Interview mit Dr. Toni Locher, Frauenarzt und Honorarkonsul Eritreas in der Schweiz
faktuell.ch: Herr Locher, ein Viertel der Asylgesuche in der Schweiz haben 2015 Eritreer gestellt. Eritrea gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Wie haben sich die 10‘000 Menschen ihre Reise ins Zielland Schweiz finanziert?
Toni Locher: Die Migration aus Eritrea in die Schweiz basiert auf Schuldenmachen. Die Jungen haben meistens kein Geld. Begüterte und gut ausgebildete Eritreer gehen nach Angola, da lässt sich gutes Geld machen. Gut ausgebildete Ärzte wählen den Südsudan, Ingenieure die Golfstaaten, Südafrika, Kenia, Ruanda…
faktuell.ch: …hält sie ein zu geringer Verdienst davon ab, die Schweiz zu wählen?
Toni Locher: Nein, aber ihre Ausbildung wird dort anerkannt und in Dubai dürfte ein eritreischer Ingenieur wirklich viel mehr verdienen als in der Schweiz. Zu uns kommen heute die weniger gut Ausgebildeten, die wenig Geld haben. Sie verschulden sich auf der horrend teuren Reise durch die Hölle von Libyen und wenn sie in der Schweiz ankommen, sind sie bedürftig und leben von der Sozialhilfe.
faktuell.ch: Eine Gruppe von Politikerinnen und Politikern ist kürzlich privat nach Eritrea gereist, um vor Ort herauszufinden, ob eritreische Asylbewerber nach Hause geschickt werden könnten. Was hat die Politikerreise aus Ihrer Sicht gebracht?
Toni Locher: Es kann etwas Bewegung in die „verhockte“ Politik bringen. Das Staatssekretariat für Migration ist nämlich noch völlig auf Abwehr fixiert. Da habe ich das Gefühl, ich sei im falschen Film. In der EU ist die Flüchtlingskrise ein Dauerthema. Österreich macht die Grenzen zu wie auch Schweden, das die Eritreer bisher grosszügig aufgenommen hat und auch Deutschland wird kippen. Und was passiert? Die Eritreer werden im Frühling wieder in grosser Zahl im Chiasso ankommen. Will man sie dann nach Deutschland durchreichen?
faktuell.ch: Gehen wir eine Etage höher: Justizministerin Simonetta Sommaruga bezeichnet Eritrea als Willkür- und Unrechtsstaat. Erschwert sie mit solchen Aussagen ein Rücknahme-Abkommen?
Toni Locher: Das ist diplomatisch nicht besonders geschickt. Im Gespräch auf Augenhöhe könnte man die Migrationsproblematik im gegenseitigen Interesse genauer ansehen. Es geht ja nicht um Flucht, sondern um eine Arbeitsmigration aus Perspektivlosigkeit.
faktuell.ch: Sollte die Schweiz von sich aus einer gewissen Anzahl Eritreern anbieten, sich in der Schweiz niederlassen zu können…
Toni Locher: … vielleicht ein paar hundert, die in der Schweiz eine Berufsausbildung machen können, warum nicht? Oder auch Studenten. Eritrea schickt Stipendianten in die Emirate, nach Südafrika und China. Für diese Leute wäre ein Aufenthalt in der Schweiz auch sinnvoll, weil sie nicht in der Sozialhilfe landen, sondern nach der Ausbildung vielleicht wieder zurückgehen. Unser duales Berufsbildungssystem ist ausserdem der Exportschlager par excellence. Für das, was Eritrea braucht an Ausbildung, wäre die Schweiz optimal aufgestellt.
Die EU hat Ende 2015 200 Mio. Euro für Eritrea budgetiert, die sie zum grossen Teil in Solarenergie investieren will, um die schwierige Energiesituation in den Griff zu bekommen und zu vermeiden, dass die Leute vom Land in die Stadt ziehen. Für den Unterhalt könnten wir landesweit ein paar hundert Solar-Techniker ausbilden. Und: Velos sind das wichtigste Verkehrsmittel in Eritrea. "Velafrica" schickt im Auftrag des Schweizerischen Unterstützungskomitees für Eritrea (SUKE) pro Jahr 2000 Velos dorthin und wir könnten vor Ort Velo-Mechaniker ausbilden, die sie reparieren können. Handwerker braucht das Land. Wir können sie schulen. Ein Gewinn für beide Seiten
faktuell.ch: Hat sich Bundesrätin Sommaruga mit Ihnen unterhalten?
Toni Locher: Nein, ich bin ja auch nicht ihr Berater. Im SEM gibt es zu Eritrea durchaus Länderexperten. Die gehen im März nach Eritrea. Das ist nicht schlecht. Eigenartig im europäischen Umfeld ist allerdings, dass z.B. Deutschland, Finnland, Italien und Norwegen Leute auf Stufe Minister oder Staatssekretär entsandt haben. Nur die Schweiz, die das grösste Kontingent an Eritreern hat, will jetzt eine niederrangige Beamtendelegation schicken. Das ist diplomatisch ungeschickt.
Ebenso ungeschickt ist es, wenn unsere Asylministerin Sommaruga Äthiopien als Bundespräsidentin einen Staatsbesuch abstattet, sich dort mit militärischen Ehren empfangen lässt und ein Gebiet im Osten besucht, das menschenrechtlich höchst umstritten ist. Und Eritrea wird als Diktatur beschimpft. Weshalb ist es nicht möglich, gelassen eine Neueinschätzung der Lage vorzunehmen, statt zu mauern? Frau Sommaruga bezieht sich immer auf Europa und will eine europäische Lösung. Die europäischen Länder gehen einfach hin und reden mit den Eritreern auf Augenhöhe.
faktuell.ch: Sie kennen die eritreische Kultur. Wie integrierbar sind Eritreer bei uns?
Toni Locher: Eritreer sind „hard working“, sehr arbeitsam. Man nannte die ältere Generation „die Preussen Afrikas“. Die Jungen haben andere Lebensperspektiven und sind verführt von der westlichen Lebensweise. Es lohnt sich, historisch zu beurteilen, wie die ganze Migration entstanden ist. Die erste Phase der Migration fand während der italienischen Kolonialzeit statt.
Viele Italiener wanderten aus und siedelten sich in Asmara an. Schöne Lage, angenehmes Klima. Umgekehrt gingen Eritreer, insbesondere eritreische Frauen, nach Italien, um in herrschaftlichen italienischen Haushalten zu arbeiten. In den 1950er und 1960er Jahren – während der Föderation und der späteren Annexion durch Äthiopien – kam es zu kleineren Migrationswellen, zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges 1961 bis 1991 auch zu Fluchtbewegungen. Diese erste Flüchtlingsgeneration nähert sich unterdessen dem Rentenalter, ist gut integriert und verdient ihr eigenes Geld.
faktuell.ch: Und jetzt haben wir es mit einer neuen Generation zu tun…
Toni Locher: 2005 erliess die Asylrekurs-Kommission das Urteil, wonach in der Schweiz Dienstverweigerer Asyl erhalten. Das UNHCR anerkannte 2009 alle Eritreer, die das Land verlassen automatisch als Flüchtlinge. Das war ein Blanko-Papier für junge, clevere Eritreer, sich auf den Weg zu machen. Daraus sind ein Pull-Faktor und damit ein gut organisiertes Schlepper-Business entstanden. Diese gegenwärtigen jungen Männer sind nicht mehr gut integrierbar. Ihre Probleme sind mangelnde Bildung und Sprachkenntnisse und wir haben in der Schweiz zu wenige Niedriglohn-Arbeitsplätze. Wir sind mit der langfristigen Integration überfordert und das kann nur schlechter und schlimmer werden. Auch für die jungen Eritreer.
faktuell.ch: Was bedeutet dies für den regionalen Konflikt?
Toni Locher: Es ist Äthiopiens erklärtes Ziel, Eritrea wieder zu annektieren oder zumindest den Hafen Assab zurückzuerobern. Wenn die Eritreer ihr Land weiter in der jetzigen Frequenz verlassen, könnte dies eine militärische Okkupation überflüssig machen…
faktuell.ch: Was erwartet das eritreische Staatsoberhaupt Isayas Afewerki von der Schweizer Regierung?
Toni Locher: Es tut Eritrea weh, wenn die Jungen abwandern. Das ist nicht gut für ein kleines Land mit 3,5 Millionen Einwohnern und einer Million Staatsbürgern im Ausland. Eritrea gibt 45 Prozent seines Budgets für Bildung aus – vom Kindergarten über die Schule bis zur Hochschule. Der „brain drain“, die Abwanderung gut Ausgebildeter, ist eine Bürde für ein armes Land, das sie im laufenden Prozess des „nation building“ dringend nötig hätte.
faktuell.ch: Wenn Eritreer in der Schweiz Asyl erhalten, kann man ihre Geldüberweisungen aus unseren Sozialwerken als Entwicklungshilfe betrachten. Macht sich die Schweiz aber nicht auch der kolonialistischen Ausbeutung schuldig, indem sie dem Land die „Ressource“ Mensch entzieht?
Toni Locher: Die Eritreer sind ein sehr stolzes Volk. Es tut den Älteren sehr weh, wenn die Jungen eine höllische Reise in Kauf nehmen, um nach Europa abzuhauen, dort erst mal mit Desinfektionsmitteln abgesprüht werden und merken, dass sie nicht willkommen sind. Das ist nicht gut für ihre Seele. Eritrea kennt eine starke Wertegemeinschaft, die Familie, auf die sich die Jungen in Europa nicht mehr abstützen können. Der Mix von Frustration, Ablehnung und Langeweile führt dazu, dass sie ins soziale Elend abgleiten, sich mit Alkohol betäuben oder gar Suizid begehen. Sie sind wie verlorene Söhne und Töchter. Wir haben zwar ein ausgezeichnetes Sozialnetz. Aber junge Männer, die auf Jahre hinaus auf Sozialhilfe sind – das ist für mich kein Leben in Würde.
faktuell.ch: Wie kommt es, dass minderjährige Kinder aus Eritrea bei uns auftauchen?
Toni Locher: Die Eltern versuchen, ihre Kinder mit Strenge oder Überzeugungskraft zurückzuhalten, aber diese hauen einfach ab. Die jungen Eritreer sind über Social Media in ihren Peer Groups vernetzt und gut informiert. In Internet- Cafés ist das Hauptthema, wie man gut nach Europa und in das Land mit den besten Bedingungen kommt. Nach 2005 (Dienstverweigerung in Eritrea berechtigt zu Asyl) ist das die Schweiz. Vorher war die eritreische Diaspora in der Schweiz ganz klein. Jetzt ist die Türe offen – daran hat auch die Asylgesetzrevision 2013 nicht viel geändert. Der Sog ist da. Die Diaspora zahlt, wenn ein Minderjähriger gegen den Willen der Eltern abhaut. Es ist für die Verwandten schwierig, finanzielle Hilfe abzulehnen. Der Junge kann auch nicht zurück, weil er sein Gesicht wahren will.
faktuell.ch: Und wer Asyl beantragt hat, bleibt vorerst im Aufnahmeland…
Toni Locher: …da kommt das internationale Non-refoulement-Prinzip zum Tragen. Das nehmen die Schweiz und Eritrea sehr ernst. Es bleibt also nur die freiwillige Rückkehr. Rückschaffungen könnte man diskutieren im Rahmen eines Rückübernahme- und Migrationsabkommens. Dafür muss der Dialog aufgenommen werden. Gerade weil in Eritrea niemand an Leib und Leben bedroht ist, wäre es eine Win-Win-Situation. Ich plädiere für eine Öffnung von beiden Seiten. Die Schweiz und Eritrea sind beide kleine und gebirgige Länder mit vielen Berührungspunkten.
faktuell.ch: Das würde eine ständige Vertretung der Schweiz in Eritrea bedingen. Setzt die Schweiz falsche Prioritäten bei ihren diplomatischen Vertretungen?
Toni Locher: Ja natürlich. Wir haben ein derart grosses Eritreer-Problem und der Botschafter sitzt im entfernten Khartum, im Sudan. Weshalb nicht in Eritrea? Dass man die richtigen Schwerpunkte setzen kann, macht die EU vor. Die EU, Deutschland, Italien, Frankreich, Grossbritannien und die USA sind vor Ort vertreten und machen differenzierte Analysen der Lage.
faktuell.ch: Asylgrund Nummer eins der Eritreer in der Schweiz ist der „Nationaldienst“ – der obligatorische Militär-und Zivildienst. Ist dieser Nationaldienst mit der schweizerischen Wehrpflicht zu vergleichen, die man von 1950 bis 1960 bis ins hohe Alter von 60 zu erfüllen hatte und dann bis 1995 immerhin noch bis 45?
Toni Locher: Der eritreische Nationaldienst hat sogar Elemente des schweizerischen Systems übernommen. Laut Proklamation von 1994 dient der Nationaldienst nicht nur der Verteidigung dieser jungen Nation, sondern auch der Staatsbildung, indem sich alle Volksgruppen und Religionen kennenlernen. Daran hatte damals niemand etwas auszusetzen. In Friedenszeiten dauert der Nationaldienst 18 Monate. Weil Äthiopien die Kriegserklärung von 1998 nicht zurückgenommen hat und regelmässig Drohungen ausspricht, gilt de facto ein Kriegszustand. Das heisst, dass der Nationaldienst verlängert werden kann. Dies entspricht der Mobilmachung in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Das ist eine enorme Belastung für das Land, auch eine ökonomische, weil die Soldaten einen kleinen Lohn erhalten, der seit dem 5. Juli 2015 von 500 auf 2000 Nakfa (133 Franken) erhöht wurde. Für die Jungen ist die Situation natürlich hart und schwierig. Aber für einen jungen und armen Staat ist es wichtig, dass sich jeder engagiert für den Wiederaufbau des Landes. Eritrea braucht die jungen Leute in allen Bereichen. Zu 80 Prozent leisten sie zivilen Dienst und sind in den Ministerien tätig.
faktuell.ch: Eritrea ist erst seit 1991 von Äthiopien unabhängig und in Sachen Verteidigung wachsam. Spielen wir uns allzu sehr als Schulmeister in Sachen Demokratie über dieses junge Land auf? Zum Vergleich: Wir – seit der Gründung 1848 von Kriegen verschont – haben vom Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1990er-Jahre rund 10‘000 junge Schweizer Dienstverweigerer durch die Militärjustiz aburteilen lassen und für mehrere Monate bis über ein Jahr hinter Gitter gebracht. Nachdem sie die Strafe abgesessen hatten, wurde viele von ihnen im Beruf diskriminiert und in Einzelfällen sogar Heiratsverbote erlassen…
Toni Locher: … es ist praktisch in allen Ländern so, dass Desertion strafrechtlich geahndet wird. Was es in Eritrea bisher nicht gibt, ist das Recht auf Dienstverweigerung. In den letzten zwei Jahren der Öffnung des Landes wird Desertion nicht mehr bestraft, Rückkehrer müssen allenfalls ein paar Monate Nationaldienst nachleisten.
faktuell.ch: Inwiefern übt die eritreische Botschaft in Genf Druck auf die Eritreer aus, einen Teil ihrer Einnahmen abzuliefern?
Toni Locher: Es gibt seit 1991 das 2-Prozent-Gesetz. Leute, die nicht direkt zur Unabhängigkeit des Landes beitragen, keine Toten und Verletzten zu beklagen haben und im Ausland gut verdienen, tragen 2 Prozent ihres Einkommens zum Aufbau des Landes bei. Diesen Beitrag leisten Eritreer, die mit ihrem Land verbunden sind und auch wieder zurückkehren wollen. Die Jungen zahlen praktisch nie. Die haben andere Sorgen und Bedürfnisse.
faktuell.ch: Könnte es für schweizerische Fachkräfte verlockend sein, in Eritrea zu arbeiten oder für Rentner, dort ihren Lebensabend zu verbringen?
Toni Locher: Die alte Diaspora-Generation kehrt – wie viele Italiener – im Alter wieder in die Heimat zurück. Es ist ihnen hier viel zu kalt und zu neblig. Etwas ausserhalb von Asmara hat es ganze Quartiere mit Neubauten, die von Diaspora-Rückkehrern bewohnt werden. Ich kann mir vorstellen, dass Eritrea auch für Schweizer zu einer beliebten Reise- und Altersdestination werden könnte: Das Klima ist sehr angenehm, alles ist sauber, absolut keine Kriminalität. Rentner müssten keine Angst vor Einbrüchen haben. Eritrea hat weltweit die niedrigste Einbruchsrate. Das hat mit der Kultur, mit den Werten des Landes zu tun. Und wir sollten endlich aufhören mit der Diffamierung dieses kleinen Landes. Dahinter steckt der Konflikt Äthiopien-Eritrea. Die Schweiz, die Millionen an Äthiopien gibt, könnte auch etwas Druck ausüben und ihre guten Dienste anbieten, damit der Konflikt gelöst wird, die Sanktionen aufgehoben werden und das Land wieder atmen kann. Dann werden auch weniger Eritreer in die Schweiz kommen.
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