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Deutschland überfordert: China übernimmt jetzt Goethe

Das chinesische Propagandaministerium übersetzt das Gesamtwerk Goethes. Das Projekt zeigt, warum China Deutschland überholt hat.
von Michael Maier 09.09.2023 - übernommen von berliner-zeitung.de
12. September 2023

Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrem chinesischen Amtskollegen Qin Gang.Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrem chinesischen Amtskollegen Qin Gang.Michael Kappeler/dpa-pool/dpa

Manfred Osten kommt mit einer Tüte ins Haus des Berliner Verlags in der Karl-Liebknecht-Straße. Unsere Hoffnung, dass er in der Tüte einige seiner brillant geschriebenen Bücher haben könnte, erfüllt sich nicht. Er war auf einem Wochenmarkt und erzählt erfreut, dass er mitten in Berlin Weintrauben erstanden habe. Sie kämen direkt von einem Weinberg. Osten, früher Spitzendiplomat und als Generalsekretär der Humboldt-Stiftung jahrelang mit Wissenschaftlern aus aller Wert in Kontakt, zitiert im Wechsel Goethe und Konfuzius. Einmal stockt er, weil er nicht mehr sagen kann, ob der Gedanke nicht vielleicht doch von Laotse sei. Nach dem Gespräch ärgert er sich, dass er gesagt hätte, der Vertrag von Aigun sei aus dem Jahre 1859 gewesen. Es war natürlich 1858, korrigiert er sich.

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Manfred Osten*

Berliner Zeitung: Herr Osten, China hat 90 Übersetzer angeheuert, um eine Gesamtausgabe von Goethe vorzulegen. Was ist das für ein Projekt, wie läuft es ab, was steckt dahinter?

Manfred Osten: Dahinter steckt ein Bildungsprojekt, wie wir es in Europa uns nicht vorstellen können   – und zwar initiiert durch das Propagandaministerium! Das Propagandaministerium hat sich entschieden, mit Goethe einen deutschen Dichter und jenen Mann publik zu machen, der sich ein Leben lang mit China beschäftigt und am Ende ein chinesisches Vermächtnis hinterlassen hat: 1830 hat Goethe den Gedichtzyklus „Die chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten“ geschrieben, der in Deutschland leider unbekannt geblieben ist. Es ist jener Gedichtzyklus, in dem Goethe sich als Chinese outet, nämlich als Mandarin.

Normalerweise verlegt das Propagandaministerium aber keine deutschen Dichter, sondern Studien zur Parteigeschichte oder zum Marxismus. War Goethe ein Marxist, ein Kommunist?

Er hat selbst gesagt: „Im Auslegen seid frisch und munter, und legt ihr’s nicht aus, so legt etwas drunter.“ Bereits Japan hat Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass Goethe als Konfuzianer gedacht hat. Das holt China jetzt nach. Eine asiatische Rezeption, die Nietzsches Urteil bestätigt, Goethe sei in der deutschen Geschichte ein Zwischenfall ohne Folgen.

Aber wir haben es im modernen China doch mit einem marxistischen, kommunistischen, materialistische System zu tun. Wie passt Konfuzius da rein?

Konfuzius garantiert das geheim-offenbare Betriebsgeheimnis des chinesischen Erfolgs der vergangenen vierzig Jahre. Bereits im ersten Kapitel der Gespräche des Konfuzius mit seinen Schülern steht, was bis zum heutigen Tage in China gilt: „Lernen, lernen, lernen   – ist das nicht das höchste Glück?“ Die große Forderung des Konfuzius ist das lebenslange übende und lernende Leben   – und zwar als Chaosüberwindungsstrategie entwickelt in der Zeit der Streitenden Reiche um 500 v. Chr. Konfuzius hat darüber nachgedacht, wie man überleben kann. Dazu gehört bei ihm auch die Einsicht: In großer Not und Gefahr überlebt nur das Kollektiv und nicht eine anarchische Individual- und Streitgesellschaft. Der Einzelne kommt todsicher nicht durch, aber das Kollektiv überlebt. Konfuzius konnte sich hierbei auf die chinesische Sprache beziehen: Sie kennt keine Konjugation der Verben. Es ist unmöglich, sich in der chinesischen Sprache als „ich“ zu präsentieren.

Konfuzius hat also den Kommunismus antizipiert?

Zumindest steht der Gemeinsinn und nicht der Eigensinn im Zentrum einer Gesellschaft. Das hängt damit zusammen, dass Konfuzius in einer Gesellschaft geboren wurde, die im Grunde bis zum heutigen Tag eine hydrologische Reisbauernkultur ist. Wir Europäer sind dagegen das Ergebnis einer agrarwirtschaftlichen Kultur, wo man sich hinter Mauern und Hecken verstecken und im besten Fall über den Anwalt miteinander kommunizieren kann. Die Reisbauern-Gesellschaft in China ist dagegen verbunden durch kommunizierende Wasserröhren, bei denen es darauf ankommt, dass jeder das Wasser nimmt, aber auch gibt. Das ist für China existenziell, denn China hat nur etwa sechs Prozent der Anbaufläche der Welt bei einem Fünftel der Menschheit. Das heißt, China ist ständig vom Verhungern bedroht. Und die Seidenstraße ist unter anderem auch der Versuch, diesem Problem durch dauernde Nahrungszufuhr abzuhelfen.

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Die Universitätsbibliothek in Hong Kong.archello

Konfuzius hat also die Jahrtausende der Geschichte Chinas geprägt, egal ob Kaiser oder Kommunisten.

Der Kaiser hatte in China nur das Mandat des Himmels, solange er das Verhungern vermeiden konnte. Nicht zufällig wurde die Ming-Dynastie 1644 von rebellierenden Reisbauern beendet   – mit dem darauf folgenden Selbstmord des Kaisers Weizong. Übrigens, Mao Tse Tung hat 60 Millionen Chinesen verhungern lassen.

Auch heute streicht die Kommunistische Partei hervor, dass sie 700 Millionen Menschen aus der Armut geführt hat   – und bezieht dadurch ihre Legitimität.

So ist es, und Goethe ist der Repräsentant der Vorstellung: „Was ich bin, bin ich anderen schuldig.“ Er kannte das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen und wusste, dass das Überleben am Ende nur durch das Kollektiv möglich ist: „Ein jeder übe seine Lektion, so wird es gut im Rate stohn“.

Nehmen die Chinesen Goethe nun in ihren Propaganda-Kanon auf, weil er ihnen irgendwie reinpasst, oder sagen sie: Jetzt haben wir das Verhungern überwunden, jetzt brauchen wir ein höheres Niveau in der Bildung?

China verfügt seit Jahrtausenden über das hohe qualitative Alleinstellungsmerkmal einer Sprache, deren Erwerb nur durch extreme Leistungsbereitschaft möglich ist. Durch die Schrift hat China die Erde zu einem asketischen Stern verwandelt   – und zwar im ursprünglichen Sinn des Wortes Askese: Üben.

Goethe hat, wie Konfuzius, gesagt: Nur die Fähigsten sollen einen Staat führen dürfen. Das trifft sich mit dem Konzept der Chinesen, wonach es strenge Kriterien gibt, damit jemand Politiker werden darf. Interessiert das die Chinesen auch an Goethe?

Goethe erschien in Deutschland als Ausnahme in einer idealistisch und romantisch orientierten Gesellschaft   – nämlich als Erzrealist. Er war überzeugt: Um einen Staat zu führen, wird vor allem pragmatische Staatsklugheit benötigt. Goethe glaubte nicht, dass man einen Staat aus einer abstrakten Vernunftidee heraus führen kann. Nur die Tüchtigsten, die sich konkret mit Problemen beschäftigen und sie lösen wollen, können einen Staat führen. Er selbst war ja ein Leben lang Staatsminister aller Ressorts! Das war seine Art praktischer politischer Klugheit. Er hat außerdem dialektisch gedacht: „Ich diene gern, weil die Herrschaft draus entspringt.“

Wie wird man in China Politiker?

Man wird Politiker, indem man die meritokratische Karriere des chinesischen Lebens meistert. Die beginnt damit, dass Sie mit drei Jahren in den Kindergarten kommen, der Sie vorbereitet auf die verpflichtende Grundschule von neun Jahren. Sie müssen vor allem ständig Prüfungen ablegen, um etwas zu erreichen   – bis hin zum Gao Kao in der zwölften Klasse. Und der Steigungswinkel ihrer Karriere richtet sich nach den Ergebnissen des Gao Kao. Das alles geschieht auf der Grundlage einer Sprache, deren Beherrschung bereits zur Aufnahme im Kindergarten nachgewiesen werden muss, in Gestalt von unterschiedlichen Tonhöhen und Zeichen, Idiogrammen. Um das zu erreichen, werden die Kinder im Kindergarten sofort ganztags beschult, um die schwere Aufnahmeprüfung in die Grundschule zu schaffen.

Also keine Spielkrippe?

Überhaupt nicht. Die Ausbildung wird nach einem strengen Curriculum absolviert. Man beginnt mit mehreren hundert Idiogrammen und den zugehörenden Tonhöhen. Wenn man im Chinesischen sagt „Ma“, muss man als Kind mindestens wissen, dass es entweder „die Mutter“ oder „das Pferd“ oder „ich schimpfe“ oder „es tut mir weh“ bedeuten kann. Dies muss in Millisekunden begriffen werden. Die Sprache verlangt höchste Konzentration.

Das Erlernen der chinesischen Sprache ist also gleichzeitig Ausbildung in Musik, bildender Kunst, Mathematik und Konzentration. Das ist ja ein enormer Startvorteil für diejenigen, die das als Kinder gelernt haben. Ist das einer der Gründe der chinesischen Erfolge?

Die Neurowissenschaften der Universitäten in Washington und Shanghai haben das untersucht. Das Ergebnis ist eindeutig: Es werden neuronale Kompetenzen entwickelt, von denen wir im Westen wenig wissen. Denn das Gehirn entwickelt in früher Zeit bereits ein zeichenhaftes Gedächtnis und es wird außerdem ein gutes akustisches Gedächtnis entwickelt für die Tonhöhen. Man erlernt hierbei eine hohe Konzentration. Alle diese Fähigkeiten sind irreversibel, weil sie so früh erlernt werden. Das heißt, es entsteht eine Leistungs- und Motivationskonditionierung, die nie wieder verloren geht.

Wenn ich das jetzt mit unserem Bildungssystem vergleiche …

(lacht laut und herzlich): Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das mit dem Prinzip einer Kuschelpädagogik jedenfalls nicht vereinbar ist.

Diese komplexe Sprache befähigt die Chinesen in einzigartiger Weise zu außergewöhnlichen Leistungen   – unabhängig davon, ob jetzt die Kommunisten regieren oder ein Kaiser?

Alle Fremdherrscher, die versucht haben, China zu beherrschen, wie die Mandschus oder die Mongolen, sie alle mussten sich dieser Sprache unterwerfen. Sie mussten sie lernen, ob sie es wollten oder nicht

Ist es nun so wie bei der Musik: Wer diese komplexe, nuancierte und vielschichtige Sprache besser und schneller erlernt als die anderen, der kommt auch nach oben?

Da sind wir wieder bei Goethe. Er war dieser meritokratische Typus eines chinesischen Bildungsadels. Denn er hat sich gleich im ersten Vers des erwähnten Gedichtzyklus als Mandarin bezeichnet. Die Mandarine waren die Grundlage des chinesischen Reichs über Jahrtausende: Beamte, die durch drei der schwierigsten Prüfungen der Welt aufgestiegen sind bis zum Mandarin erster Klasse in einer Prüfung vor dem Kaiser. Die das geschafft haben, sind im Konfuzius-Tempel in Peking in ehernen Tafeln für die Ewigkeit eingeritzt als die Leistungsträger dieses Reichs.

Gilt das heute auch noch? Im Westen wird von den kommunistischen Führern gerne abwertend als Partei-Bonzen geredet.

Der Staat besteht im Wesentlichen aus geprüften Gao-Kao-Mandarinen. Nachdem Mao Tse Tung die Konfuzianer an die Wand gestellt hatte, hat sich sein Nachfolger Deng Xiao Ping der Mandarine erinnert und deren Bildungs- und Leistungsprinzipien für alle Chinesen verbindlich gemacht. Auf diese Weise ist es China gelungen, 700 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. China ist zur größten Handelsmacht avanciert und auf dem Weg dorthin, wo es schon einmal war, nämlich in der Song-Dynastie vom 10. bis zum 13. Jahrhundert: zur technologischen und wissenschaftlichen Führungsmacht der Welt.

Es ist irgendwie tröstlich, dass es in einem entscheidenden Moment ein Einzelner war, nämlich Deng, der das System auf Kurs gebracht hat, und nicht der Schwarm, das Kollektiv.

Er hat aus der Geschichte gelernt.

Warum hat Mao die Konfuzianer an die Wand gestellt?

Wir Deutschen waren die größten Exporteure philosophischer Systementwürfe. Schon Goethe warnte vor den Deutschen: „Ihr seht schon ganz manierlich aus, kommt mir bloß nicht absolut nach Haus.“ Hegel war auf die Idee gekommen, dass der Herr der Knecht und der Knecht der Herr sein könnte. Das wurde die Grundlage für Marx und Engels mit dem Ziel eines siegreichen Proletariats der industriellen Revolution über das Kapital. Das Problem war nur: Weder Russland noch China hatten ein Proletariat. Daher entstand stattdessen dort eine Staatsdiktatur.

Aber warum hat Mao das System der Mandarine zerstört? Was war der Grund für diesen Systembruch?

Das war der falsch verstandene Begriff der Gleichheit aus der Französischen Revolution. Goethe hat das im Gedicht „Egalité“ erläutert. Hier heißt es: „Gleich zu sein mit gleichen ist schwer zu erreichen. Du müsstest ohne Verdrießen, wie der Schlechteste zu sein, dich entschließen.“ Das war Mao Tse Tungs Irrtum.

Also Nivellierung nach unten?

Das machen wir hier von morgens bis abends. Gucken Sie doch nur zum Fenster raus (deutet auf den Alexanderplatz).

Was empfinden Sie, wenn Sie auf das deutsche Bildungssystem schauen und an Ihre Enkel denken?

Goethe hat den Faust versiegelt und mit ihm den Satz: „Jeder Trost ist niederträchtig, Verzweiflung allein ist Pflicht.“ Goethe war überzeugt, dass sich das Europa des Egalité-Gedichts auf dem Weg einer falsch verstandenen, bequemen Gleichheit befand.

Wie ist die Rolle der Lehrer in der Gesellschaft, auch im Vergleich zu uns?

Der Lehrerberuf ist in China das höchste, was der Mensch erreichen kann. Im ebenfalls konfuzianisch geprägten Japan gilt sogar der Satz: „Einmal Lehrer gewesen, kann man es nie wieder lassen.“ Lernen ist höchstes Gut, und man ist dem Lehrer dafür ein Leben lang dankbar. Konfuzius geht sogar davon aus, dass es eine lebenslange Dankesschuld gibt gegenüber den Eltern, die man niemals abtragen kann, weil sie uns das höchste Gut geschenkt haben: das Leben und die Erziehung. Und daraus folgt eine Hierarchisierung der ganzen Gesellschaft.

Wenn die Regierenden allerdings Dankbarkeit verlangen, ist der Weg zur Diktatur nicht weit.

Diese Gefahr besteht. Goethe hat das allerdings anders verstanden. Er hätte sicherlich auch nicht geglaubt, dass man ein Milliardenvolk basisdemokratisch so wie bei Stuttgart 21 regieren könnte.

Sie haben einmal gesagt, China hat sich vom Imitator zum Innovator entwickelt. Ist das System heute so stabil, dass ein Zusammenbruch, etwa wegen Korruption, unwahrscheinlich ist?

China hat eine Fülle von Problemen. Wir haben eine Jugendarbeitslosigkeit von fast 20 Prozent, eine alternde Gesellschaft und eine sehr hohe Staatsverschuldung. Die Gefahren, dass daraus das größtmögliche Chaos entsteht, wie es zur Zeit der Streitenden Reiche 500 v. Chr. herrschte, ist nicht völlig auszuschließen. Das Mandat von Xi Jinping richtet sich, wie das der Kaiser, an die Abwehr der beiden größtmöglichen Unglücke: des Verhungerns und der Wiederkehr des größtmöglichen Chaos in einem Land mit unzähligen Sprachen, Ethnien und Religionen. Und das in einem Land, in dem auch heute jährlich zahlreiche Revolten stattfinden.

Sind 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit nicht ein Hinweis, dass das System der Meritokratie vielleicht doch nicht so gut funktioniert?

Im chinesischen System muss der Herrscher diese Gefahren abwehren. Wenn er bei der Abwehr versagt, hat er nicht mehr das Mandat des Himmels. Xi legitimiert sich heute vor dem chinesischen Volk, dass seine Biografie für die Chinesen von konfuzianischer Meritokratie geprägt ist. Er hat furchtbares Elend überwunden. Denn er wurde durch den tiefen politischen Sturz seines Vaters in Sippenhaft genommen. Er musste Toiletten reinigen, in einer Höhle schlafen. Er ist über Jahre hinweg unsäglich gedemütigt worden und hat sich emporgearbeitet. Xi ist also im Grunde ein Konfuzianer. Er hat auf Deutsch Frau Merkel den entsprechenden Satz aus Goethes Faust II vorgetragen: „Nur der gewinnt sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“

Warum hat Xi das gesagt? 

Er hat Goethe als bildungs- und leistungsorientierten Konfuzianer verstanden. Vielleicht wusste er sogar, dass Goethe seinen Faust versiegelt hat. Denn Goethe hat nicht geglaubt, dass die Deutschen seine Prophetie der großen Krisen der Moderne verstehen würden.

Aber die Chinesen wollen sie verstehen, sonst würden sie Goethe nicht übersetzen.

Die Chinesen wollen es offenbar verstehen und daraus lernen. Sie ahnen möglicherweise, dass Goethe im Faust Gerichtstag hält über die fundamentale Fehlentwicklung in Europa, das sich vom Prinzip des lernenden und übenden Lebens verabschiedet hat, und dies mit Hilfe der industriellen Revolution. Denn der europäischen Gesellschaft ist es in den vergangenen 200 Jahren gelungen, den Wohlstand um das 30- oder 40-fache zu erhöhen. Und zwar durch die Ausbeutung gigantischer, unterirdischer fossiler Wälder. Mit der Folge, dass ein Verwöhnungstreibhaus einer luxurierenden Spaß- und Konsumgesellschaft entstanden ist   – mit unabsehbaren Folgen im Falle des Entzugs.

Können die Probleme Chinas dazu führen, dass sie so werden, wie die Amerikaner heute schon warnen, nämlich kriegslüstern? 

Die chinesische Geschichte zeichnet sich nicht aus durch die hohe Militanz westlicher Imperien. In der konfuzianischen Hierarchie hatte der Soldatenberuf ohnehin einen sehr niedrigen Stellenwert. Das waren die Leute, die andere umbringen mussten. Für China bleibt die Priorität, die nächsten 700 Millionen Menschen aus der Armut holen.

Eine Kriegswirtschaft würde diesem Ziel nicht dienen …

… und ist daher keineswegs im Interesse Chinas. Gleichwohl will China gegen Aggression gewappnet sein durch Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit. Immerhin musste China im Vertrag von Aigun 1858 eine halbe Million Quadratkilometer mandschurischen Territoriums an Russland abtreten.

Kann der Krieg Russlands China nützen?

Jedenfalls dann, wenn sich daraus eines Tages die Rückübereignung verlorener Territorien durch Russland ergeben sollte. China hat jedenfalls Zeit, und ein altes Sprichwort lautet: „Langsam den Fluss überqueren und mit den Füßen die Steine abtasten.“

Ist das Goethe-Projekt der Chinesen Ausdruck der Wertschätzung für Deutschland?

China hat großen Respekt vor Deutschland als Nation der Kreativität und Innovation. Aber es besteht die Möglichkeit, dass dieses Interesse sinken könnte, falls man sich vom Leistungsprinzip verabschieden sollte. In den „Chinesisch-deutschen Tages- und Jahreszeiten“ heißt es: „Sehnsucht ins Ferne, Künftige zu beschwichtigen, beschäftige dich hier und heute im Tüchtigen!“ In Goethe sehen die Chinesen offenbar einen der ihren und wollen ihn in ihre Kultur integrieren. Sie sagen: Goethe rezipieren wir, weil er auf der Höhe einer leistungsorientierten Kultur steht.

Das heißt, die Deutschen sollten zumindest wieder anfangen, Goethe zu lesen, um die Chinesen besser zu verstehen?

Das wäre vielleicht der Weg.

*Dr. Manfred Osten wurde 1938 in Ludwigslust/Mecklenburg geboren. 1952 Flucht in die BRD und Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Musikwissenschaften und Literatur. Diplomatischer Dienst, u. a. in Frankreich, Kamerun, Ungarn und Japan. Von 1995 bis 2004 war er Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung. Mitwirkung als Tutti-Bratschist im Melbourne Symphony Orchestra und in der Victorian State Opera in Australien.

Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/deutschland-ueberfordert-china-uebernimmt-jetzt-goethe-li.386848

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