre Regierungen, auch zunehmende Bildung, mehr Selbstbewusstsein und Gesetzestreue. Und zur Freude ihrer Auftraggeber: Für 56% der Befragten sei die Marktwirtschaft der einzige Weg zur Entwicklung. In Brasilien glaubten dies sogar 58%, auch seien die Brasilianer in puncto Wirtschaft am optimistischsten und als Einzige dazu bereit, „mehr ihren Pflichten nachzukommen als ihre Rechte einzufordern". Für Kenner brasilianischer Verhältnisse eine groteske Verdrehung. Ich erinnere an den nachhaltigen Widerstand der Zivilgesellschaft gegen umweltgefährdende Staudammprojekte wie Belo Monte oder Santo Antonio und Jirau, an ihr Eintreten für die Rechte der Indigenen und für den Einschluss ziviler Repräsentanz in sozialpolitische Entscheidungsprozesse, die nach wie vor zentralistisch dirigiert werden.

Noch ungenierter urteilt die OECD, Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (der reichen, die Globalisierung forcierenden Nationen). Nach Bilderberger-Art warnt sie in ihrer Perspektivstudie für 2012 vor einem weiteren Zuwachs der Mittelschicht in den Entwicklungsländern, der „soziale Forderungen vermehren und neue Spannungen erzeugen würde, die die Regierungen zu bewältigen hätten". Denn „die Mittelschicht der aufsteigenden Länder wünscht die Teilhabe an den Früchten des Wirtschaftswachstums der letzten Jahre" (sic). Die OECD klassifiziert als Mittelschicht jene zwei Milliarden Menschen, die täglich zwischen 10 und 100 US$ verdienen. Eine Milliarde lebt in den Entwicklungsländern. Bis 2030, droht die Studie, werden es drei Milliarden sein, und der „arabische Frühling zeigt, dass die Forderungen der Bürger beachtet werden müssen, die einen auf Einschluss bedachten politischen Prozess wollen". Was sich diese Bürger nicht alles einfallen lassen...

Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Kariben (CEPAL), wägt differenzierter: Lediglich in Brasilien, Argentinien, Bolivien und Venezuela sei die soziale Ungleichheit und Armut vermindert worden. Ausgerechnet dort, wo das Verhältnis zu USA und EU sensibel bzw. mehr als gespannt ist. Denn Ungleichheit und Armut, so die Leiterin der CEPAL-Exekutive, Alicia Bárcena Ibarra, hingen direkt von „aktiver Sozialpolitik ab, z.B. von einem Mindestlohn, von der Schaffung von Arbeitsplätzen und Investitionen". Während der Amtszeit des indigenen, sozialistischen Präsidenten Evo Morales Ayma (seit 1995) habe sich die Armutsquote Boliviens von 60% auf 49% reduziert, der Anteil der „extremen Armut" von 34% auf 23,4%. „Wir müssen (auf Bolivien) hören und (von ihm) lernen, denn dieses Land hat einen für unsere Region wichtigen Weg beschritten, einen einzigartigen." Ein Weg, sei angemerkt, der vonseiten der USA und unter Mithilfe von Angela Merkel, Dirk Niebel und ihren Parteistiftungen nach Kräften vermint wird. Dennoch ist Boliviens auswärtige Verschuldung mit nur 14% des Bruttosozialprodukts auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Zugleich, so Ibarra, habe Boliviens „makroökonomische Politik ein jährliches Wachstum von 5,2% ermöglicht, während die entwickelten Volkswirtschaften auf kaum einen Prozentpunkt kommen".

Lateinamerika zieht Investoren an, auch aus Europa und den USA. Brasilien zum Beispiel registrierte allein im Jahr 2011 ausländische Direktinvestitionen von rund 60 Mrd. US$, fast ein Zehntel der 660 Milliarden die von 1947 bis Ende 2010 ins Land kamen. Wie werden diese Gelder angelegt? Laut Banco Central zu rund 17% im Bereich der Banken und Finanzdienstleistungen, zu 9% in der Getränkeindustrie und Übernahme von Mineralquellen (im Gegensatz zu Venezuela und Bolivien gibt es in Brasilien keinen verfassungsmäßigen Schutz vor privater Vermarktung der Süßwasserreserven, die etwa 12% des Planeten ausmachen), weitere 8,5% in der Ausbeutung der Öl- und Erdgasvorkommen (laut Agência Nacional de Petróleo: 28 Mrd. barrels, bzw. 824 Mrd. Kubikmeter) und 7% im privatisierten Kommunikationswesen.

Vereinfacht: Investitionen, die auf Abschöpfung von Zinsen, Geld- und Währungsgeschäften abzielen, auf natürliche Ressourcen und auf vormals staatliche und kommunale Dienstleister. Nicht aber auf langfristige, wert- und strukturschaffende Industrieproduktion. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt machte 1984 noch 27% aus, im Jahr 2010 nur 15,5% (DIEESE). Noch können die internationale Nachfrage nach brasilianischen commodities (Soja, Zucker, Fleisch, Kaffee, Ethanol und Rohstoffe) und der Bedarf an internen Dienstleistungen das Schwächeln der Industrieproduktion ausgleichen. Ihr Ausbau aber, ihre Konkurrenzfähigkeit und die nötigen Voraussetzungen in Bildung und Forschung interessieren die momentanen sozialdemokratischen Entscheidungsträger so wenig wie die internationalen Anleger, am allerwenigsten die US-amerikanischen. Für God's own country hat Lateinamerika wie eh und je Rohstoffe zu liefern und Fertigprodukte zu konsumieren.

Die traditionellen imperialistischen Instrumente zur „strukturellen Anpassung" Lateinamerikas, nämlich der internationale Währungsfond, die Weltbank, die Welthandelsorganisation (WTO) und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sind jedoch längst entlarvt und überholt. Das Jahr 2011 machte China zum größten Handelspartner Brasiliens (31 Mrd. US$), zum zweitgrößten Venezuelas (28 Mrd.US$) und Argentiniens. Die chinesische Partnerschaft erlaubte auch Bolivien, Nikaragua, Ekuador und Uruguay mehr Distanz zu den USA.

Dabei halfen klare nationale Wahlergebnisse und neue gemeinsame Perspektiven. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez Frias, unbeirrter Vorarbeiter der lateinamerikanischen Integration   – die US-Medien setzen auf sein Krebsleiden   – brachte am 2. und 3. Dezember 33 amerikanische Nationen an einen Tisch. Zum ersten, auch in Europa weitgehend registrierten, Gipfeltreffen der „Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten" (CELAC). Ohne die USA und Kanada und zum Nachteil ihrer neokolonialistischen Freihandelskonstrukte NAFTA und ALCA.

„Latin America in Revolution" titelte Eva Golinger, die wohl kompetenteste Chronistin lateinamerikanischer Befreiungsschritte, in Global Research, und „Latin America no longer for sale" (Lateinamerika nicht mehr zu verkaufen) die New Yorker Venezuela Analysis. Das neue Plenum baut auf der 2004 von Kuba und Venezuela begründeten, erfolgreichen „Bolivarischen Allianz der Völker unseres Amerika" (ALBA) auf und schließt die bestehenden regionalen, politischen und wirtschaftlichen Integrationsmechanismen ein, z.B. die „Union südamerikanischer Nationen" (UNASUR) und die Entwicklungsbank des Südens „Banco del Sur".

Kubas Staatsratvorsitzender Raul Castro Ruz fasst zusammen: „Es wäre ein ernster Fehler, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass sich Lateinamerika und die Kariben geändert haben und dass wir nicht mehr so behandelt werden können wie in der Vergangenheit. Wir mussten hart arbeiten, um gegen die Bürde des Kolonialismus und Neokolonialismus anzukämpfen, und man kann sich auf eine feste, regionale Entschlossenheit einstellen, wenn es darum geht, die Unabhängigkeit zu verteidigen, die wir erreicht haben."

Unterdessen besetzten US-Bürger Wall Street und öffentliche Plätze in mehreren hundert Städten. Und ihre Regierung verlängerte den Grenzzaun zu Mexiko selbst unter Wasser.

Ein schlechtes Jahr für die USA.

Mit freundlicher Erlaubnis vonOssietzky,Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft

Wolf Gauer

wolf gauer

Wolf Gauer, Filmemacher und Journalist, lebt seit 1974 in Brasilien. Er schreibt für die Zf. Ossietzky und andere deutschsprachige Periodika.

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