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Humboldts Anschauung der Welt

In Deutschland gehören netto zwei Jahrhunderte dazu, um eine Dummheit abzuschaffen.
von Botho Cude
25. August 2014

Buchtitel: Kosmos, Buchautor: Alexander von Humboldt Verlag: Die Andere Bibliothek

Die Natur ist eine Gans, man muß erst sie zu etwas machen.Goethe /1/

“Die Andere Bibliothek” hat uns in der letzten Zeit mit einigen schätzbaren Großdrucken beglückt. Jetzt ist Alexander von Humboldts ursprünglich fünfbändiger “Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung” in einem voluminösen Werk von über 900 Seiten im Quart-Format neu aufgelegt worden. Beigefügt ist im Reprint der “Physikalische Atlas” von Heinrich Berghaus, seinerzeit gedacht als Hilfsmittel beim Studium von Humboldts “Kosmos”.

Alexander von Humboldt (1769   – 1859) war wohl eines der letzen Universalgenies. Und so befasst er sich im „Kosmos“ nicht nur mit den Geowissenschaften und der Astronomie. Auch die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, die Entdeckungsreisen, Landschaftsmalerei und Naturdichtung sind Gegenstand seiner Betrachtungen.

Seit Humboldts Zeit sind die Spezialwissenschaften in ungeheurem Maß fortgeschritten und ein Einzelner kann heute aus dem schier unendlichen Material schwerlich ein mehrbändiges Kompendium verfertigen. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass sich schon Humboldt bei seiner Ausarbeitung des „Kosmos“ die umfassende Unterstützung von befreundeten Fachgelehrten sicherte.

Eckermann berichtet unter dem 11. Dezember 1826: Ich fand Goethe in einer sehr heiteren aufgeregten Stimmung. „Alexander von Humboldt ist bei mir gewesen“, sagte er mir sehr belebt entgegen. „Was ist das doch für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt. Er wird einige Tage hier bleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre verlebt.“ /2/

Damals beginnt Alexander von Humboldt den Stand der Naturwissenschaft seiner Zeit über die Erde und das Universum zu formulieren. Vor dem Berliner Publikum hält er im Winter 1826/27 Kosmos-Vorlesungen an der Universität und zeitgleich die populären Kosmos-Vorträge an der Singakademie. Sie bilden den Grundstock für sein Werk „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“.

Der „Kosmos“ erschien von 1845 bis 1862 in fünf Bänden und beschäftigte den Autor in den letzten 30 Jahren seines fast 90jährigen Lebens. Anders als die französisch verfassten wissenschaftlichen Hauptwerke über seine Forschungsreise durch Südamerika war der „Kosmos“, wie zuvor schon die „Ansichten der Natur“ (1808), zuerst für den deutschen Leser konzipiert und sollte ein großer buchhändlerischer Erfolg werden. Weit über 80.000 Exemplare wurden von Cotta verkauft. Wenn man Heinrich Berghaus Glauben schenken darf, erhielt Humboldt als Honorar für sein epochales Werk vermutlich insgesamt nur 5.000 Taler. /3/

Sprachlich glanzvoll sind die ersten beiden Bände. Der Eingangsband enthält nach einleitenden Betrachtungen als „Naturgemälde“ eine geraffte Abschilderung des damals bekannten Weltraums und der Erde von gravitätischer Schönheit. Allerdings ähnelt unser heutiges durchgeknalltes Universum dem stationären Weltraum des Biedermeiers weniger als eine computergesteuerte Großbäckerei dem soliden Backofen aus „Hänsel und Gretel“. Auch Humboldts Ausführungen zur Naturgeschichte sind nur noch historisch zu nehmen.Der zweite Band eröffnet mit der Geschichte des Naturstudiums. Die Dichter und Denker der Völker werden herangezogen, beginnend mit Hesiods „Werken und Tagen“ über Vergils „Georgica“ und Lönnrots Sammlung des „Kalevala“ bis hin zu Bernardin de St. Pierres „Paul und Virginia“. Am Ende stehen Georg Forster und Charles Darwin.

Dann widmet sich Humboldt der Landschaftsmalerei, insofern sie die Natur abschildert. Es folgt die Geschichte der Erkenntniß des Weltganzen (S. 240), als deren Ausgangspunkt Humboldt den Mittelmeerraum annimmt. Quellenforschung zur Geographie seit den alten Griechen, Geschichte der Eroberungszüge und Entdeckungsreisen und der Fortschritt von Astronomie und Naturwissenschaft sind fesselnde Lektüre auch für uns moderne LeserInnen.Der dritte Band des „Kosmos“ referiert den damaligen Erkenntnisstand der Astronomie. Der Sternhimmel und unser Sonnensystem werden abgehandelt.

Der dynamische entwicklungsgeschichtliche Ansatz unterscheidet die Darstellung von den seinerzeit gängigen astronomischen Handbüchern. Der literarische Anspruch tritt zurück, die wissenschaftliche Materialsammlung dominiert.Im vierten Band wendet sich Humboldt den tellurischen Erscheinungen zu.

In Erweiterung des Naturgemäldes aus Band Eins betrachte er die Erde als Ganzes (Größe, Gestalt usw.) Dann befasst er sich mit der Reaktion des Erdinnern, d. h. mit dem weltweiten Vulkanismus und resultierenden Veränderungen der Erdkruste. Die magmatischen Gesteine werden behandelt. Auch in diesem Band dominiert der Materialreichtum.

Naturgemäß konnte der greise Autor mit einem solchem Monumentalwerk nicht zu Ende kommen. Der posthume fünfte Band enthält nur noch ein größeres Fragment zur Geologie (Vulkanismus, Gebirgsformationen) und den Apparat.Der beigelegte „Physikalische Atlas“ von Heinrich Berghaus, zuerst erschienen 1845-48 bei Perthes in Gotha, bietet auch die Teilgebiete, zu deren Ausarbeitung Humboldt aber nicht mehr gekommen ist: „Meteorologie und Klimatographie“, „Hydrologie und Hydrographie“, „Geologie“, „Magnetismus der Erde“, „Pflanzengeographie“, „Geographie der Tiere“, „Anthropographie“ und „Ethnographie“. /4/

Der Apparat des fünften Bandes fehlt in der Neuausgabe, vermutlich um die einbändige Edition nicht unnötig aufzublähen. Interessierte Leser werden auf den fünften Band der Erstausgabe verwiesen, der aber antiquarisch Goldstaub ist. Die Anmerkungen haben die Herausgeber zweckmäßig dem Text beigeordnet. Humboldt hatte sie seinerzeit ans Ende des jeweiligen Bandes gesetzt.

Der „Kosmos“ wandte sich an den bildungshungrigen Bürger des Biedermeiers. Er war ein herausragendes Produkt der naturwissenschaftlichen Aufklärung des 19. Jahrhunderts, beileibe kein Handbuch für Kolonisatoren. Die unendliche physische Welt bot keinen Platz mehr für Gott. Das machte Humboldts Weltbetrachtung den klerikalen Kreisen suspekt.

Auch deshalb galt sein Charakter manchen Zeitgenossen als problematisch.Die Biographen schildern Humboldt durchweg als einen äußerst höflichen, viel zu großzügigen Menschen und allzu freimütigen Gesprächspartner. Wenn einer ein sehr langes Leben in einem bedeutenden Bekanntenkreis mit einem hervorragenden Gedächtnis und kritischer Weltsicht verbindet und den Mund nicht halten kann, pflegt einiges zusammen zu kommen.Im Jahr 1855 sprach der alte Herr zu einem Potsdamer Lehrer: „In Deutschland gehören netto zwei Jahrhunderte dazu, um eine Dummheit abzuschaffen, nämlich eins, um sie einzusehen, das andere aber, um sie zu beseitigen.“ /5/

Anmerkungen/1/ Biedermann, Goethes Gespräche, Leipzig 1909, Bd. 2, S. 437/2/ Goethes Gespräche mit J.P. Eckermann, Leipzig 1908, Bd. 2, S. 279/3/ vgl. die Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin 1959, S. 409/4/ Kosmos, Die Andere Bibliothek 2014, Editorische Notiz, S. 934/5/ Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin 1959, S. 365


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