Skip to main content

Vom Wert des unbeschriebenen Blattes

Von Carl Bossard
10. Juli 2018
Schuljahreswechsel sind Zeiten des Übergangs. Ein Neustart steht bevor. Doch viele Schüler tragen Hypotheken mit sich. Dabei müssten sie neu anfangen können.

Ein leeres Blatt kann grausam sein. Aus früheren Aufsatzstunden, als man noch mit der Hand formulierte, wissen das manche. Wer hat beim Schreiben nicht schon geseufzt, wer nagte nicht schon am Bleistift? Ein weisses Blatt, ein leerer Kopf, der lähmende Horror Vacui; die Zeit drängt   – und aus dem Hirn kommt kaum ein vernünftiger Gedanke. Auch das kennen viele.

Neustart mit Hypotheken

Ein unbeschriebenes Blatt hat auch Vorteile. Man kann von vorne beginnen   – und ganz neu starten. Frisch und unbelastet einsteigen, das sollten auch Schülerinnen und Schüler zu Beginn eines neuen Schuljahres. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Immer, eigentlich in jedem Augenblick. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es vermutlich beim Start in ein neues Schuljahr.

Dieser Start in einen neuen Abschnitt müsste unbeschwert und „schuldenfrei“ erfolgen. Doch das wird immer schwieriger. Peinlich genau muss bei Schuljahresende die Übergabe von einer Lehrperson zu andern erfolgen. Mit allen protokollierten Kompetenzrastern, mit allen verordneten Therapien, mit allen erfolgten Sondermassnahmen. Und mehr als die Hälfte der Kinder besuchen im Laufe ihrer Schulzeit eine Spezialbehandlung; sie durchlaufen eine oder mehrere Abklärungen und Therapien. Fein säuberlich aufgelistet.

Als unbeschriebenes Blatt beginnen können

Wie ist es da möglich, als unbeschriebenes Blatt ins neue Jahr zu starten? Alles ist heute notiert und rubriziert, protokolliert und dokumentiert. Die Gefahr: Das Festgehaltene wird zu einem „Sündenregister“. Doch Kinder und Jugendliche brauchen einen positiven Erwartungshorizont. Sie müssen wissen, dass die Lehrerin ihnen etwas zutraut. Vorurteilslos.

Diese Erwartungshaltung ist ganz wichtig. Sie gehört zu einer guten und förderlichen Lehrer-Schüler-Beziehung. Das zeigen viele wissenschaftliche Studien; das zeigen literarische Szenen. Berühmt ist das Beispiel von Professor Higgins im Musical „My Fair Lady“, verfilmt mit Audrey Hepburn und Rex Harrison. Mit Higgins’ Hilfe eroberte das Blumenmädchen Eliza Doolittle eine neue Welt. Er glaubte an Eliza und traute ihr das blütenreine Oberklassen-Englisch zu. Das Blumenmädchen schaffte es und bestand beim Ball des Botschafters als angebliche Herzogin.

Vom Wert der klassischen Pygmalionthese

In der Pädagogik spricht man, aus der griechischen Mythologie abgeleitet, vom Pygmalion-Effekt. Robert Rosenthal und Leonore F. Jacobson führten 1968 mit ihrer Studie „Pygmalion im Unterricht“ zu den Erwartungseffekten diesen Begriff ein. (1) Seine Bedeutung für das Bildungssystem blieb im Kern bis heute unwiderlegt. Pygmalion hielt sich nicht im antiken Griechenland versteckt; viele Studien bestätigen die pädagogische Tragweite. (2)

Der Pygmalion-Effekt ist einer der bestuntersuchten Wirkfaktoren. Auch John Hatties umfangreiche Studie ordnet der Lehrererwartung einen positiven Wert zu. (3) Winfried Kronig, Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Freiburg i. Üe., konnte nachweisen, dass die Erwartungshaltung der Lehrperson aus der zweiten Klasse die Leistung in der 6. Klasse immer noch beeinflusst   – dies über eine Zeitachse von vier Schuljahren.

Vertrauen ist eine Vorleistung

Zur guten Schule gehört eben ein menschliches Gegenüber, das unentwegt an den Schüler glaubt und ihm vertraut. „Pygmalion“, so nannte George Bernard Shaw seine Komödie; sie diente dem Musical als Vorlage. Higgins hatte Vertrauen in Eliza und traute ihr ein perfektes Englisch zu. Vorurteilslos.

Vertrauen ist nur von Person zu Person zu haben. Es spielt nur zwischen Mensch und Mensch. Das A und O der Schule liegt darum im persönlichen Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerin. Für Technokraten ein Anachronismus, für Bildungsfunktionäre ein Graus. Doch das Verhältnis Lehrerin  –Schüler ist ein menschliches, kein wissenschaftliches, kein quantifizierbares. Es ist auch keine Kompetenz. Manchmal bedeutet ein Händedruck mehr als viele Worte. Vielleicht liegt Vertrauen einfach im Zuruf: „Das kannst du!“ „Du wirst deinen Weg machen.“ „Du schaffst es!“ Das ist eine Art unerklärtes Vorschuss-Vertrauen, etwas, das aufrichtet und vielleicht nicht durch eine momentane Leistung gedeckt ist   – aber für das betreffende Schulkind entscheidend sein kann.

Fortschritte betonen

Damit das besser gelingt, sollten Schülerinnen und Schüler als unbeschriebene Blätter starten können, frei vom Einblick in Vorleistungen und damit frei von Vor-Urteilen. Der Phonetik-Professor Higgins war ein solcher Lehrer. Er nahm Eliza als unbeschriebenes Blatt und glaubte an sie.

(1) Robert Rosenthal & Leonore Jacobson: Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler (übersetzt von Ingeborg Brinkmann [u. a.]). Weinheim/Berlin/Basel: Beltz Verlag, 1983.
(2) Vgl. René Donzé: Lehrer haben Vorurteile gegen Migrantenkinder. In: NZZaS, 08.07.18, S. 11.
(3) John Hattie: Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning for Teachers“, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2014, S. 149ff.

Carl Bossard
Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter http://www.carlbossard.ch/  

Quelle: https://www.journal21.ch/vom-wert-des-unbeschriebenen-blattes

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

Weitere Beiträge in dieser Kategorie