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Noch einmal wie nach dem 11. September?

von Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Berufsschullehrer in Deutschland und unterrichtet Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde.
18. November 2015
«Der Krieg gegen den Terror kann 50 Jahre und länger dauern.»  – Dieser Satz stammt vom ehemaligen Vizepräsidenten der USA, Dick Cheney. Muss man nicht an diesen Satz denken, wenn seit den Anschlägen in Paris am 13. November 2015 auch der französische Staatspräsident François Hollande davon spricht, sein Land befinde sich nun im Krieg?

Viele der derzeitigen prominenten Stellungnahmen erinnern an die vielen öffentlichen Worte in den Tagen, Wochen und Monaten nach dem 11. September 2001. Die Befolgung dieser Worte hat die Welt in den vergangenen 14 Jahren nicht sicherer gemacht. Im Gegenteil.

Frankreich fordert Bündnispflicht …

Am 17. November hat die französische Regierung die Mitgliedsstaaten der EU auf Artikel 42 des EU-Vertrages verwiesen und die dort vorgesehene «Unterstützung» angefordert. Artikel 42 des EU-Vertrages enthält Bestimmungen zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dessen siebter Absatz lautet im ersten Satz: «Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 (siehe: https://dejure.org/gesetze/EU/51.html) der Charta der Vereinten Nationen.» Absatz 7 wird gemeinhin auch als «Bündnisfall» in der EU bezeichnet und fordert von den anderen EU-Mitgliedstaaten mehr als Artikel 5 des Nato-Vertrages. Während der Nato-Vertrag den Mitgliedstaaten der Nato weitgehend freie Hand darüber lässt, wie sie ihren Bündnisverpflichtungen nachkommen, fordert Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags von den anderen Mitgliedstaaten, dem Staat, der einen bewaffneten Angriff auf sein Hoheitsgebiet erleiden musste, «alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung» zu gewähren. Artikel 42, Absatz 7 unterstellt den Kriegszustand.

… und Deutschland stimmt zu

Äusserten am 16. November noch einige deutsche Medien und Politiker grosse Bedenken gegen den Gebrauch des Wortes «Krieg» im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 13. November, so teilte die Bundesregierung in einer Presseerklärung vom 17. November mit   – die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zitierend   –, auch Deutschland werde «alles in [seiner] Macht stehende tun, um Hilfe und Unterstützung» zu leisten. Damit hat die deutsche Verteidigungsministerin den Wortlaut von Artikel 42, Absatz 7 EU-Vertrag übernommen und sich der Deutung des französischen Präsidenten angeschlossen, Frankreich befinde sich seit dem 13. November im Kriegszustand. Die Pressemitteilung der Bundesregierung referiert dann auch ohne jegliche Distanz oder Einschränkung den Antrag Frankreichs auf Anwendung von Artikel 42, Absatz 7.

Am Ende der Pressemitteilung heisst es: «Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bereits am vergangenen Samstag mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande telefoniert. Sie verurteilte die barbarischen terroristischen Anschläge auf das Schärfste und betonte, dass Deutschland fest an der Seite Frankreichs stehe. Deutschland werde Paris bei der Bekämpfung des Terrorismus jede gewünschte Unterstützung zukommen lassen, so Merkel. ‹Dieser Angriff auf die Freiheit gilt nicht nur Paris   – er meint uns alle und er trifft uns alle. Deswegen werden wir auch alle gemeinsam die Antwort geben›, so Merkel.»

Sind die ernsthaften Bedenken nur noch Makulatur?

Noch am 16. November hatte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Rainer Arnold, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk gewarnt: «Ich denke noch sehr an unsere Entscheidungen bezüglich Afghanistan, und ich selbst, aber wahrscheinlich auch andere Parlamentarier haben dort auch unter einem hohen emotionalen Druck diskutiert. Ich habe mir damals vorgenommen, das darf sich bei aller Tragik nicht wiederholen. Wir müssen das tun, was sinnvoll ist. Wir müssen klug arbeitsteilig vorgehen, und natürlich wird man in dieser Allianz gegen den Terror darüber reden müssen, was muss zusätzlich geleistet werden, und da wird Deutschland dann auch gefragt, was können wir mehr tun, und darüber werden wir dann reden. Aber jetzt eine Debatte zum Beispiel über den Bündnisfall uns von ein paar Generalen, vielleicht auch von ein paar Medien aufzwingen zu lassen, dies halte ich nicht für angesagt.» Ist das am 17. November alles nur noch Makulatur?

Wer gedenkt der Opfer von Gewalt und Krieg in der ganzen Welt?

Für Montag, den 16. November, hatten die Staats- und Regierungschefs der EU alle Bürger in der EU dazu aufgerufen, um 12:00 Uhr eine Schweigeminute im Gedenken an die Opfer von Paris einzulegen. Politiker sprachen davon, nun gehe es um Solidarität und darum, gemeinsam die Werte Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Deutsche Kultusminister schrieben am Morgen des Tages an die Schulen ihrer Länder, auch alle Schüler schweigen zu lassen.

Was ist davon zu halten? Leider wurde der Montag nicht dafür genutzt, aller Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken. Leider wurde nicht darüber gesprochen, welche Vorgeschichte und welche Zusammenhänge es hat, dass junge Menschen derart abgeglitten sind, so von Hass und Wahn erfüllt sind, dass sie das Leben von mehr als 100 Menschen zerstören und dabei auch ihr eigenes Leben wegwerfen?

Willy Wimmer: «IS ist eine Schöpfung der von unseren Freunden organisierten Hölle»

Willy Wimmer, der mehr als 30 Jahre für die CDU im Deutschen Bundestag saß und Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium war, hat zwei Tage nach den Anschlägen von Paris geschrieben: «Unsere Erfahrungen lehren uns, dass vom Augenblick des Anschlages an interessierte Kräfte ein derart scheußliches Verbrechen für ihre Zwecke nutzen und unter Umständen noch nicht einmal den Zeitpunkt des Massakers abwarten mussten. Erinnern wir uns: Es war Mitte der neunziger Jahre, als hohe Verantwortliche des US-Außenministeriums von den bis dato bei uns kaum bekannten Taliban in Afghanistan als ‹unseren Jungs› sprachen. Es wurde die überraschende Erkenntnis nachgeschoben, dass man ‹Afghanen mieten, aber nicht kaufen könne›. Mieten natürlich bei der Durchsetzung der eigenen Interessen. Seither zieht sich eine Blutspur bekannter Finanziers bei den bis zum IS reichenden Terrororganisationen durch die jüngere Zeit. Staaten werden da genannt, die die Finger im Spiel haben. Diese Veröffentlichungen sind so zahlreich, dass man von der Flut fast erschlagen wird. Unter den genannten befinden sich seit den Mudschaheddin und Taliban an der Spitze die USA, die nichts auslassen, aber auch saudische, katarische aber leider auch französische und britische Kräfte. Man muss nur in den hiesigen Zeitungen nachlesen, wie deutlich davon geschrieben worden ist, als von diesen Staaten oder Kräften der heutige syrische Bürgerkrieg befeuert worden ist. Ohne diese Kräfte hätte es hunderttausende Opfer in Syrien nicht gegeben. […] Der IS ist doch eine Schöpfung der von unseren Freunden organisierten Hölle.»

Darf man so etwas jetzt noch schreiben? Schwächt das nicht die Abwehrbereitschaft und die berechtigte Abwehr gegen terroristische Angriffe? Ja, man muss so etwas gerade jetzt wieder schreiben. So lange es keine Ehrlichkeit im Kampf gegen den Terrorismus gibt, ist denjenigen, die vorgeben, gegen den Terrorismus kämpfen zu wollen, nicht über den Weg zu trauen.

«Krieg ist immer eine Niederlage für die Menschheit»

«Krieg bedeutet immer das Scheitern des Friedens, er ist immer eine Niederlage für die Menschheit.»   – Das hat der Papst vor mehr als 2 Jahren gesagt. Warum sollte sich daran etwas geändert haben? Würde es nicht viel weniger Leid und Zerstörung bedeuten, wenn sich die Weltgemeinschaft darauf einigt, alle Kräfte, die Terrorakte begehen, mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen, mögen sie sich nun Islamischer Staat oder wie auch immer nennen   – und: keine Waffen mehr zu liefern, kein Öl mehr abzukaufen, kein Geld mehr zur Verfügung zu stellen, keine Rückzugsmöglichkeiten mehr anzubieten usw. usw.   – statt wieder einmal zu einem Krieg aufzurufen?

Wäre es nicht wirklich sinnvoll, das Recht zu befragen, bevor man wieder einmal wie so oft in den vergangenen 25 Jahren das Recht bricht?

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