Ein multipolares Asien
BERLIN/NEW DELHI (Eigener Bericht) – Mit deutsch-indischen Regierungskonsultationen am heutigen Freitag in New Delhi sucht Berlin Keile in die enge Kooperation zwischen Indien und Russland zu treiben. Zum einen will die Bundesregierung den Wirtschaftseinfluss in Indien stärken; dazu setzt sie allerdings auf ein EU-Freihandelsabkommen mit dem Land, über das seit 17 Jahren erfolglos verhandelt wird. Zum anderen ist Berlin um eine intensivere Militär- und Rüstungskooperation bemüht und kämpft um einen bis zu fünf Milliarden Euro schweren Auftrag zum Bau mehrerer U-Boote für die indische Marine. Dabei kooperiert Indien nicht nur eng mit den USA, die – ganz wie Deutschland – das Land schon seit Jahren gegen China zu positionieren suchen. Es hat am Rande des am gestrigen Donnerstag zu Ende gegangenen BRICS-Gipfels bestätigt, weiterhin intensiv mit Russland zusammenarbeiten zu wollen. Zudem bereitet es eine Stärkung seiner Beziehungen zu Iran vor. Nicht zuletzt hat New Delhi Anfang der Woche eine neue Phase der Entspannung in seinem Grenzkonflikt mit China eingeleitet und will sein Verhältnis zur Volksrepublik in den kommenden Monaten systematisch verbessern, anstatt für den Westen gegen Beijing zu kämpfen.
„Einzige Konstante der Weltpolitik“
Indien hält unbeirrt an seiner engen Zusammenarbeit mit Russland fest. Bereits vor dem Beginn des BRICS-Gipfels im russischen Kasan, der am gestrigen Donnerstag zu Ende ging, hatte Premierminister Narendra Modi die „spezielle und privilegierte strategische Partnerschaft“ zwischen den beiden Ländern gelobt.[1] Am Rande des Gipfels wiederholte er dies – unbeschadet der Tatsache, dass er gleichzeitig öffentlich auf ein rasches Ende des Ukraine-Kriegs sowie eine friedliche Lösung des diesem zugrundeliegenden Konflikts drang. Die Beziehungen sind eng. So boomt der russisch-indische Handel; er stieg im vergangenen Jahr laut russischen Angaben um mehr als 60 Prozent auf 56,8 Milliarden US-Dollar und nahm von Januar bis August dieses Jahres erneut um rund neun Prozent zu.[2] Berücksichtigt werden muss freilich, dass er zu erheblichen Teilen aus russischen Erdöllieferungen besteht. Nach wie vor stammt mehr als die Hälfte der Waffensysteme, die Indiens Streitkräfte nutzen, aus russischer Produktion; und auch wenn New Delhi bemüht ist, seine starke Abhängigkeit von russischen Rüstungskonzernen zu reduzieren, sind diese immer noch Indiens größte Lieferanten.[3] Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar bezeichnete Ende 2023 die indisch-russischen Beziehungen als „einzige Konstante der Weltpolitik“ seit den 1950er Jahren.[4]
„Beziehungen stabilisieren“
Darüber hinaus ist Indien derzeit bemüht, seine Beziehungen zu China wieder zu verbessern. New Delhi betrachtet Beijing traditionell als seinen zentralen asiatischen Rivalen. Die blutige Eskalation des indisch-chinesischen Grenzkonflikts im Frühjahr 2020 ließ die Spannungen zwischen beiden Ländern dramatisch anschwellen, und wenngleich beide Seiten im Frühjahr 2022 eine gewisse Annäherung vollzogen, um den erstrebten Ausbau des BRICS-Bündnisses zu ermöglichen [5], blieben ernste Differenzen. Anfang dieser Woche, unmittelbar vor dem Beginn des BRICS-Gipfels, einigten sich New Delhi und Beijing auf Modalitäten, die es ermöglichen sollen, ihren Grenzkonflikt zumindest zu dämpfen, vielleicht gar zu entspannen. An der Demarkationslinie hoch oben im Himalaya sei „der Entflechtungsprozess mit China abgeschlossen“, teilte Außenminister Jaishankar mit.[6] Am Rande des BRICS-Gipfels in Kasan kam es nun zum ersten offiziellen Treffen zwischen Modi und Chinas Präsident Xi Jinping seit Oktober 2019. Dabei hieß es, beide Seiten hätten ihre Regierungen angewiesen, die bilateralen Beziehungen in jeder Hinsicht zu stabilisieren. Der Handel zwischen den zwei Ländern ist ohnehin eng; China stellt mit fast 18,2 Prozent einen größeren Anteil an Indiens Importen als jedes andere Land. Nun wird mit einer weiteren Zunahme gerechnet.[7]
Besuch aus Iran
Ist der Ausbau der Beziehungen zwischen Indien und China für den Westen – auch für die Bundesrepublik – ein ernster Schlag, da die transatlantischen Mächte eigentlich versuchen, New Delhi gegen Beijing in Stellung zu bringen, so sind auch weitere Resultate des BRICS-Gipfels bzw. der Gespräche an seinem Rande für sie unvorteilhaft. Das gilt nicht zuletzt für Indiens Pläne, seine Beziehungen zu Iran zu intensivieren. Premierminister Modi teilte etwa auf X mit, er habe „ein sehr gutes Treffen“ mit Irans Präsident Massud Peseschkian gehabt; man habe „die gesamte Bandbreite der Beziehungen zwischen unseren Ländern“ thematisiert und die Vertiefung der Bindungen vor allem in Zukunftsbranchen diskutiert.[8] Indien ist unter anderem dabei, den Hafen in Chabahar im Südosten Irans auszubauen – dies mit dem Ziel, zum einen seinen Handel mit Afghanistan und Zentralasien zu intensivieren, ohne das Territorium seines Erzfeindes Pakistan durchqueren zu müssen, zum anderen den Handel mit Russland zu stärken – auf dem Weg über iranisches und aserbaidschanisches Territorium in den russischen Nordkaukasus.[9] Dem International North-South Transport Corridor wird erhebliche strategische Bedeutung beigemessen. Modi hat in Kasan Peseschkian eingeladen, in Kürze New Delhi zu besuchen.
„Stärker und dynamischer denn je“
Der Ausbau der Zusammenarbeit mit Russland, China und Iran hält Indien nicht davon ab, gleichzeitig auch die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu intensivieren. Washington hat Interesse daran, New Delhi gegen Beijing in Stellung zu bringen, und ist deshalb bereit, Indien in vielerlei Hinsicht zu unterstützen. So hat es seine Rüstungsexporte nach Indien erheblich gestärkt und liefert ihm unter anderem Militärtransportflugzeuge des Modells C-17 Globemaster, Kampfhubschrauber des Modells AH-64 Apache sowie Seefernaufklärer vom Typ P-8I Poseidon.[10] Indien kooperiert mit den USA, Japan und Australien im Rahmen des Quad-Pakts, der sich gegen China richtet und auch eine militärische Komponente inklusive gemeinsamer Manöver umfasst. Um die indische Wirtschaft, deren Entwicklung deutlich hinter derjenigen der chinesischen Wirtschaft zurückliegt, bei der Aufholjagd zu unterstützen, hat das US-Außenministerium im September angekündigt, Indiens Halbleiterbranche zu fördern.[11] US-Präsident Joe Biden urteilte im September bei einem Besuch von Modi, der sich anlässlich eines Quad-Gipfels in den Vereinigten Staaten aufhielt, die Beziehungen zwischen beiden Ländern seien „stärker, enger und dynamischer als zu jedem Zeitpunkt in der Vergangenheit“.[12]
Militär und Rüstung
Vor diesem Hintergrund ist nun auch die Bundesregierung bestrebt, die Beziehungen zu Indien nach Kräften zu intensivieren. Am heutigen Freitag finden dazu in New Delhi deutsch-indische Regierungskonsultationen statt; dazu sind mehrere deutsche Minister in Indien eingetroffen, so etwa Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Bundeskanzler Olaf Scholz wird mit Premierminister Modi zu einem ausführlichen Gespräch zusammenkommen. Berlin will unter anderem den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU neuen Schwung verleihen, die im Jahr 2007 begannen – vor 17 Jahren –, 2013 auf Eis gelegt und erst 2021 wieder gestartet wurden. Zudem ist die Bundesregierung um einen Ausbau der Rüstungs- und Militärkooperation bemüht. Bereits im August hatten Flugzeuge der deutschen Luftwaffe am indischen Manöver Tarang Shakti teilgenommen; am morgigen Samstag will Scholz die Fregatte Baden-Württemberg und den Einsatzgruppenversorger Frankfurt am Main besuchen, die in Goa an der indischen Westküste liegen und dort gemeinsam mit der indischen Marine Übungen durchführen.[13] Zudem setzt sich Scholz für den Verkauf deutscher U-Boote von TKMS an die indische Marine ein. Die Konkurrenz – aus Frankreich, Spanien und Südkorea – ist allerdings stark.[14]
Erfolg unwahrscheinlich
Berliner Regierungsberater geben sich bei alledem skeptisch, dass es der Bundesregierung bzw. den westlichen Mächten insgesamt gelingen könne, Indien gegen Russland und China in Stellung zu bringen. Die Regierung in New Delhi, wird der Asien-Experte Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zitiert, wolle „ein multipolares Asien, in dem neben China und Indien auch Russland eine wichtige Rolle spielt“.[15] Dass Berlin mit dem Plan Erfolg haben könnte, New Delhi künftig an sich zu binden und mit ihm gemeinsam gegen Moskau und Beijing vorzugehen, sei unwahrscheinlich.
[1] Putin hails Russia-India ‘strategic partnership’ in talks with Modi at BRICS summit. france24.com 22.10.2024.
[2] Putin states ‘good condition’ of trade turnover between Russia and India. tass.com 22.10.2024.
[3] Chietigj Bajpaee, Lisa Toremark: India-Russia relations. chathamhouse.org 17.10.2024.
[4] ‘India-Russia ties the only constant in world politics’, says EAM Jaishankar. hindustantimes.com 27.12.2023.
[5] S. dazu Berlin und das „asiatische Jahrhundert“.
[6] Mögliche Einigung im Himalaya. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.10.2024.
[7] Krishn Kaushik, Ethan Wang: BRICS summit: China and India should manage differences, Xi tells Modi. reuters.com 23.10.2024.
[8] PM Modi Holds Bilateral Talks With Iranian President At BRICS Summit. ndtv.com 23.10.2024.
[9] Mohammad Salami: Despite a Recent India-Iran Agreement, Challenges Loom for Chabahar Port. stimson.org 09.07.2024.
[10] Rupakjyoti Borah: US-India Defense Ties Marching Ahead Fast. thediplomat.com 03.04.2024.
[11] New Partnership with India to Explore Semiconductor Supply Chain Opportunities. state.gov 09.09.2024.
[12] Chietigj Bajpaee: Why the US-India relationship needs a healthy dose of realism. chathamhouse.org 08.10.2024.
[13] Nicole Bastian, Julian Olk, Mathias Peer: Wie Scholz und Habeck Indien auf ihre Seite ziehen wollen. handelsblatt.com 24.10.2024.
[14] Hans-Uwe Mergener: Bringen die indisch-deutschen Regierungskonsultationen den Durchbruch für U-Bootlieferungen an Indien? esut.de 23.10.2024.
[15] Nicole Bastian, Julian Olk, Mathias Peer: Wie Scholz und Habeck Indien auf ihre Seite ziehen wollen. handelsblatt.com 24.10.2024.
- Quelle: GERMAN-FOREIGN-POLICY.com
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