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Kleiner Mann, was nun?

Rezension von Christian Fischer
29. Oktober 2016
1932 veröffentlichte der Rowohlt Verlag den Roman «Kleiner Mann, was nun?» des bis dahin kaum bekannten Schriftstellers Hans Fallada. Das Buch wurde sofort ein Riesenerfolg, ein Welterfolg, weil es die Zeit der Jahre 1930/31 in Deutschland, in Berlin, aus der Sicht von einfachen, aber ehrlichen Menschen detailgenau und empathisch schildert, in einer Umgebung, in der es auch mehr als genug unehrliche Menschen gab. Vom damals gerade ausgezeichneten Nobelpreisträger Thomas Mann über Kurt Tucholsky und Carl Zuckmayer bis hin zu Lehrlingen, die ihre Situation darin wiedererkannten, gingen beim Verlag begeisterte Zuschriften ein. Dabei war der Text auch mit Rücksicht auf die aufkommenden Nazis stark gekürzt worden, und er wurde nach 1933 in teilweise veränderter Fassung ohne negativ gezeichnete Nazis neu aufgelegt, auch mit Zustimmung Falladas, der sich nicht vorstellen konnte, ins Exil zu gehen. Er zog sich auf einen Bauernhof in Mecklenburg zurück und schrieb neben seiner bäuerlichen Arbeit dort weitere bekannte Bücher.

Buch Kleiner Mann was nun

Kleiner Mann, was nun?

Nun hat der Aufbau-Verlag erstmals den kompletten Text veröffentlicht, nachdem das Manuskript in den Archiven aufgefunden worden war. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen. Zum einen bekommt man einen sehr lebendigen und detailreichen Eindruck von der Situation in Deutschland zur Zeit der Wirtschaftskrise am Ende der Weimarer Republik. Zum anderen lesen wir eine menschlich sehr anrührende Geschichte, die von zeitlosem Wert ist.

Pinneberg, ein kleiner Angestellter, heiratet die Frau, die ein Kind von ihm erwartet, und tut sein möglichstes, sie und sich selbst und schliesslich den kleinen Sohn, auf den er sich trotz aller Schwierigkeiten und trotz gehässiger Bemerkungen aus der Umgebung freut, durchs Leben zu bringen. Er wird konfrontiert mit unwürdiger Behandlung bei seiner Arbeit, und er steckt vieles, aber nicht alles ein. Er trifft auf Versuchungen, die ihn vom ehrlichen Weg abbringen könnten, aber er bleibt standhaft, auch wenn er nicht weiss, wie er im nächsten Monat die Miete zahlen kann.

Es gibt keine spektakuläre Story, das ist kein Kriminalroman. Die Spannung lebt davon, dass Fallada seine Leser mitnimmt in den Alltag der kleinen Leute. Wir sehen, wie es in der Verwaltung einer kleinen Firma zuging oder wie ein Verkäufer in einem Warenhaus behandelt und schikaniert wurde. Wir leben mit, wenn ein junges Paar in Erwartung eines Kindes versucht, ein möbliertes Zimmer zu bekommen, das es bezahlen kann, und wie das Paar dann ausrechnet, wieviel Mark und Pfennig es ausgeben und wie wenig es sich leisten kann.

Wir erfahren, wodurch es sich trotzdem manchmal eine Freude bereitet und dass es zwischen vielen abstossenden Menschen, auf die es aber angewiesen ist, auch auf anteilnehmende Menschen stösst, die dann aber auch wieder aus dem Blickfeld geraten. Es ist der Alltag voller unerwarteter, manchmal auch erwarteter Wendungen und Begegnungen, der aus der Perspektive Pinnebergs geschildert wird   – aber nicht nur als äussere Handlung, sondern stets begleitet von den Gedanken und Gefühlen Pinnebergs, von seinen Sorgen und Hoffnungen.

Bei ausreichend Pech im wirtschaftlichen Bereich hat Pinneberg allerdings Glück mit seiner Frau   – eine bescheidene, aber lebenstüchtige Person, die ihn unbeirrt am geraden Weg festhält, von dem er manchmal abzugleiten droht; sie ermutigt ihn mit Zuversicht. Fast könnte man sie als Verkörperung des Satzes «Wir schaffen das» verstehen, wenn dieser Satz heute nicht so einen faden Klang durch eine andere Mecklenburgerin bekommen hätte. In diesem Buch ist die zuversichtliche Haltung aber das menschliche Leitmotiv, das überzeugend und lebensnah dargestellt wird. Man könnte diese Frau, genannt «Lämmchen», angesichts der widrigen Umstände beinahe für eine weltfremde, märchenhafte Erfindung halten.

Fallada   – bzw. Rudolf Ditzen mit bürgerlichem Namen   – weiss aber, wovon er schreibt. Natürlich schreibt er von sich selbst, nicht biografisch, sondern in literarischer Umgestaltung. Er hat in den zwanziger Jahren selbst berufliche Schwierigkeiten gehabt, Stellenwechsel, Alkohol und Drogen, Geld unterschlagen, Gefängnisaufenthalt, er ist selbst ein kleiner Mann. 1928 lernt er eine Frau kennen, die ihm Halt gibt. 1930 wird ihr erster Sohn Uli geboren, und die wirtschaftliche Situation der Familie ist einigermassen stabil, aber nicht rosig. 1931 beginnt er das Schreiben am Kleinen Mann und hat 1932 den Welterfolg damit   – der es ihm erlaubt, sich mit seiner Familie auf einen Bauernhof am Ende der Welt, möglichst fern vom politischen Geschehen, zurückzuziehen.

Seine eigenen Erfahrungen am unteren Ende der Gesellschaft, sein umfangreicher Kontakt mit Menschen, die mit einem Fuss über dem Abgrund stehen, aber gleichzeitig seine Empathie für diese Menschen, zu denen er schliesslich auch gehört, sein eigener Wille zu einem anständigen Leben   – und letztlich sein unbezähmbares erzählerisches Talent erlauben ihm, die Zeit so lebendig zu schildern, wie das kaum einem anderen Schriftsteller gelingt. Und das Leben mit seiner Frau erlaubt es ihm, die Figur «Lämmchen» zu erfinden, die eben keine Erfindung ist; dahinter steht ein Mensch aus Fleisch und Blut. Das Buch ist auch eine Liebeserklärung an sie.

Der Rezensent hatte als Kind und bis ins Erwachsenenalter das Glück, diese Frau, Anna Ditzen, Falladas Witwe, kennenzulernen. Sie hat den Bauernhof bis ins Rentenalter weitergeführt und aus finanziellen Gründen Zimmer an Sommergäste vermietet; so haben wir uns in den 50er Jahren kennengelernt. Kurz vor ihrem 90. Geburtstag, kurz nach der deutschen Wiedervereinigung, ist sie gestorben. Ohne sie gäbe es keinen Schriftsteller Hans Fallada. Sie hat ihm vier Kinder geboren, aber er hat ihr immer wieder viel Leid zugefügt, sie am Ende verlassen, andere Frauen, wieder Drogen und Alkohol, und er ist 1947 ausgezehrt gestorben. Sie aber hat bis zuletzt zu ihm gehalten und ihn unterstützt, allerdings nicht bedingungslos: Die Drogen hat sie nicht akzeptiert und ihn damit nicht ins Haus gelassen.

Aber über seinen Tod hinaus hat sie sein Werk gepflegt und wollte keine schlechten Worte über ihn hören; sie wusste, dass er ein schwacher Mensch und ein grosser Schriftsteller war. Aufgegeben hat diese kräftige und unsentimentale Frau nie und niemanden, sondern immer auf den nächsten Tag geschaut und angepackt, wo Hilfe nötig war. Nur einmal war sie innerlich kurz vor dem Ende: als ihre Tochter Lore starb. Aber es musste schliess­lich weitergehen, denn sie hatte ja noch einen weiteren Sohn, Achim, damals noch ein Kind. Auch das hat sie geschafft.

Wer «Kleiner Mann, was nun?» liest und diese Frau kennen durfte, hat nicht nur ein lebendiges Berlin von 1931 vor Augen, nicht nur eine Idee vom anständigen Leben in schwerer Zeit und von ehelichem Zusammenhalt als Wegweiser darin, sondern auch die Realität einer starken Frau, für die dieses Buch ein Denkmal ist.


Quelle: Zeit-Fragen
http://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2016/nr-24-25-oktober-2016/kleiner-mann-was-nun.html