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Egon Krenz im Interview mit der PRAWDA

Erinnerungen an die Befreiung des Deutschen Volkes vom Faschismus
Interview mit Egon Krenz
03. Oktober 2020
Egon Krenz hat ein neues Buch geschrieben: "Wir und die Russen"

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Warum haben Sie Ihr Buch „Wir und die Russen“ jetzt geschrieben und veröffentlicht? Haben Sie den Zeitpunkt absichtlich ausgewählt? 

Mit meinem Buch erinnere ich die Herrschenden hierzulande an eine von ihnen vergessene historische Erfahrung: Deutschland ging es immer dann am besten, wenn es gute Beziehungen zu Russland hatte. Das wusste im 19. Jahrhundert schon der Eiserne Kanzler Bismarck. Es gibt einen äußerst interessanten Brief seiner Urenkelin aus dem Jahre 1947 an Generalmajor Sergei Iwanowitsch Tulpanow, der damals in der sowjetischen Militäradministration in Deutschland tätig war, den ich in meinem Buch zitiere: »Es schreibt Ihnen die Enkelin des bedeutenden Staatsmannes Bismarck, dessen Vermächtnis immer ein ewiger und unzerstörbarer Frieden mit Russland war. Sogar auf dem Sterbebett … hat dieser wiederholt: ›Nie gegen Russland!‹ Zu diesem progressiven Erbe des Erz-Konservativen passt nun aber die aktuelle Außenpolitik Deutschlands überhaupt nicht. Begriffe wie «Bestrafungen“ und „Sanktionen“ aus dem Munde deutscher Politiker an Russlands Adresse sind nicht nur geschichtsvergessen, sie sind eine Anmaßung gegenüber einem Volk, das für Deutschlands Freiheit vom Faschismus sein Herzblut gegeben hat.

Damit erinnern Sie auch an die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus? 

So ist es. Die 75. Wiederkehr dieses historischen Datums ist ein zentraler Grund für das Buch. Ich war 1945 zwar erst acht Jahre alt, in Erinnerung ist mir dennoch geblieben, dass die sowjetische Besatzungsmacht ein riesiges Plakat mit dem Bildnis Stalins kleben ließ, auf dem geschrieben stand: « Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben.» Diese klassischen Worte wurden später nicht falsch, weil sie von Stalin stammen. Für mich sind es tiefgehende Gedanken über Deutschland. Gedanken eines Siegers über ein Deutschland am Ende des bis dahin fürchterlichsten Krieg aller Kriege, in dem die Sowjetunion durch deutsche Schuld 27 Millionen Menschen verloren hatte. Mir sagen sie bis heute, dass es der Sowjetunion nie um Rache, nicht um die Zerstückelung Deutschlands, nicht um die Unterjochung ging, sondern um ein einheitliches Deutschland ohne Nazis und als Friedensstaat im Zentrum 2 Europas. In dieser Tradition sehe ich auch die Russische Föderation. 

In der offiziellen Rede des deutschen Bundespräsidenten zum «Tag der Befreiung» am 8.Mai in Berlin war von solchen Zusammenhängen aber keine Rede. 

Das ist leider wahr. Wer erwartet hatte, der Bundespräsident würde den Anteil der sowjetischen Armee an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus würdigen, wurde enttäuscht. Kein Land der Welt hatte mehr Opfer zu beklagen als die Sowjetunion. Jenseits aller ideologischen Barrieren sollten diese Fakten anerkannt und gewürdigt bleiben. Die Sowjetarmee hat den deutschen Faschismus zerschlagen, nicht aber die deutsche Nation. Schon allein diese Tatsache rechtfertigt, dass deutsche Regierungen den Beziehungen zu Russland eine Sonderstellung einräumen müssten. Ähnlich wie es die Bundesrepublik beispielsweise wegen des Holocaust mit Israel hält. 

Wie begründen Sie Ihren Standpunkt?

Inzwischen ist doch auch dokumentarisch belegt, was der Mainstream in Deutschland immer noch nicht wahrhaben will: Die UdSSR hatte kein strategisches Interesse an der deutschen Spaltung. Wer über die Geschichte der DDR und ihr Verhältnis zur Sowjetunion urteilen will, darf nicht an der Frage vorbei gehen, wer Deutschland wirklich gespalten hat. Die Gründung der DDR 1949 lässt sich historisch nicht einordnen, ohne die Situation des Jahres 1945. Wäre es nämlich nach dem Willen der UdSSR und der deutschen Kommunisten gegangen, wäre aus Deutschland „ein antifaschistische(s), demokratische(s) Regime, eine parlamentarisch-demokratische(n) Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“ geworden. So steht es im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945.Er war vorher mit der sowjetischen Führung abgestimmt worden. Er eröffnete Deutschland einen völlig neuen Weg des Friedens und der staatlichen Souveränität, der aber von den westlichen Besatzungsmächten gemeinsam mit Politikern der späteren Bundesrepublik verhindert wurde. 

Es kam anders: Es kam zur Gründung von zwei deutschen Staaten. 

Als die DDR gegründet wurde, war Deutschland längst gespalten. Dafür hatte vor allem schon 1948 die Einführung einer separaten Währung durch die Westmächte in den Westzonen und Westberlin gesorgt. Von der Gründung der DDR erfuhr ich als 12-Jähriger. Noch nicht am Gründungstag, dem 7. Oktober 1949, sondern einige Tage später. Eigentlich erst durch Stalin. Mein Klassenlehrer verlas ein Telegramm von ihm, gerichtet an Präsident Wilhelm Pieck, von Beruf Tischler, und Ministerpräsident Otto Grotewohl, gelernter Buchdrucker. Zweierlei habe ich mir damals eingeprägt und bis heute nicht vergessen: An der Spitze des neuen Staates standen Arbeiter, die gegen Hitler gekämpft hatten. Antifaschistische Widerstandskämpfer. Ein epochaler Unterschied zu der einige Monate zuvor gegründeten Bundesrepublik, deren erster Präsident 1933 im Deutschen Reichstag dem Ermächtigungsgesetz der Nazis zugestimmt hatte. Im Telegramm des sowjetischen Repräsentanten zur Gründung der DDR stand ein Gedanke, der mich stark geprägt und historischen Bestand hat - bis heute: „Die Gründung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik“, heißt es dort, „ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas“ Und weiter: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Existenz eines friedliebenden demokratischen Deutschland neben dem Bestehen der friedliebenden Sowjetunion die Möglichkeit neuer Kriege in Europa ausschließt, dem Blutvergießen in Europa ein Ende macht und die Knechtung der europäischen Länder durch die Weltimperialisten unmöglich macht“. Wie damals formuliert wurde, genauso ist es gekommen. Solange die UdSSR und an ihrer Seite die DDR bestanden, gab es in Europa keinen Krieg. Das Verschwinden beider Staaten aus der Geschichte ist wiederum ein europäischer Wendepunkt. Kriege in Europa wie der gegen Jugoslawien wurden nach 1990 leider wieder möglich. Sogar mit deutscher Beteiligung. Das wäre zur Zeit der Existenz der Sowjetunion undenkbar gewesen. 

Haben Sie noch persönliche Erinnerungen an das Kriegsende?

Als ein Sowjetsoldat am 30. April 1945 das rote Siegesbanner auf dem Deutschen Reichstag in Berlin gehisst hatte, war ich noch zu jung, um die politischen Zusammenhänge der Zeit verstehen zu können. Alt genug aber, um zu begreifen, wie gut, dass der Krieg zu Ende war. Mein späteres freundschaftliches Verhältnis zu sowjetischen Menschen beginnt unbewusst in den ersten Nachkriegsjahren. Ich lernte sowjetische Soldaten kennen, die anders waren als jene „barbarischen Untermenschen“, von denen die Nazipropaganda berichtet hatte. Einer von ihnen war unweit unserer Wohnung einquartiert. Offizier war er und Dolmetscher der Militärkommandantur. Jeden Abend, wenn er in sein Quartier zurückkam, brachte er mir etwas Essbares mit. Mal war es ein tiefschwarzes und feuchtes Soldatenbrot, mal etwas Würfelzucker und gelegentlich auch in Zeitungspapier eingewickelter Speck. Mittags schickte er mich zur Gulaschkanone der sowjetischen Einheit, die in meiner Heimatstadt stationiert war. Dort erhielt ich ein Kochgeschirr voller Kascha oder auch Kohlsuppe. Russische Worte für Brot, Zucker, Speck, Kohlsuppe und Grütze habe ich damals gelernt und nie wieder vergessen. An manchen Abenden saß der Offizier auf den steinigen Stufen vor dem Haus und drehte sich aus Zeitungspapier und Tabak eine Zigarette. Einmal summte er eine Melodie so vor sich hin, die ich noch nie gehört hatte. „Sing mit“, forderte er mich auf. „Das kann ich nicht“, antwortete ich. Er rief, als müsste ich mich dafür schämen: „Das ist doch das ‚Heidenröslein’ von Goethe!“ „Heidenröslein“ und „Goethe“, diese Worte hörte ich das erste Mal. Nicht von einem deutschen Lehrer, von einem Russen in sowjetischer Uniform, der den Krieg und die Verbrechen der Deutschen in seinem Heimatland am eigenen Leib erlebt hatte. Solche Emotionen leben in mir weiter und spornen mich an, auch durch Bücher und andere Aktivitäten die Wahrheit über die Befreiungstat der Sowjetarmee zu verteidigen. 

Eine Resolution des Europaparlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft stellt solche Akzente aber in Frage.

Kurios, eine Gruppe von antikommunistisch eingestellten Politikern fällt ein politisches Urteil über die Geschichte des 20.Jahrhunderts. Nicht etwa darüber, wie sie tatsächlich verlaufen ist, sondern wie sie sich Antikommunisten ausmalen. Nicht Fakten zählen, sondern Verdächtigungen. Geschichte wird als Waffe des Antikommunismus missbraucht, um beispielsweise den Verlauf des Zweiten Weltkrieg zu verfälschen, die Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus zu negieren, um faschistische Verbrechen zu relativieren und Täter und Opfer auf eine Stufe zu stellen. Totalitärer geht es wirklich nicht. Nach dieser Geschichtsdeutung gilt nicht mehr das faschistische Deutschland als Alleinschuldiger des Zweiten Weltkrieges, sondern, wie es wörtlich heißt, „die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich“. So etwas nenne ich geistige Brandstiftung. Für die Zeitgeschichte fällt positiv ins Gewicht, dass Präsident Putin in einem Grundsatzartikel das Verdrehen von historischen Tatsachen anhand von Dokumenten entlarvt hat. 

Wie erklären Sie sich die Geschichtsfälschungen? 

Eigentlich geht es nicht nur um Geschichte, sondern um die Gegenwart. Die Botschaft lautet: Nie wieder eine Alternative zum Kapitalismus! Der Hass auf links ist stärker als die Einsicht zur Kooperation gegen Gefahren des Faschismus. Schauen Sie auf die Konjunktur, die solche Wortpaare haben wie „Sozialismus und Faschismus sind Zwillinge“, „Hitler und Stalin Brüder im Geiste“, „die DDR und das Dritte Reich gleichrangige Diktaturen“, dann wird doch klar, dass damit der Faschismus verharmlost wird. Geschichtsfälscher haben sich offensichtlich auf den irrigen Begriff „Nationalsozialismus“ statt auf die historisch korrekte Bezeichnung „deutscher Faschismus“ geeinigt. Der „Nationalsozialismus“ war weder „national“ noch war er „sozialistisch“. Er war einmalig verbrecherisch. Das „vergessen“ die selbsternannten Historiker des Europaparlaments bei ihren skandalösen Vergleichen. 

Das letzte Wort auf dem Klappentext des Buchs lautet „Verrat“. In Ihrem Buch zitieren Sie den ehemaligen sowjetischen Botschafter in der BRD Walentin Falin, der sagte, dass die „Wiedervereinigung“ Deutschlands „eine Variante des Münchener Abkommens“ war: „…wir haben über den Kopf der DDR hinweg alles ausgehandelt, wir haben dieses Land verraten“. 

Bevor ich über „Verrat“ spreche, möchte ich vor allem die jahrzehntelange Freundschaft zwischen der UdSSR und der DDR hervorheben. Die DDR-Deutschen und die Russen, die Belorussen, die Ukrainer, die Balten, die Kasachen und die anderen über hundert Nationen des Vielvölkerstaates Sowjetunion hatten ein neues Verhältnis zueinander gefunden, das frei war von Hass und Zwietracht. Nichts kann mir diese grundlegende Überzeugung nehmen. Ich verwechsele nicht einzelne Politiker mit dem kollektiven Wollen der Völker der Sowjetunion. Die sowjetische Besatzungszone und später die DDR hatten beispielsweise das Glück, dass an der Spitze der auf ihrem Territorium stationierten sowjetischen Armee-Einheiten nicht nur hervorragende Militärs standen, sondern Internationalisten, die ein feinfühliges Verständnis für die Probleme der Deutschen hatten. Sie gehören in das Ehrenbuch der Geschichte. Es waren die bekanntesten Heerführer der sowjetischen Armee, Marschälle wie Shukow, Sokolowski, Tschuikow, Gretschko, Sacharow, Jakubowski, Konjew, Koschewoi, Kulikow und Kurkotkin sowie die Armeegeneräle Iwanowski, Saizew, Lushew und Snetkow. Ich erinnere in meinem Buch an sie, weil wir Deutschen ihnen viel zu danken haben. Anders als Gorbatschow und seine Gefährten hatten sie im Großen Vaterländischen Krieg ihr Leben nicht nur für die eigene Heimat, sondern auch für ein antifaschistisches Deutschland eingesetzt und dafür den Weg von den Schlachten bei Moskau, Stalingrad oder Leningrad nach Berlin zurückgelegt. Die DDR war ein Stück ihres Lebens. Deshalb waren die im Herbst 1989 noch aktiven Armeegeneräle Lushew und Snetkow, mit denen ich befreundet war, auch nicht bereit, Gorbatschows Politik der Aufgabe der DDR zu unterstützen.

Und weshalb zitieren Sie dennoch Falin über „Verrat“? 

Zunächst: Ich teile die Meinung von Präsident Putin, dass der Untergang der UdSSR die größte globalpolitische Katastrophe am Ende des vergangenen Jahrhunderts war. Damit im Zusammenhang steht, dass die Sowjetunion nicht nur an der Wiege der DDR stand, sondern auch an ihrem Totenbett. Die DDR war ohne Sowjetunion nicht lebensfähig. Wie die letzte sowjetische Führung das 1989/90 ausnutzte, hat Insider Walentin Falin bisher am klarsten formuliert. Valentin Falin arbeitete damals in unmittelbarer Nähe von Gorbatschow und verfügt somit über die beste Sachkenntnis. Gleichzeitig denke ich: Verrat gibt es ja nicht nur aus Berechnung. Es gibt ihn auch aus Eitelkeit, aus Missgunst, Unwissen, aus Schwäche, Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung, Eigenliebe und manch anderem. Doch objektiv bleibt es Verrat. Die Zerschlagung der Sowjetunion und mit ihr des europäischen Teils des sozialistischen Weltsystems beeinflusste Millionen und Abermillionen Schicksale auf äußerst negative Weise. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Wort von Friedrich Engels verweisen. In seiner Schrift »Revolution und Konterrevolution in Deutschland« heißt es:"Wenn man nach den Ursachen der Erfolge der Konterrevolution forscht, so erhält man von allen Seiten die bequeme Antwort, Herr X oder Bürger Y habe das Volk verraten." Diese Antwort mag zutreffen oder auch nicht.

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