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Von Alastair Crooke 29. Mai 2024 - übernommen von english.almayadeen.net
29. Mai 2024

Alastair Crooke: Auf dem Weg zum Abgrund


Netanjahu verfügt paradoxerweise über mehr Einfluss auf wichtige institutionelle Machtstrukturen in den USA als das Weiße Haus, um den zweiten „Unabhängigkeitskrieg“ seiner Regierung zu führen.

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Im Westen dreht sich heute alles um die Manipulation von Narrativen und die Schaffung eines erfolgreichen Mems (Illustriert von Mahdi Rteil für Al Mayadeen English)

Verschiedene europäische Stimmen warnen verzweifelt davor, dass dem gedemütigten Westen angesichts des auf ein Debakel zusteuernden Ukraine-Projekts kaum eine andere Wahl bleibt, als drastisch zu eskalieren und die NATO   – in irgendeiner Form, ob begrenzt oder nicht   – in den Kampf einzubeziehen.

Der ehemalige britische (konservative) Parlamentsabgeordnete Andrew Bridgen erklärt, dass diese strategische Verschiebung (deren Geschwindigkeit die Europäer unvorbereitet traf) Europa in einen Krieg mit Russland zwingt.

In der Tat warnt Bridgen: „Wir (Großbritannien) befinden uns bereits im Krieg“ mit Russland. Dies sei der wahre Grund, warum Rishi Sunak vorgezogene Neuwahlen anberaumt habe   – er weigere sich, ein „Kriegs-Präsident“ zu sein. Er übergibt den Staffelstab an Keir Starmer (und fliegt nach dem 4. Juli   – dem Wahltag   – nach Kalifornien). Die „Generäle“ haben Sunak gewarnt, dass der Befehl zum Krieg mit Russland „gefallen“ sei. Und Sunak möchte daran nicht teilnehmen.

Unabhängig davon, ob Bridgen mit den Einzelheiten Recht hat oder nicht, gibt es zweifellos einen Chor da draußen, der das Gleiche sagt. Ist diese Kakophonie plötzlicher Kriegswarnungen nur das, was (Matt Taibbi) ein Beispiel für das 'Elefanten-Auslöschungs-Projekt' nennt? Bei dem wir ständig angewiesen werden, die Elefanten im Raum nicht zu sehen.

Und davon gibt es eine Menge: Offene Grenzen, sinkender Lebensstandard, hohe Preise, ausufernde Schulden und sinkende Bewertungen für Biden. Hinzu kommt, dass das Weiße Haus die Israelis weiter aufrüstet und grünes Licht für die Militäroperation in Rafah gibt   – und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem der IGH angeordnet hat, die Zerstörung von Leben zu stoppen. Ein klares Oxymoron.

Natürlich ist das Team Biden nicht bereit, seine „eiserne“ Unterstützung für die Israelis zu ändern, aber das Einzige, was klar ist, ist, dass die Kriegswarnung nicht unbedingt buchstäblich wahr ist   – außer, dass sie uns wirklich Angst machen und von den „Elefanten“ ablenken will.

„Die ‚informierende Klasse‘ hat jetzt nicht einmal mehr den Anstand, uns zu sagen, wer oder was sie sind.“ Wenn man „Nachrichten“ liest, weiß man nicht, ob es sich um ein abgehobenes „Briefing“ des Weißen Hauses handelt oder um eine dieser aggressiven Veröffentlichungen von Geheimdienstinformationen, die uns wieder einmal sagen, dass Russland wirklich in den Seilen hängt und kurz vor dem Zusammenbruch steht.

Die NYT warnte auf ihren Seiten vor dem, was kommen könnte, wenn „Amerika versucht, es mit Putin aufzunehmen und den Meister in seinem eigenen Informationskriegsspiel zu schlagen“. Diese offizielle Ankündigung der „Informationsschlacht“ durch die Times ging so weit, dass Jake Sullivan erklärte, das Problem mit der [irakischen] Massenvernichtungswaffen-Episode sei nicht, dass die Verbreitung einer von den Geheimdiensten erdachten Lüge „von diesem Podium aus“ falsch gewesen sei, sondern dass dies aus den falschen Gründen geschah, nämlich um einen Krieg zu beginnen, anstatt ihn zu beenden:

Was also ist es? Handelt es sich bei der Darstellung, wir stünden am Rande eines echten Krieges mit Russland, um eine „Täuschung“, die uns von der Elefantenherde ablenken soll, die im Moment noch still vor sich hin grast, deren Anwesenheit aber im Laufe des Wahlkampfes immer deutlicher zu Tage treten wird?

Einerseits ist die Vorstellung absurd, dass Europa in der Lage ist, einen echten Krieg zu führen. Andererseits gibt es genug Idioten, die im Wahn längst vergangener Größe etwas Dummes tun könnten. Interessanterweise räumt der ehemalige britische Abgeordnete Andrew Bridgen dieses Risiko implizit ein, fügt aber hinzu, dass es Gott sei Dank Putin ist, der auf der anderen Seite steht!

Auf der anderen Seite dreht sich heute im Westen alles um die Manipulation von Narrativen und die Schaffung eines erfolgreichen Mems. Das „andere“ Narrativ zum „kommenden Krieg“ (laut Reuters) ist, dass Präsident Putin so schnell wie möglich einen Waffenstillstand in der Ukraine will   – und zwar an den derzeitigen Kontaktlinien an der Front   –, weil er Angst vor einer weiteren Mobilisierung hat, um die Sonderoperation zu beenden.

Dies ist eine reine Desinformation, doch könnte sie als Gegenstück zum Angst-Narrativ dienen, wonach der Westen entschlossen ist, sich an den Rand des Abgrunds eines Krieges mit Russland zu begeben? Und könnte diese Politik des Drahtseilakts es der Biden-Kampagne ermöglichen, zu behaupten, dass sie in der Ukraine „gewinnt“; Putin wird so dargestellt, als zittere er vor dem drohenden Krieg gegen das Ungetüm der kombinierten wirtschaftlichen und militärischen Macht des Westens. Eine partielle Westukraine wird diesem Narrativ zufolge tatsächlich überleben, um ein zukünftiges NATO- und EU-Mitglied zu werden.

Was diese Kriegserzählung nicht ist, sind Nachrichten. „Die Informationen, die sie vermitteln, wenn man sich die Mühe macht, sie zu sichten“, zitiert Taibbi Walter Kirn, „sind Informationen über sich selbst, über die Ziele, Überzeugungen und Loyalitäten derer, die sie produzieren: die informierende Klasse.“

Es stellen sich zwei Fragen: Erstens: Geht es Sullivan darum, den 3. Weltkrieg zu verhindern, oder ihn zu beginnen?

Und zweitens, um noch einmal auf das Bridgen-Interview zurückzukommen, sagt er, der Befehl sei den Generälen „zugegangen“ und an Sunak weitergeleitet worden.

Was also ist es?

Netanjahu beschwor in einer Erklärung am 28. Oktober zu Beginn der israelischen Bodeninvasion in Gaza: „Denkt daran, was Amalek euch angetan hat“, und zitierte damit den biblischen Vers, in dem Jahwe den Israeliten befiehlt, das feindliche Volk der Amalekiter bis auf ihre Babys und Tiere auszurotten. (Südafrika hat Netanjahus Erklärung vor dem IGH als Beweis für die völkermörderische Absicht Israels in Gaza eingereicht.)

Nun, Netanjahu hat es wieder getan (am 20. Mai). Als Reaktion auf die Nachricht, dass der IStGH einen Haftbefehl gegen ihn beantragt hat, berief er sich auf Amalek. „Diesmal“, so berichtet Mondoweiss, „benutzt Netanjahu denselben Verweis, um die Nation gegen ihre Feinde aufzubringen   – zu denen jetzt offenbar auch der IStGH und der IGH gehören   –, wobei er in der hebräischen Version seiner Tirade gegen den Gerichtshof eine verschlüsselte Sprache verwendet“.

„Die englische Version der Rede, die er gehalten hat, finden Sie hier. Die hebräische Version war anders. Sie endete mit einem hebräischen Satz - „Netzah Israel lo yeshaker“   – was bedeutet „der Ewige Israels lügt nicht“. Diesen Satz richtete er an „die Lügen in Den Haag“, wie er in der Erklärung sagte. Die Bedeutung dieses Satzes wird sich der breiten Öffentlichkeit nicht erschließen, da er auf belastete Codes sowohl in der biblischen als auch in der zionistischen Geschichte und Mythologie zurückgreift.

Modoweiss fährt fort:

„Der Satz selbst stammt aus Samuel I, 15:29. Der Kontext ist hier alles. König Saul wurde vom Propheten Samuel ermahnt, weil er die Amalekiter nicht vollständig ausgerottet hatte   – Saul hatte ihren König Agag und „die besten Schafe und Rinder“ verschont, die die Israeliten „nicht vollständig vernichten wollten“. Der Bibel zufolge war dieses Ausmaß der Vernichtung nicht genug   – und zeigte die vermeintliche Schwäche von König Saul. Deshalb ermahnte der Prophet Samuel den biblischen König:

„Der Herr hat dich zum König über Israel gesalbt. Und er hat dich mit dem Auftrag gesandt: 'Geh hin und vernichte dieses böse Volk, die Amalekiter, vollständig; führe Krieg gegen sie, bis du sie ausgerottet hast.' Warum hast du dem Herrn nicht gehorcht? Warum hast du dich auf die Beute gestürzt und Böses getan in den Augen des Herrn?“

„Saul versucht, seine Taten zu verteidigen, doch Samuel überbringt ihm eine unmissverständliche Botschaft:

„Du hast das Wort des Herrn verworfen, und der Herr hat dich als König über Israel verworfen!“

„Mit diesem Satz beendete Netanjahu seine hebräische Rede, mit der er auf den Antrag des IStGH reagierte. Er deutet an, dass sich der Gerichtsbeschluss gegen den gesamten Staat Israel richte. Mit anderen Worten, er sendet die Botschaft, dass er nicht denselben Fehler wie König Saul machen wird   – indem er Amalek nicht vollständig ausrottet. Er wird bis in den Gazastreifen vordringen. Er wird bis nach Rafah gehen. Er wird „die Saat von Amalek auslöschen“, wie israelische Soldaten im Dezember in einem aufgezeichneten Video skandiert haben.

„Netzhah Israel lo yeshaker“ bildet das Akronym „NILI“. NILI war ein zionistischer Untergrund-Spionagering, der während des Ersten Weltkriegs zwischen 1915 und 1917 tätig war. Es handelte sich um eine nachrichtendienstliche Gruppe, die für die Briten gegen die Osmanen arbeitete, die zu dieser Zeit noch Palästina beherrschten ... Netanjahus Beschwörung „der Ewige Israels lügt nicht“ ist nicht nur ein biblischer Verweis auf die Gefahren, die entstehen, wenn man bei der Vernichtung der Amalekiter (die in diesem Fall die Palästinenser sind, die in Rafah und dem restlichen Gazastreifen zurückgeblieben sind) nicht bis zum Ende geht   – es ist auch ein historischer Verweis auf den Widerstand der zionistischen Bewegung gegen die Macht, wenn diese für die zionistische Sache ungünstig ist.

Nur um das klarzustellen: Das, was in dem obigen hebräischen Zitat über die Vernichtung von Amalek angedeutet wird, kann nur in einem Klima der Krise und des Chaos erreicht werden (der israelische Finanzminister Smotrich hat dies vor einigen Jahren ausdrücklich gesagt), andernfalls werden die weltweite Isolierung und die Zermürbung die Israelis schnell verkalken und das Ziel des Kabinetts, den zionistischen Staat im gesamten Land Palästina in einem „neuen Unabhängigkeitskrieg“ zu errichten, ersticken.

Netanjahu verfügt paradoxerweise über mehr Einfluss auf die wichtigsten institutionellen Machtstrukturen in den USA als das Weiße Haus, um den zweiten „Unabhängigkeitskrieg“ seiner Regierung zu führen. Ist der „Befehl zur Ausweitung“   – ein Befehl, der nahelegt, dass die Israelis eine größere Krise benötigen, um ihren Weg unbemerkt in einem größeren Chaos fortzusetzen?

Wird die Lüge verbreitet, dass die von den USA an die Ukraine gelieferten Langstreckenraketen das Spiel verändern, um einen Krieg zu beginnen, anstatt ihn zu beenden? Oder handelt es sich um eine trügerische Botschaft mit Blick auf den November? Was auch immer es ist, die daraus resultierende harte Reaktion Russlands wird das Wahlkalkül durcheinander bringen.

Quelle: https://english.almayadeen.net/articles/analysis/walking-the-precipice?utm_source=substack&utm_medium=email
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus