Wie ich Erdogan traf und der Westen den Frieden in der Ukraine verspielte
«Toll, was ihr Schweizer da macht!»: Präsident Erdogan, Autor Ruch (l.), September 2021. Bild: Mustafa Kamacı
Im September 2021 überreichte ich Recep Tayyip Erdogan, dem Präsidenten der Republik Türkei, mein Beglaubigungsschreiben. Diese Zeremonie ist ein Muss für jeden Botschafter. Beglaubigungsschreiben sind schön gestaltete Dokumente, in denen das entsendende Staatsoberhaupt dem empfangenden Staatsoberhaupt bestätigt, dass der Gesandte sein volles Vertrauen geniesst und befugt ist, ihn als «ausserordentlicher und bevollmächtigter» Botschafter zu vertreten. Diese veralteten Formeln haben heute kaum noch eine Bedeutung. In Zeiten, in denen man drei Monate mit dem Schiff brauchte, um eine Anweisung aus der Hauptstadt zum Botschafter zu bringen, war das noch anders. Ein älterer Kollege erinnerte sich an eine Geschichte, die sich die Älteren erzählten, als er selbst in den diplomatischen Dienst eingetreten war. Ein Missionschef in Indien, der sich nach alten Sitten und Gebräuchen zurücksehnte, hatte eine Methode gefunden, um sich gegen eine äusserst destabilisierende technologische Neuerung zu wappnen: das Telefon. Wenn Bern ihn anrief, nahm er den Hörer zwar ab – zugegeben, sonst hätte es schlecht ausgesehen. Aber er hielt ihn in der Hand und brüllte: «Die Leitung ist schlecht! Schicken Sie eine Anweisung!» Und legte auf. Und die Anweisung kam Gott weiss, wann – mit dem Boot.
Zange und Zahnstocher
Das gibt es heute natürlich nicht mehr. Das Überreichen von Beglaubigungsschreiben und das Gewicht eines Botschafters ist heute sicherlich nicht mehr dasselbe, da wichtige Angelegenheiten direkt am Telefon oder per Whatsapp zwischen Ministern, Premierministern oder Präsidenten geregelt werden können. Aber eine Gelegenheit, das Staatsoberhaupt zu treffen, ist manchmal denkwürdig. Diejenige mit Recep Tayyip Erdogan war es aufgrund ihres ungewöhnlichen, ja sogar lustigen Verlaufs. RTE, wie er genannt wurde, las die Notizen, die seine Dienststellen für ihn vorbereitet hatten. Er war gerade bei den Wirtschaftsbeziehungen, als er mir direkt in die Augen schaute: «Herr Botschafter, lassen Sie uns vereinbaren, dass, wenn Sie die Türkei verlassen, unser Handelsvolumen auf 10 Milliarden pro Jahr angestiegen sein wird!» Wir waren bei etwas mehr als 5 Milliarden angelangt. Ich antwortete, dass dies nicht von mir, sondern vom Privatsektor abhänge, als ich sah, wie Erdogan etwas in seiner Hosentasche suchte. Er holte ein kleines Victorinox Messer heraus, das Modell Lilliput. «Das ist ja toll, was ihr Schweizer da macht!», schwärmte er. «Sehen Sie sich dieses Messer an: Es hat eine Schere, eine Zange und sogar, ja, sogar einen Zahnstocher!» Dann gab er einen Befehl, und zwanzig Sekunden später erhielten meine Delegation und ich jeweils ein kleines Messer mit dem Wappen der türkischen Präsidentschaft, auf dem die Initialen des Präsidenten prangten: RTE. Ich fand es lustig, aber auch ziemlich schmeichelhaft, dass der türkische Präsident dem Schweizer Botschafter ein Schweizer Taschenmesser schenkte. Im Gegenzug schickte ich ihm eine etwas verbesserte Version, natürlich mit Zahnstocher, aber auch mit Taschenlampe und Kugelschreiber. Mit seinem Namen eingraviert, wie es sich gehört.
Man brauchte drei Monate, um eine Anweisung aus der Hauptstadt zum Botschafter zu bringen.Als ich die Türkei verliess, hatte das Handelsvolumen die Zehn-Milliarden-Marke weit überschritten. 80 Prozent des Anstiegs waren allerdings auf das exponentielle Wachstum der Schweizer Goldexporte zurückzuführen. Und auf die Exporte von Rolex-Uhren. In einem Land mit einer dreistelligen Inflation sind Gold und Luxusuhren nach wie vor die bevorzugten Mittel, um den Wert des eigenen Einkommens zu erhalten! Victorinox und Rolex sind die beiden Zitzen der Schweizer Soft Power.
* * *
Der Vizeminister war ein erfahrener Diplomat. Er war eine Art türkischer Edouard Brunner. Er war es, der die Vermittlungsgespräche zwischen den Russen und den Ukrainern leitete. Im März hatte es zwei persönliche Treffen in Antalya und Istanbul gegeben, einen Monat nach dem Beginn der russischen Invasion. Die beiden Teams verhandelten weiterhin per Videokonferenz. Ignazio Cassis hatte seinen türkischen Amtskollegen, Aussenminister Mevlüt Çavusoglu, einige Tage zuvor angerufen. Dieser hatte sein Ministerium angewiesen, uns gegenüber völlig transparent zu sein. So tat sich eine Möglichkeit für die Schweiz auf, sich an der türkischen Vermittlung zu beteiligen. Nach diesem Anruf erklärte sich der Vizeminister bereit, mich am 13. April 2022 zu empfangen, und informierte mich ausführlich über den Stand der Verhandlungen, die inhaltlich gut vorankamen. Bei den vier heiklen Punkten zeichneten sich Bereiche ab, wo eine Einigung erzielt werden könnte:
– Die Lösung territorialer Fragen um fünfzehn Jahre hinausschieben;
– Entnazifizierung: symbolische Massnahmen wie die Änderung von Strassennamen und das Ablegen von militärischen Abzeichen, die an die ukrainischen Nazi-Brigaden des Zweiten Weltkriegs erinnern;
– Abrüstung: Einrichtung entmilitarisierter Zonen, Massnah- men zur gegenseitigen Abrüstung;
– Neutralität der Ukraine mit Sicherheitsgarantien von Drittstaaten.
Bezüglich des letzten Punkts fragte mich der Vizeminister, ob die Schweiz interessiert wäre, denn, so sagte er: «Wir haben keine Erfahrung mit der Neutralität, während Sie das anerkannte Vorbild sind.»
Ich schätzte diese Offenheit und freute mich schon darauf, dazu beitragen zu können, diesen sinnlosen Krieg schnell zu beenden.
«Aber», fuhr er fort, «ich bin nicht optimistisch. Es gibt einige westliche Mächte, die eine globale Agenda verfolgen.» Fünf Tage zuvor, am 8. April, war Boris Johnson in Kiew gewesen, um die Ukrainer zur Fortsetzung des Krieges zu ermutigen. Später wurde mir gesagt, dass Selenskyj nichts gegen einen schnellen Waffenstillstand einzuwenden gehabt hätte. Doch er musste sich mit den Hardlinern in seinem Regime arrangieren, die durch Signale aus London und Washington ermutigt worden waren. Am 26. April er- klärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass es Washingtons Ziel sei, Russland zu schwächen. Das war das Ende der Hoffnungen auf die türkische Vermittlung mit Schweizer Beteiligung.
«Wir haben keine Erfahrung mit der Neutralität, während Sie das anerkannte Vorbild sind.»Es gab noch einen Moment, in dem die Schweiz ihren Fuss in die Tür hätte setzen und eine nützliche Rolle hätte spielen können. Mitte Mai 2022 hatten russische Soldaten die Schlüsselstadt Mariupol ein- genommen und damit die Krim auf dem Landweg mit Russland verbunden. Rund 1500 ukrainische Kämpfer wurden im riesigen Stahlkomplex Asowstal belagert. Die Vereinten Nationen und die Türkei versuchten, einen Ausweg zu finden. Die Schweiz wurde angesprochen. Sie wurde gefragt, ob sie damit einverstanden wäre, ukrainische Soldaten zu internieren. Nach internationalem Recht würde dies voraussetzen, dass sie bis zum Ende des Krieges in der Schweiz bleiben würden.
Die Schweiz hat in diesem Bereich eine lange Erfahrung. Im Februar 1871 internierte die Schweiz die Armee von General Bourbaki, die gegen die Armee Bismarcks eine Niederlage erlitten hatte. 87 847 französische Soldaten wurden aufgenommen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden rund 42 000 Soldaten, Franzosen (30 000) und Polen (12 000), in der Eidgenossenschaft interniert. Meine Familie, die Ganguin, Bauern aus Eschert, nahm zwei von ihnen als Hofbedienstete auf. Es gab sogar eine Romanze zwischen meiner Tante Madeleine und einem von ihnen. Auf dem Bauernhof gibt es noch heute ein Zimmer, das wir «das Polenzimmer» nennen. Noch 1982 stimmte die Schweiz zu, eine kleine Anzahl von sowjetischen Soldaten zu internieren, die von afghanischen Widerstandskämpfern gefangen genommen worden waren.
Grosszügige Geste Berns
Als Bern mich anrief, um zu hören, wo die Türken standen, rief ich Ibrahim Kalin, den politischen Berater von Präsident Erdogan, an. Wir hatten uns zur Zeit des Arabischen Frühlings oft gesehen und schätzten uns gegenseitig sehr. Seine Rolle als Schattenaussenminister liess ihm wenig Zeit, und er war sehr schwer zu erreichen. Ich hinterliess ihm eine Whatsapp-Nachricht. Er rief mich sofort zurück, was zeigte, dass die Angelegenheit ernst war. Im Wesentlichen bestätigte er, dass die Unterstützung der Schweiz beim Erreichen einer friedlichen Lösung für die Belagerung von Asowstal durch die Internierung ukrainischer Soldaten willkommen wäre. Ich erstattete dem EDA sofort Bericht und ... hörte nichts mehr. Später erfuhr ich, dass es in Bern Treffen zwischen den zuständigen Stellen gegeben hatte. Die Diplomaten waren für eine grosszügige Geste der Schweiz, die Armee und die Polizei dagegen. Schliesslich einigte man sich auf den Vorschlag, zwanzig Ukrainer aufzunehmen. Es wurde nichts weiter unternommen. Die Belagerten ergaben sich den Russen.
Ich war ein wenig verblüfft über die Bescheidenheit unseres Angebots. Die arme Schweiz des 19. Jahrhunderts schaffte es, fast 90 000 Soldaten aufzunehmen, die reiche Schweiz des 21. weigerte sich, mehr als zwanzig von ihnen zu internieren. Reichtum macht nicht grosszügig.
Quelle: https://weltwoche.ch/story/wie-ich-erdogan-traf-und-der-westen-den-frieden-in-der-ukraine-verspielte/
Mit freundlicher Genehmigung von Weltwoche.ch
Foto eingefügt seniora.org