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«Wir müssen aufhören, Kinder zu Konsumenten zu machen»

Neurobiologe Gerald Hüther sagt, was wir Kindern schenken sollten  – und warum er seinen Eltern dankbar ist, dass sie kaum Zeit für ihn hatten.
Interview Mathias Morgenthaler*

Herr Hüther, Sie haben ein Buch übers Schenken geschrieben. Was soll man Kindern schenken, die schon alles haben?
Hilfreich ist, sich selber zu fragen, welche Geschenke aus der frühen Kindheit einem noch in Erinnerung sind. Die meisten können sich nicht an ein materielles Geschenk erinnern, sondern an das Spielen mit ihrem Grossvater unter dem Weihnachtsbaum oder an den Ausflug zum See, wo man gemeinsam eine Hütte gebaut hat. Solche Erinnerungen sind auch nach 50 Jahren noch präsent   – offenbar sind das die wertvollsten Geschenke. Ich halte es für problematisch, wie sehr wir heute den Fokus auf materielle Dinge legen und diese in der Weihnachtszeit durch die feierliche Verpackung auch noch emotional aufladen. Dadurch fördern wir den Irrglauben, dass Dinge, die man sich kaufen kann, glücklich machen.

Sie raten also zum Konsumverzicht?

Die massiven Probleme, die wir uns selber eingebrockt haben, die Klimaerwärmung, das Artensterben und die Vermüllung der Erde, lassen sich jedenfalls nicht abwenden, indem wir durch brave Arbeit unsere Kaufkraft steigern und mehr konsumieren. Wenn wir uns nicht weiter der Grundlagen unserer Existenz berauben wollen, müssen wir damit aufhören, unsere Kinder schon in jungen Jahren zu bedürftigen Konsumenten zu machen. Die Alternative kostet weniger Geld, nur etwas Überwindung: Statt unsere Sehnsüchte, unser ungelebtes Leben auf unsere Kinder zu projizieren und sie dafür zu belohnen, dass sie unsere Erwartungen erfüllen, sollten wir in einen besseren Kontakt mit uns selber kommen und berührbarer werden   – das ist das Heilsamste, was es gibt.

Welches war das grösste Geschenk in Ihrem Leben?
Ich hatte das grosse Glück, dass meine Eltern kaum Zeit hatten, sich um mich zu kümmern. Und dass die Nachmittage schulfrei waren. Das eigentliche Leben fand nach Schulschluss statt. Ich zog jeden Mittag los als Entdecker, lernte viel über meine Umgebung und darüber, wie ich mich in Gemeinschaften zurechtfinden und Verantwortung übernehmen kann. Ich musste es niemandem recht machen   – die Eltern hatten in der Nachkriegszeit-DDR andere Sorgen   – und war trotzdem geborgen in einer altersgemischten Gemeinschaft mit meinem Grossvater als wichtigster Bezugsperson. So entwickelte ich das innere Gefühl, dass mir nichts passieren kann, dass ich den Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, gewachsen bin. Heute nennt man das Resilienz. Man muss keine Kurse besuchen, um die zu erwerben, es reicht, dass man früh die Gelegenheit bekommt, selber mit Problemen fertig zu werden.

War das die Grundlage für Ihre späteren Erfolge als Wissenschaftler und Buchautor?
Vielleicht ist mein grösster Erfolg, dass ich es nie darauf angelegt habe, erfolgreich zu sein. Eigentlich ist mir ja gar nichts richtig gelungen in meinem Leben. Ich habe nicht richtig Karriere gemacht, bin als Neurobiologe nicht Institutsleiter geworden in Göttingen, sondern ein etwas sonderbarer Hirnforscher, der sich in alle möglichen Lebensbereiche einmischt, der etwa die Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Aussage aufschreckt, ADHS sei womöglich keine Erkrankung und Ritalin eine sehr fragwürdige Behandlung.

«Wer etwas für andere tut statt fürs eigene Prestige, verliert die Angst vor negativer Bewertung.»

Woher kommt diese streitbare Seite?
Wer es seinen Eltern nicht recht machen muss, entwickelt ein besseres Gefühl für das Eigene und kann es sich leisten, öfter anzuecken. Ich habe immer relativ früh gemerkt, wenn ich Gefahr lief, mich in etwas zu verrennen und mir selbst untreu zu werden. Der Preis für eine steilere wissenschaftliche Karriere wäre gewesen, möglichst viele Publikationen zu verfassen, die den Gutachtern gefallen hätten, und möglichst viele Drittmittel zu beschaffen. Mir waren Freiräume aber wichtiger als akademische Meriten. Und ich wollte nicht die Details genauer erforschen, sondern die Zusammenhänge verstehen. Wer nur im Labor zerlegt, misst und analysiert, verliert leicht den Blick für das Ganze.

Ihre Bücher über Angst, ADHS, über Hochbegabung, Potenzialentfaltung und Demenz erreichen ein Millionenpublikum. Wie haben Sie es als Forscher geschafft, so viele Menschen anzusprechen?
Als Wissenschaftler hielt ich jahrelang nur Vorträge vor meinen Fachkollegen. Als ich mich entschied, ein populärwissenschaftliches Buch über die Angst zu schreiben, kam ich ein Jahr lang kaum vom Fleck, weil mir die passenden Worte fehlten. Es gelang mir erst, als ich anfing, die künftigen Leser dieses Buchs gedanklich um meinen Schreibtisch herum zu versammeln: einen Pfarrer, eine Ärztin, einen Bauern, eine Kindergärtnerin, einen kritischen Fachkollegen. Als ich mir vor Augen führte, für wen ich schreibe, wie ich als Mentor jüngere Menschen ermutigen kann, ging es plötzlich leicht. Wenn man jemandem ein Geschenk machen will, etwas für andere tut statt fürs eigene Prestige, verliert man die Angst vor negativer Bewertung.

Und offenbar ermüdet man nicht. Sie wollen mit 68 Jahren nichts von Ruhestand wissen, sondern halten Vorträge zu unterschiedlichsten Themen und schreiben mindestens ein neues Buch pro Jahr. Was treibt Sie an?
Ich habe nie davon geträumt, eines Tages nicht mehr zu arbeiten, und ich habe nie für Geld gearbeitet. Schon als junger Mensch habe ich mich in die Vielfalt des Lebendigen verliebt und deshalb Biologie studiert. Diese Liebe ist nicht schwächer geworden. Aber es fällt mir schwer, tatenlos zuzuschauen, wie wir als eine irregeleitete Spezies diese Vielfalt ruinieren. Ich bilde mir nicht ein, diese Entwicklung aufhalten zu können, aber ich bin es mir schuldig, die derzeitige kollektive Verirrung immer wieder anzusprechen und zu fragen, warum wir so wenig aus unserem Potenzial machen, uns instrumentalisieren lassen und uns gegenseitig zu Objekten degradieren; und warum wir uns mit Konsum darüber hinwegzutrösten versuchen, dass wir schon zu Lebzeiten halb tot sind und die natürlichen Ressourcen zugrunde richten, um unsere Einkünfte und Erträge ständig weiter zu erhöhen.

Teil 2 des Interviews folgt in einer Woche an dieser Stelle (bei ALPHA, Kadermarkt des Tagesanzeiger)

Das Buch zum Thema:
Gerald Hüther/André Stern: Was schenken wir unseren Kindern? Randomhouse 2019.

*Mathias Morgenthaler
Hat in den letzten 20 Jahren über 1000 Interviews zum Thema Beruf + Berufung geführt. Er war Wirtschaftsredaktor beim «Bund» und bei «Tages-Anzeiger» und ist heute als Autor, Coach und Referent tätig. Er berät Einzelpersonen und Unternehmen in der Frage, wie Menschen beruflichen Erfolg und persönliche Erfüllung in Einklang bringen. Morgenthaler ist Autor der Bestseller «Aussteigen   – Umsteigen» und «Out of the Box» und Betreiber des Portals www.beruf-berufung.ch .

Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/karriere/wir-sollten-aufhoeren-kinder-zu-konsumenten-zu-machen/story/30717256 


Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling