Lehren aus Afghanistan

Der westliche Furor gegenüber Moskau zeigt: In der Ukraine geht es um mehr als nur um diese selbst. Um viel mehr. Washington will dort Russland endgültig besiegen und zugleich damit einen Kollateralschaden beseitigen, den es sich im irrationalen Überschwang seines Triumphs im Kalten Krieg mit der fortschreitenden Ostexpansion der Nato selbst zugefügt hat: Russlands zunehmende Abkehr vom Westen und Hinwendung zu China und das Heranwachsen einer ernsthaften Bedrohung für Amerikas globale Vormachtstellung.

George Kennan, der Erfinder der erfolgreichen Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg, hat die Osterweiterung der transatlantischen Militärallianz als «verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Aussenpolitik seit Ende des Kalten Krieges» bezeichnet und schon 1997 bei deren erster Runde eindringlich gewarnt: Die Expansion werde in Moskau «nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen anheizen; sich nachteilig auf die Entwicklung der dortigen Demokratie auswirken; die Atmosphäre des Kalten Krieges wiederherstellen und die russische Aussenpolitik in eine Richtung treiben, die uns definitiv nicht gefallen wird». Genau so ist es gekommen.

Dennoch hält Washington bis heute an dem eingeschlagenen Kurs fest, missachtet weiter die Moskau ehedem im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung   – und sei es nur mündlich   – gegebenen Versprechen sowie den Geist des Zwei-plus-vier-Vertrags zur deutschen Einheit. Die USA erhöhten sogar noch den Einsatz und gingen aufs Ganze. Dabei verfolgten sie eine Strategie, die der ehemalige Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, dessen Zöglinge bis heute die US-Aussenpolitik prägen, schon in Afghanistan einmal erfolgreich gegen Moskau angewandt hatte. Brzezinski lockte Russland damals in eine Falle, indem er die Taliban bei ihrem Kampf gegen das moskaufreundliche Nadschibullah-Regime in Kabul massiv mit Waffen unterstützte, verleitete sie zum Einmarsch in das Land am Hindukusch und zu einem kräftezehrenden Krieg.

Wie in der Ukraine Russland, so setzt Washington China an seiner empfindlichsten Stelle unter Druck.

Nach diesem Muster provozierten die Schüler des grossen Lehrmeisters nun Moskau, indem sie die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine vorantrieben, die jahrhundertelang Teil des Zarenreichs beziehungsweise der Sowjetunion gewesen war und laut Rand Corporation, der Denkfabrik des Pentagons, Russlands «grössten äusseren Schwachpunkt» darstellt.

Russland überdehnen

Auf Drängen von US-Präsident George W. Bush erklärte das Militärbündnis bei seinem Jahrestreffen in Bukarest 2008, die Ukraine in ihren Kreis aufnehmen zu wollen. Deutschland und Frankreich wussten, dass für den Kreml damit eine rote Linie überschritten wurde, und ahnten Böses. Doch für ein Veto erwiesen sie sich als zu schwach. Mit Ach und Krach konnten sie nur noch die Angabe eines Aufnahmedatums verhindern.

Barack Obama, Bushs Nachfolger im Weissen Haus, verfolgte das Vorhaben gleichwohl mit Hochdruck weiter und beauftragte seinen Vize Joseph Biden höchstpersönlich mit dem Ukraine-Dossier. Washington investierte Milliarden in das Projekt einer Loslösung der Ukraine von Moskau.

Der Aufwand sollte sich schon bald auszahlen. Bei den Maidan-Unruhen 2014 wurde die demokratisch gewählte, russlandfreundliche Regierung in Kiew gestürzt und mit US-Hilfe an ihrer Stelle eine russlandfeindliche installiert. In den folgenden Jahren machte Washington das Land de facto immer mehr zu einem Mitglied des westlichen Militärbündnisses   – und damit in den Augen Moskaus zu einer existenziellen Bedrohung. Die USA trainierten das ukrainische Militär, rüsteten es mit modernen Waffen auf und führten im Rahmen der Nato gemeinsame Manöver durch. Im Juni 2021 bekräftigte das Bündnis auf seinem Gipfel in Brüssel noch einmal ausdrücklich seinen Beschluss von Bukarest.

Der Titel einer Studie der Rand Corporation aus dem Jahr 2019 bringt auf den Punkt, worum es Washington von Anfang an ging: «Overextending and Unbalancing Russia» (Russland überdehnen und aus dem Gleichgewicht bringen). Am Besten eigne sich dazu Moskaus Achillesferse, die Ukraine. Sie gelte es «auszunutzen» und Kiew «lethal aid» zu geben, sprich: Waffen zu liefern. Washington hat sich deshalb auch nie dafür starkgemacht, das von Deutschland und Frankreich herbeigeführte Minsker Abkommen mit Leben zu erfüllen, das ein Ende des blutigen Bürgerkriegs im Osten der Ukraine und eine föderale Struktur mit weitgehender kultureller Autonomie der russisch geprägten Landesteile vorsah.

Deutschland und Frankreich wussten, dass für den Kreml eine rote Linie überschritten wurde.

Vielmehr unterstützte es den damaligen Präsidenten Petro Poroschenko, der jüngst selbst erklärte, das Abkommen nie ernst gemeint und es seinerzeit nur unterschrieben zu haben, «um Zeit zu gewinnen»   – offenbar, bis sich mit Hilfe der USA die militärischen Kräfteverhältnisse für Kiew so verbessern, dass eine Rückeroberung der nach dem Maidan-Putsch abtrünnigen russlandfreundlichen Gebiete im Donbass und vielleicht auch der Krim möglich wird. Wladimir Putin wollte Kiew diese Zeit offenkundig nicht lassen. Ohne Rücksicht auf das Völkerrecht und die Warnungen vor ernsten Konsequenzen auch für sein eigenes Land zu nehmen, gab er den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine.

Wenn nicht gezielt provoziert, so haben die USA diesen Angriff doch zumindest bewusst riskiert. Jedenfalls passt er in ihr geopolitisches Kalkül. Obwohl eine Pufferzone zwischen Russland und einem Verteidigungsbündnis, als das sich die Nato selbst bezeichnet, dem Frieden durchaus dienlich erscheint, lässt Washington von seinem Ziel einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nicht ab. Statt auf ein möglichst rasches Ende der Kampfhandlungen hinzuarbeiten, ermutigt die Biden-Regierung Kiew vielmehr dazu, möglichst lange weiterzukämpfen.

Russland soll in der Ukraine offenkundig dauerhaft gebunden bleiben und so bluten, dass es als Verbündeter Pekings für die entscheidende Auseinandersetzung mit China nicht mehr ins Gewicht fällt, die europäischen Nato-Partner es mehr oder weniger alleine in Schach halten können und Washington sich voll dem eigentlichen Herausforderer im Pazifik zuwenden kann.

Gleiches Spiel in Fernost

Der Einmarsch in die Ukraine hat Russland auf Dauer von Europa entfremdet und, wie die Communiqués der jüngsten Gipfeltreffen von G-7 wie Nato unterstreichen, die Bereitschaft der EU zementiert, die ihr von jenseits des Atlantiks zugedachte Arbeitsteilung zu akzeptieren. Die Nato bleibt Europas archaisches Über-Ich, der Kontinent westlicher Brückenkopf Amerikas auf der eurasischen Landmasse.

Mit ihrer Ukraine-Politik hat die EU (allen voran Deutschland) sich selbst wirtschaftlich wie politisch schwerste Wunden zugefügt und wohl die letzte Chance vertan, eine gewichtige eigenständige Rolle in der Weltpolitik zu spielen.

Derweil richten die Washingtoner Fallensteller ihre Blicke bereits verstärkt nach Fernost. Lange Zeit haben die USA dort gleichermassen Peking davon abgeschreckt, die Insel gewaltsam zurückzuerobern wie Taipeh davon, seine Unabhängigkeit von Peking zu erklären. Doch das ändert sich gerade. Statt wie bisher beide Seiten im Unklaren darüber zu halten, ob sie im Falle eines bewaffneten Angriffs von Peking auf Taiwan ihr eigenes Militär in Marsch setzen würden, lassen die USA ihre Absicht dazu immer deutlicher durchblicken.

Zugleich stärken sie Taiwans Streitkräfte und verleiten mit immer mehr Waffen und Training China so zu einem immer aggressiveren Auftreten, das seine asiatischen Nachbarn zunehmend verschreckt.

Kurz: Wie in der Ukraine Russland, so setzt Washington China in Taiwan an seiner empfindlichsten Stelle unter Druck. Reagiert Peking darauf genauso wie Moskau, werden auch die Folgen genauso schlimm sein. Mindestens.

*Stefan Baron war Chefredaktor der Wirtschaftswoche und Kommunikationschef der Deutschen Bank. Ein Jahr vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine legte er das Buch «Ami Go Home   – Eine Neuvermessung der Welt» vor, in dem er zur Wahrung von Frieden und Wohlstand in Europa die dringende Notwendigkeit einer Emanzipation von den USA begründet.

Quelle: https://weltwoche.ch/story/amerika-missbraucht-europa/
Mit freundlicher Genehmigungh von Weltwoche