Die "inneren Feinde" der EU

25. Oktober 2018
BERLIN (Eigener Bericht) - Mit Blick auf den Konflikt zwischen Brüssel und Rom um den italienischen Staatshaushalt werden im deutschen Establishment Rufe nach einem entschlossenen Kampf gegen "innere Feinde" der EU laut. Man müsse die Union "jetzt mit aller Kraft verteidigen", heißt es in einer führenden deutschen Tageszeitung; die italienische Regierungskoalition sei es "nicht wert", dass "das Schicksal des Landes riskiert wird".

Anlass dafür, die italienische Regierung zur Debatte zu stellen, ist deren Weigerung, weiterhin den deutschen Austeritätsdiktaten zu folgen. Berlins Dominanz in der EU stößt auch in anderen Mitgliedstaaten auf wachsenden Protest. So spitzen sich nicht nur die Auseinandersetzungen mit Polen und mit Ungarn zu.

Auch in Frankreich wächst der Unmut über Berlin. Inzwischen ruft der Gründer von La France insoumise, Jean-Luc Mélenchon, der bei der Präsidentenwahl 2017 mit fast 20 Prozent den Einzug in die Stichwahl nur knapp verpasste, dazu auf, Frankreich "aus allen europäischen Verträgen herauszuführen". Die deutschen Eliten reagieren mit zunehmender Härte.

Rassismus ja, Konsumförderung nein

Nach der Zurückweisung des italienischen Staatshaushalts durch die EU-Kommission steht eine weitere Eskalation des Konflikts zwischen Brüssel und Rom bevor. Die Kommission hatte am Dienstag zum ersten Mal überhaupt einen demokratisch beschlossenen Etat schon bei seiner Vorlage abgelehnt und grundlegende "Korrekturen" verlangt. Die italienische Regierung hat daraufhin angekündigt, nicht nachgeben zu wollen und an der geplanten Neuverschuldung in Höhe von 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) festzuhalten.[1] Bleibt sie dabei, drohen ihr schon in wenigen Wochen Strafen.

Der Konflikt gewinnt besondere Schärfe durch die Tatsache, dass laut einer aktuellen Umfrage 59 Prozent der italienischen Bevölkerung eine deutlich erhöhte Schuldenaufnahme befürworten und die Regierung also auf breite Unterstützung bauen kann.[2] Gleichzeitig hat die EU in Italien massiv an Popularität eingebüßt: Nur noch 42 Prozent der Bevölkerung begrüßen die Mitgliedschaft in der Union - weniger als in Großbritannien.[3] Dabei bleibt festzuhalten, dass Brüssel nicht gegen rassistische Maßnahmen der italienischen Lega einschreitet, die international auf scharfe Kritik stoßen. Der Anlass, der die EU intervenieren lässt, ist vielmehr der Versuch, aus der deutschen Austeritätspolitik auszubrechen, da diese sich als unfähig erwiesen hat, Italien aus der Krise zu führen. Rom will nun stattdessen versuchen, Wachstum durch Förderung des Konsums zu generieren. Berlin lehnt das ab.

Das Europa des Krieges

Zu dem Konflikt mit Italien und dem Streit um die Gestaltung des britischen EU-Austritts [4] kommen steigende Spannungen mit einer wachsenden Zahl weiterer Länder hinzu. So sind zuletzt etwa in Frankreich Proteste gegen die Dominanz Berlins in der EU lauter geworden. In einer Rede vor der Nationalversammlung hat am Montag der Gründer von La France insoumise, Jean-Luc Mélenchon, nicht nur gegen die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik Stellung bezogen, da sie Frankreichs Sozialmodell zerstört.[5] Er hat darüber hinaus die von Berlin forcierte Militarisierung der EU [6] kritisiert: Man habe eigentlich "Europa für den Frieden" aufbauen wollen; nun zeige sich aber, dass auf Betreiben der Bundesrepublik "ein Europa des Krieges im Aufbau ist".

Bereits Ende September hatte Mélenchon in einem Zeitungsbeitrag gegen deutsche Pläne protestiert, über eine Teilhabe an den französischen Nuklearwaffen de facto zur Atommacht zu werden. Darüber hinaus hatte er - zum wiederholten Male - auf die Dominanz deutschen Personals an entscheidenden Positionen in den Gremien und den Bürokratien der EU hingewiesen.[7] Letzten Endes beruhe die deutsche Vormacht in der EU auf der erdrückenden Wirtschaftsmacht des Landes, die es der Regierung in Berlin erlaube, gebieterisch aufzutreten.[8] Mélenchon, der bei der Präsidentenwahl 2017 den Einzug in die Stichwahl mit 19,6 Prozent nur knapp verfehlte, ruft inzwischen dazu auf, Frankreich, weil Besserung nicht in Sicht sei, umgehend "aus allen europäischen Verträgen herauszuführen".[9]

Vasallen

Parallel treten zunehmende Differenzen mit den Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) offen zutage. Am Dienstag ist es bei einer Diskussionsveranstaltung in den Räumen des Auswärtigen Amts zu einem Schlagabtausch zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda gekommen. Gegenstand war nicht nur die Justizreform, mit der Warschau die Gerichte des Landes, insbesondere auch deren obere Instanzen, politischer Kontrolle unterstellen will.[10] Auf weitere Streitpunkte anspielend, sprach sich Duda gegen ein "Konzert der Großmächte" innerhalb der Union aus, in dem die bevölkerungsreichen Länder offen dominieren, und erklärte: "Wir wollen nicht Vasallen sein."[11]

Auf den Einwand des Bundespräsidenten, sämtliche Mitgliedstaaten seien der Union freiwillig beigetreten, wies Duda darauf hin, dass mit Großbritannien inzwischen das erste Land die EU verlässt.[12] Tatsächlich hat Brüssel bisher keinerlei Mühe gescheut, den britischen Austritt zu einem abschreckenden Beispiel werden zu lassen, um andere Mitglieder von Austrittsüberlegungen abzuhalten (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Die Union zu verlassen, steht kleineren Mitgliedstaaten - das zeigt ein Blick auf die tatsächlich abschreckende Brexit-Verhandlungstaktik der EU - nur noch theoretisch frei.

Fressen oder gefressen werden

Beim Versuch, die EU zu konsolidieren, von der die deutschen Eliten weiterhin ökonomisch und machtpolitisch in höchstem Maß profitieren, werden im deutschen Establishment inzwischen klare Feindbestimmungen vorgenommen und gänzlich offen ausgesprochen. Die "Feinde" der Union "sitzen im Inneren und wollen sie zerstören", hieß es vor wenigen Tagen mit Blick auf den Konflikt um den italienischen Staatshaushalt in einer einst liberalen deutschen Tageszeitung.[14] Aktuell würden "mindestens drei Angriffe gleichzeitig" auf die EU geführt: einer von Großbritannien, das austrete, ein zweiter von Polen und Ungarn und ein dritter von Italien.

Rom könne jetzt "eine Finanz- und Währungskrise provozieren", die die Eurostaaten zur Entscheidung zwinge, ob sie italienischer "Erpressung" nachgäben oder "den Austritt eines Gründungsmitglieds in Kauf" nähmen. Die EU-Mehrheit müsse sich der Angriffe "erwehren, wenn sie nicht gefressen werden will", hieß es weiter.

Den Kampf mit Polen und Ungarn könne man eine Weile "in der Schwebe" halten, bis es "zu einem politischen Stimmungsumschwung" in diesen Ländern komme. "Die italienische Kausa" aber lasse dies wegen der Krisendynamik nicht zu; sie werde "zum Testfall" für den Umgang mit den "Feinden" der EU.

Der Autor des Beitrags, der bestens im außenpolitischen Establishment Deutschlands vernetzt ist, stellt die italienische Regierung zur Debatte:

"Diese Koalition ist es nicht wert, dass damit das Schicksal des Landes riskiert wird." Es sei höchste Zeit zu handeln: "Wer einen Wert in dieser Union sieht, muss sie jetzt mit aller Kraft verteidigen. Europas Eiszeit hat gerade erst begonnen."

Die Zentralmacht Europas

Die Bemühungen der Bundesrepublik, die EU zusammenzuhalten, die sie dominiert und von der sie massiv profitiert, hat kürzlich der britische Historiker Perry Anderson kommentiert. Anderson zitiert in seinem jüngsten Buch mit dem Titel "Hegemonie" den Berliner Regierungsberater Herfried Münkler, der schon 2015 geurteilt hatte, es obliege "der europäischen Zentralmacht" - also Deutschland -, "die zuletzt dramatisch angewachsenen Zentrifugalkräfte in der Union zu bändigen": "Scheitert Deutschland an den Aufgaben der europäischen Zentralmacht, dann scheitert Europa."[15]

Anderson äußert sich bereits seit langem höchst kritisch über die EU; im Sommer 2015 urteilte er mit Blick auf die Aushebelung des griechischen "Nein" im Referendum über die Athen oktroyierte Austeritätspolitik, die Union, "eine oligarchische Struktur", die "auf der Verweigerung jeder Art von Bevölkerungs-Souveränität" aufbaue, setze "ein bitteres Wirtschaftsregime" durch, das "Privilegien für wenige und Härten für viele" mit sich bringe.[16]

Angesichts von Forderungen wie denjenigen von Münkler, Berlin müsse "die Aufgaben der europäischen Zentralmacht verantwortlich bearbeiten", konstatiert Anderson, in Deutschland sei stets von "Verantwortung" für "Europa" die Rede, ohne auch nur im Geringsten etwa die Profite zu erwähnen, die die Bundesrepublik seit Jahren mit exzessiven Exportüberschüssen [17] aus den anderen Mitgliedstaaten ziehe.

"Anderson", heißt es über dessen Buch "Hegemonie", "hält kaum mit Spott zurück, wenn er aus Selbstbeschreibungen der [deutschen, d.Red.] Zahl- und Zuchtmeister Europas zitiert: 'Im Dienste ihrer Selbstverherrlichung bedient sich die Macht stets des ihr gemäßen - selbstmitleidigen oder selbstbeweihräuchernden - Pathos.'"[18]

[1] Manovra, governo tira dritto: 'Non cambia'. ansa.it 24.10.2018.
[2] Die Märkte blicken auf Italien. wiwo.de 22.10.2018.
[3] Briten sind nicht die größten EU-Skeptiker. n-tv.de 17.10.2018.
[4] S. dazu Das Feiglingsspiel der EU.
[5] Michaela Wiegel: Schluss mit dem Basar. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.10.2018.
[6] S. dazu Die Koalition der Kriegswilligen und Die deutsche Bombe.
[7] S. dazu Eine nie dagewesene Machtkonzentration und Der Blitzaufstieg des Generalsekretärs.
[8] Jean-Luc Mélenchon, Bastien Lachaud: L'Allemagne vise-t-elle une hégémonie en Europe? Le Monde 23.09.2018.
[9] Michaela Wiegel: Schluss mit dem Basar. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.10.2018.
[10] Reinhard Lauterbach: Der nächste Exit? junge Welt 24.10.2018.
[11] "Wir wollen nicht Vasallen sein". spiegel.de 23.10.2018.
[12] Eckart Lohse: Stunde der Wahrheit. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.10.2018.
[13] S. dazu Brüsseler Provokationen und Die Arroganz der EU.
[14] Stefan Kornelius: Eiszeit in Europa. Süddeutsche Zeitung 19.10.2018.
[15] Herfried Münkler: Wir sind der Hegemon. faz.net 21.08.2015.
[16] Perry Anderson: The Greek Debacle. jacobinmag.com 23.07.2015.
[17] S. dazu Ein Transmissionsriemen deutscher Dominanz.
[18] Jürgen Kaube: Kommen Sie uns bitte nicht mit der Moral des Stärkeren. faz.net 14.09.2018.

Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7763/

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