TV-Tip: ARTE wiederholt am 2. April eine sehr informative Dokumentation
Nachstehend eine ausführliche Beschreibung:
Im Laufe der knapp hundert Jahre von der Unabhängigkeit Griechenlands 1830 bis zu den Balkankriegen zwischen 1912 und 1913 hat sich das Osmanische Reich nach fast 500-jähriger Präsenz auf dem Balkan endgültig aus Europa zurückgezogen. Die gemeinsame Vergangenheit wird von nationalen Geschichtsschreibern zwar oftmals heruntergespielt, aber die Balkanstaaten sind, wie Mark Mazower von der Columbia University hervorhebt, vom komplexen Zusammenleben christlicher, muslimischer und jüdischer Völker eindeutig geprägt.
Vielleicht handelte es sich eher um ein "Nebeneinanderher-Leben", das auf den im Osmanischen Millet-System organisierten Glaubensgemeinschaften basierte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben sich die religiösen Identitäten der Region dann langsam zu klaren nationalen Identitäten hin entwickelt, die Menschen sahen sich fortan als Serben, Griechen, Bulgaren und so fort. Und diese Identitäten bergen noch heute ein großes Konfliktpotenzial.
Das Bestreben der großen europäischen Mächte, sich Ressourcen und Gebiete des Osmanischen Reichs anzueignen, und die Unfähigkeit des Reiches, Reformen umzusetzen, führten zusammen mit dem aufkommenden Nationalismus zum definitiven Ende der Osmanen in Europa. Auch der mächtige Sultan Abdülhamid II., von 1876 bis 1909 an der Macht, konnte daran nichts mehr ändern – er wurde gestürzt. Und mit der nationalistischen Revolution der Jungtürken war das Osmanische Reich endgültig dem Untergang geweiht.
Anhand von seltenem Bild- und Filmmaterial sowie von Beiträgen internationaler Historiker wird in dieser zweiteiligen Dokumentation das letzte Jahrhundert des Osmanischen Reichs analysiert und versucht, sein Ende zu verstehen.
Das Osmanische Reich war schon geschwächt, als es 1914 an der Seite von Deutschland und Österreich-Ungarn in den Krieg eintrat. An allen Ecken und Enden des Reiches, das sich mittlerweile auf Kleinasien – Anatolien – und die letzten Provinzen in Syrien, Palästina, Mesopotamien und Hedschas beschränkte, wurde gekämpft. Zu Zeiten dieser Beschränkung auf den "harten anatolischen und muslimischen Kern" des Osmanischen Reichs, wie der Politologe Hamit Bozarslan es bezeichnet, wird mit der Vernichtung der Armenier, der in Anatolien lebenden Christen, der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts verübt.
Vor diesem Hintergrund muss man auch die Versuche des Reichs- nun in den Händen der Jungtürken – sehen, seinen Einfluss auf die verbliebenen arabischen Provinzen zu wahren, die als letzte Bastion angesehen wurden. Aber auch die arabischen Völker waren es leid, zentral von Istanbul aus regiert zu werden, und verfolgten nationale Bestrebungen. Durch die 1916 von Hussein, Scherif von Mekka, angestoßene Revolte wurde die Spaltung besiegelt. Und die Feinde des Reiches wussten die Gunst der Stunde zu nutzen. Briten und Franzosen spielten die Ambitionen der Araber gegenüber den Osmanen aus, nur um anschließend die Versprechen an die arabischen Herrscher schnell wieder zu vergessen und ihren eigenen Vorteil daraus zu ziehen.
Was vom Osmanischen Reich noch übrig geblieben war, wurde in künstlich geformte Nationalstaaten mit umstrittenen Grenzen gegossen. Die Entstehung von Ländern wie Libanon, Syrien, Palästina, Transjordanien oder Irak ist vor allem auf das Expansionsstreben der Briten und Franzosen zurückzuführen.
Als die Siegermächte 1921 versuchten, das untergehende Osmanische Reich in enge Grenzen zu verweisen, ergriff der türkische Offizier Mustafa Kemal die Führung der starken türkischen Nationalbewegung. Er bekämpfte die Alliierten ebenso wie die letzten treuen Anhänger des Reichs, schaffte das Sultanat ab und rief 1923 die Republik Türkei aus.
Um die Gebiete, in denen vormals unterschiedliche Bevölkerungen lebten, zu "homogenisieren", wies die Türkei mehr als eine Million Christen nach Griechenland aus, von wo aus wiederum die dort noch verbliebene muslimische Bevölkerung deportiert wurde. Dieser Bevölkerungstausch besiegelte endgültig den Sieg der Nationalstaaten über das Osmanische Reich.
Mit österlichen Grüßen
Siegfried Ullmann
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