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Die Tyrannei der Liebe  – von Caroline Thompson

Wir sollten die Liebe nicht überbewerten, mahnt die in Paris arbeitende amerikanische Psychoanalytikerin.
ein Interview von Finn Canonica, 02.01.2009
02. Januar 2009

Frau Thompson, wie fest lieben Sie Ihre Tochter?

Was soll die Frage? Ich liebe meine Tochter sehr. Ich sage es ihr nur nicht alle drei Minuten.

Ihr Buch «Die Tyrannei der Liebe»* hat in Frankreich für einigen Wirbel gesorgt. Ihre Kritiker stellen Sie in eine reaktionäre Ecke. Es heisst, Sie wollten Kinder wie im19. Jahrhundert erziehen.

Ich habe ein Buch für Eltern geschrieben, die sich ihren Kindern nicht ausliefern oder gar unterwerfen wollen. Ich will nur, dass Eltern sich in ihrer Rolle sicherer und besser fühlen.

Und das soll auf Kosten der Kinder gehen?

Ich glaube nicht, dass kleine Kinder so genau wissen, was ihnen guttut und was nicht.

Ihr Buch liest sich wie ein Pamphlet gegen die Liebe.

Unsinn, sehe ich aus wie eine Frau ohne Liebesleben? Ich bin nur überzeugt, dass die Liebe, der Zustand des Verliebtseins, überbewertet wird. Die Liebe wird in unserer Zeit idealisiert wie in keiner anderen Epoche zuvor. Die Liebe ist zur Ideologie geworden. Liebe ist fast ein Befehl, man muss ständig lieben: seine Kinder, seinen Partner, seinen Job, alles Mögliche. Und dauernd fragen sich Leute: Liebe ich genug? Werde ich genug geliebt? Kein Wunder, entsteht so viel Unglück.

«Und wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts», heisst es in der Bibel, im «Hohelied der Liebe».

Die Liebe ist die schönste aller menschlichen Empfindungen, keine Frage. Aber es stört mich, dass heute in Diskussionen um die Qualität einer Beziehung Werte wie Familie, gegenseitige Unterstützung, Freundschaft, Solidarität in Krisenzeiten et cetera fast nebensächlich behandelt werden.

Vielleicht zählen diese Werte einfach nicht mehr,deshalb die hohen Scheidungsraten. Man sehnt sich offenbar nach Romantik in einer harten Welt.

In der steigenden Zahl von Scheidungen drückt sich kein Problem mit dem Modell von Ehe und Familie grundsätzlich aus. Im Gegenteil. Die hohe Scheidungsrate in allen Industrieländern ist Ausdruck einer fast perversen Idealisierung der Liebe innerhalb der Familie. In meiner Praxis sitzen Leute und halten sich für krank, weil sie ihren Ehepartner nicht mehr lieben wie am ersten Tag oder weil sie merken, dass sie ihre eigenen Kinder manchmal aus dem Fenster schmeissen könnten.

Glauben Sie grundsätzlich, dass Leute zu schnell aus Beziehungen aussteigen?

Ja, vor allem Eltern mit kleinen Kindern geben zu schnell auf. Es heisst dann, es sei das «Beste gewesen für das Kind» oder es sei nicht gut, wenn Kinder Beziehungen miterleben müssten, in denen die Leidenschaft fehle. Das sind absurde Argumente, so als ob kleine Kinder schon in der Lage wären, Beziehungen von Erwachsenen zu beurteilen.

Vielleicht sollten wir alle weniger lieben, in unserem eigenen Interesse?

So kann man das nicht sagen. Die Liebe muss ein Ideal bleiben, aber sie darf nicht idealisiert werden. Etwas zu idealisieren heisst, sich der Realität zu verweigern. Und in der Realität ist die Liebe immer ein ambivalentes Gefühl, es gibt keine Liebe ohne Hass. Ich werde immer dann misstrauisch, wenn Leute von reiner Liebe schwärmen. Solche Menschen neigen dazu, ihr Liebesobjekt irgendwann zu verachten, ihm vorzuwerfen, es sei ihrer Liebe nicht würdig.

In Ihrem Buch kritisieren Sie hauptsächlich die übertriebene Liebe, welche Eltern ihren Kindern entgegenbringen.

Ich kritisiere nicht, ich stelle nur fest, dass manche Mütter oder Väter sich mit ihren Kindern so verhalten, als befänden sie sich in einer Liebesbeziehung.

Sie urteilen hart und geben gleichzeitig keine Ratschläge.

Moment, ich habe keinen Ratgeber geschrieben. Ich mag Ratgeber nicht, sie sprechen einen immer als Opfer an. Aber ich glaube, es ist nützlich, wenn man gewisse Dinge durchschaut. In Bezug auf das Verhältnis zu einem Kind sollte man verstehen, wie sehr die Schwäche des Kindes uns zwingt, ständig präsent zu sein, es zu lieben. Dieser Druck kann vorübergehende Aggressionen gegen unsere eigenen Kinder wecken. Wer diese negativen Gefühle spürt, aber gleichzeitig glaubt, man müsse sein Kind immer mit Liebe überschütten, dreht durch.

Caroline Thompson

CAROLINE THOMPSON 2

Caroline Thompson ist New Yorkerin. Sie arbeitet als Psychoanalytikerin in der psychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche am Hôpital de la Pitié-Salpêtrière in Paris. Ihr Buch «Die Tyrannei der Liebe»* ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen.

 Buch Tyrannei der Liebe

"Die Tyrannei der Liebe"

Die Diskussion im Tages-Anzeiger-Magazin   – Kommentare

1. von Willy Wahl

Ich bin Finn Canonica dankbar für dieses Interview. Man kann mit zuviel Liebe Kindern gegenüber Zwang ausüben, da hat Frau Thompson vollkommen Recht. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie von Vielen missverstanden wird, gerade heute, wo “Liebe, Zuwendung, Wärme” in der Kindererziehung so en vogue sind. Die Regale für Erziehungsliteratur sind übervoll und doch nimmt die Zahl der “auffälligen Kinder” erschreckend zu. Das Buch “Warum unsere Kinder Tyrannen werden” ist zu einem Bestseller geworden. ADHS nimmt epidemische Formen an. Da Kinder aber weder als Tyrannen noch als “Zappelphilippe” auf die Welt kommen, muss etwas in der Eltern-Kind-Beziehung nicht stimmen.Vielleicht weiss Frau Thompson hierzu Hilfreiches zu sagen. Ich bin gespannt auf ihre Analyse im nächsten Heft.

2. von R. Kohli

AD(H)S ist keine Folge von Erziehungsfehlern!

Die Ursachen finden sich in neurobiologischen Funktionsstörungen aufgrund genetischer Faktoren. AD(H)S kann nicht durch Erziehungsfehler oder ungünstige Familienverhältnisse entstehen. Entweder ein Kind hat AD(H)S oder eben nicht. Der genetische Faktor findet sich in unserem Familienstammbaum bei mir. Ich habe selbst 3 Kinder. 2 davon sind nicht betroffen. Es liegt in der Hand der Eltern ob sie die Symptome begünstigen oder verschlimmern. Zu diesem Thema gibt es genug Literatur und Therapieformen.

3. von Willy Wahl

Das Problem mit ADHS ist die Diagnose. Schnell wird heute biologisiert und eine Hirnstoffwechselstörung diagnostiziert. Das Denkmuster der Biologisierung erfreut sich leider wachsender Beliebtheit und scheint sich in alle Lebensbereiche hinein auszudehnen. Warum unterstellt man so gerne und schnell, dass Kinder “hirngestört” sind, anstatt sie in ihrem So-Sein ernst zu nehmen und mit viel Zeit und Geduld nach ihrer Geschichte zu fragen? Mit „Wissenschaft“ hat das jedenfalls nichts zu tun, wie man im folgenden Beitrag sehen kann. Ich empfehle den Eröffnungsvortrag zum 6. ADHS-Symposium im Kinderzentrum Schwerin am 18.Oktober 2008 von Matthias Wenke.

Man findet ihn hier:
„ADHS“   – unaufmerksame Einheitsdiagnose für Alles?
http://www.seniora.org/adhs-ritalin/28-adhs-unaufmerksame-einheitsdiagnose-fuer-alles