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Gipfel in Warschau dokumentiert eine Nato, die die Wahrheit meidet und den Krieg vorbereitet

von Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde.
14. Juli 2016
Rund um das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten haben deren Beschlüsse, 4 Nato-Bataillone in den baltischen Staaten und in Polen zu stationieren, das «Angebot» zum Dialog mit Russland und die deutschen (und nicht nur deutschen) öffentlichen Kontroversen um den Umgang mit Russland die Berichterstattung dominiert.

Liest man die zahlreichen Abschlussdokumente des Gipfels genauer, fallen aber noch mehr wichtige Punkte auf, insbesondere

  • die durchgängige Haltung, man selbst (die Nato, die für die höchsten politischen Werte stehen soll) sei an der Zuspitzung des Konfliktes mit Russland völlig unschuldig und allein Russland (das alles Recht mit Füssen treten würde) sei dafür verantwortlich,
  • der Wille, durch eine weitere Einbindung der Ukraine und Georgiens die Nato faktisch bis an die Grenzen Russland heranzuführen,
  • die Entschlossenheit, in allen Bereichen des militärischen und auch zivilen Lebens aufzurüsten und auf weitere Kriege vorzubereiten,
  • der Versuch, die EU zu einem Instrument der Nato zu machen, obwohl die EU mit Österreich, Finnland und Schweden formal neutrale Mitgliedsstaaten hat.

Zahlreiche wichtige Dokumente

Vom ersten und zweiten Punkt zeugen die «Gemeinsame Erklärung der Nato-Georgien-Kommission auf Ebene der Außenminister» vom 8. Juli und noch mehr die «Gemeinsame Erklärung der Nato-Ukraine-Kommission auf Ebene der Staats- und Regierungschefs» vom 9. Juli.

Vom dritten Punkt zeugen die «Verpflichtung zur Erhöhung der Widerstandskraft» vom 8. Juli und die «Erklärung von Warschau zur transatlantischen Sicherheit» vom 8. und 9. Juli.

Vom vierten Punkt zeugen die «Verpflichtung zur Erhöhung der Widerstandskraft» vom 8. Juli und die bislang nur in englischer Sprache vorliegende «Gemeinsame Erklärung des Präsidenten des Europäischen Rates, des Präsidenten der Europäischen Kommission und des Generalsekretärs der Nato» vom 8. Juli.

Diese und noch weitere wichtige Dokumente sind zum Beispiel auf der Internetseite der deutschen Bundesregierung (https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Startseite/startseite_node.html) zu finden.

Plattheit und Falschheit der Nato-Argumentation

Als politisch und geschichtlich interessierter Bürger ist man äußerst befremdet angesichts der Plattheit und Falschheit der Nato-Argumentation. Nirgendwo findet man ein Wort über die reale Politik der Nato-Staaten in den vergangenen 25 Jahren, nirgendwo einen Hinweis auf eigene Fehler und Versäumnisse, es sei denn bei der Aufrüstung, nirgendwo ein Wort des Verständnisses für die russische Position.

Wenn es zum Beispiel heißt, dass das russische Vorgehen in der Ukraine «die auf Regeln beruhende Ordnung in Europa untergräbt», dann fragt man sich doch, was tatsächlich in der Ukraine passiert ist und welchen «Regeln» die Nato-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands, die neuen Nato-Strategien nach 1990 (weg vom Verteidigungsbündnis im nordatlantischen Raum und hin zum Angriffsbündnis in der ganzen Welt), die völkerrechtswidrigen Nato-Kriege gegen Jugoslawien 1999 und Libyen 2011, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg zahlreicher Nato-Staaten gegen Irak im Jahr 2003 usw. gefolgt sind und welche «Ordnung in Europa» damit angestrebt wurde.

Feindbild Russland

Die Nato wirft Russland vor, dass es «trotz wiederholter Aufforderungen durch das Bündnis» «sein aggressives Vorgehen zur Untergrabung der Souveränität, der territorialen Unversehrtheit und der Sicherheit der Ukraine unter Verletzung des Völkerrechts fortgesetzt habe», spricht aber mit keinem Wort über die tatsächliche Ukraine-Politik der Nato-Staaten: nicht über die Beteiligung von Nato-Staaten am Staatsstreich in der Ukraine im Februar 2014, nicht über die Beteiligung von Nato-Staaten am gewaltsamen Vorgehen der neuen ukrainischen «Regierung» gegen den zuerst friedlichen Protest im Osten der Ukraine, nicht über das Bestreben der Nato-Staaten, mit Hilfe ukrainischer Kommandos Russland den Marinestützpunkt auf der Halbinsel Krim entreißen zu wollen.

Wie kommt die Nato dazu zu formulieren, man wolle «weitere Schritte» ergreifen, «um unsere Abschreckung und Verteidigung gegen Bedrohungen aus allen Richtungen zu stärken», wenn die Nato-Staaten schon jetzt mehr als zehnmal soviel für Militär und Rüstung ausgeben wie Russland oder China, ganz zu schweigen von den anderen Staaten der Weltgemeinschaft? Ein dermaßen überzogenes Rüstungsungleichgewicht kann doch logisch betrachtet nur einen Zweck haben: die Welt nach seinem Gusto gestalten und andere dominieren zu wollen.

Scheinheiliges Dialog-Angebot

Was ist von einer Formulierung wie «Wir streben weiter eine konstruktive Beziehung mit Russland an, wenn das Vorgehen Russlands dies möglich macht» zu halten, wenn zugleich Russland mit Vorwürfen überschüttet wird   – also aus Sicht der Nato wohl keine «konstruktive Beziehung mit Russland» möglich ist, solange es den Nato-Staaten nicht gelingt, Russland in die Knie zu zwingen oder dort einen Regime-Change zu bewerkstelligen?

Was bedeutet es wirklich, wenn es heißt, «eine unabhängige, souveräne und stabile Ukraine, die sich fest der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, [sei] für die euro-atlantische Sicherheit von zentraler Bedeutung»? Ist das die heutige Sprachregelung für das offene Wort des US-Strategen Zbigniew Brzezinski, der die historisch gewachsenen Bindungen zwischen der Ukraine und Russland kappen wollte, um Russland auf Dauer zu schwächen?

Die Nato schreibt: «Wir glauben an ein ungeteiltes, freies und friedliches Europa.» Zugleich betont sie im folgenden Satz, ihren Einfluss in der Ukraine, in Georgien und in Moldawien, also an Russlands Grenzen und in einem Land mit traditionell starken Bindungen nach Russland, verstärken und zugleich Russland hinausdrängen zu wollen. Wie passt das zusammen?

Nato dient anderen Interessen als denen der Bürger

Buch Feindbild Russland

Hannes Hofbauer   – «Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung»

Hannes Hofbauer hat in seinem neuen Buch «Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung» (vgl. Zeit-Fragen vom 5. Juli 2016) nachgezeichnet, dass das Jahrhunderte alte Feindbild nach dem Jahr 2000 reaktiviert wurde, nachdem sich die russische Regierung unter ihrem Präsidenten Wladimir Putin geweigert hatte, US-amerikanischen Energiekonzernen den Zugriff auf die russischen Energiereserven zu gestatten. Die Nato ist ein Instrument auch dieser Interessen. Weitere Interessen und Ideologien kommen hinzu. Eine Nato, die in solchen Zusammenhängen bei der Wahrheit bliebe, wird es wohl nicht geben können. Sie würde sich nämlich demaskieren. Wer kann das erwarten?

Aber die Aufgabe des Bürgers ist es, kritische Fragen zu stellen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Dies ist unverzichtbar, wenn die Nato eine Politik verfolgt, die das Leben in Europa im höchsten Masse gefährdet. Und mit ihrer derzeitigen Politik tut sie dies.

Einen wirklichen Dialog mit Russland kann es nur geben, wenn auch die Nato die legitimen Anliegen und Interessen Russlands akzeptiert. Alles andere ist ein hochgefährlicher Weg in den Abgrund.

Warum will Deutschland eine globale Führungsrolle?

PS Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schrieb am 8. Juli unter der Schlagzeile «Rolle in der Nato. Vom verlässlichen Partner zum Impulsgeber»:

«Deutschland präsentiert sich auf dem Nato-Gipfel in Warschau mit neuem Selbstverständnis. Vergessen sind Jahrzehnte der politischen und militärischen Zurückhaltung. Jetzt geht es Berlin um die aktive Mitgestaltung der globalen Ordnung.» Am 12. Juli besprach dieselbe Zeitung ein 2015 in deutscher Übersetzung erschienenes Buch der US-Amerikanerin Esther-Julia Howell: «Von den Besiegten lernen? Die kriegsgeschichtliche Kooperation der U.S. Armee und der ehemaligen Wehrmachtselite 1945  –1961». Das Buch berichtet unter anderem von Franz Halder, der von 1938 bis 1942 Chef des deutschen Generalstabes war und 1961 den höchsten zivilen Orden der Vereinigten Staaten von Amerika erhalten hatte. Den Orden erhielt er für seine «Verdienste» im Kalten Krieg. Die Zeitung schreibt, Halder und seinesgleichen seien «im Zeichen des sich verschärfenden Kalten Krieges, in dem auch alte, stereotype Feindbilder ungeniert gepflegt wurden, aufgrund ihrer Erfahrungen im Osten bald geschätzte Berater der U.S. Army [gewesen]. Halder war zu Tränen gerührt, als die U.S. Army ihn bat, nicht nur Studien über eigene Erfahrungen im Osten zu verfassen, sondern sogar am neuen Field Manual für einen möglichen Landkrieg gegen die Sowjetunion mitzuarbeiten.»

Muss uns da nicht das Blut in den Adern gefrieren?

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