Vorbemerkung der Redaktion: Heute und in den kommenden Tagen wird mit großem Pomp und Gloria des «Débarquement» in der Normandie (englisch: „D-Day“), der amphibischen und luftgestützten Militäroperation der Allierten im II. Weltkrieg, gedacht, mit der vor 80 Jahren, am 6. Juni 1944, die Befreiung Westeuropas   – WESTEUROPAS!   – von der Naziherrschaft begann.   – Unser Autor hat, bei aller Liebe zum Geschichtsbewusstsein, zunehmend Bauchschmerzen mit bestimmten Formen des staatlich organisierten Gedenkritualismus. Wir drucken daher hier nochmals unverändert einen Essay von ihm ab, den er vor fünfeinhalb Jahren, Mitte November 2018, anlässlich ähnlicher Veranstaltungen zum hundertsten Jahrestag des Endes des I. Weltkrieges publizierte. Es liest sich heute auf dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse mit ganz anderen Augen …

Dass man die Lehren aus der Geschichte zu ziehen habe, verkündet heute jeder Plattkopf. Aber schon bei der Frage, welche Lehren es denn seien, beginnt der Streit. Im Schatten der Vergangenheitsbewältigung können die Konflikte der Zukunft vorbereitet werden.

Gedenkfeiern sind en vogue. Niemals gab es so viele, meist unter Anwesenheit höchster internationaler Politprominenz zelebrierte Gedenktage wie in den letzten vier Jahren. 6. Juni 2014: 70. Jahrestag des D-Day (Landung der alliierten Truppen in der Normandie); 1. September 2014: 65. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen und Beginn des II. Weltkriegs; 28. Januar 2015: 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz; 8./9. Mai 2015: 70. Jahrestag des Ende des II. Weltkriegs und 11. November 2018: 100. Jahrestag des Endes des I. Weltkriegs. Die Treffen der Feinde von gestern und die Versöhnungen über den Gräbern waren Legion.

Jedesmal dieselben Gesten, jedesmal dieselben aus der Vergangenheit beschworenen Lehren, jedesmal dieselben guten Vorsätze für die Zukunft. Und fast jedes Mal dieselbe Besetzung. Merkwürdig nur, dass genau in dieser Zeit sich der Abrutsch in den neuen Kalten Krieg rasant beschleunigte!

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert

Die Gedenktage beendeten weder den Krieg in der Ostukraine noch den in Syrien, in denen direkt oder indirekt sowohl der Westen als auch Russland kräftig mitmischen. In die Hochzeit der Gedenktage fielen die Aufrüstung Polens und des Baltikums, die umfangreichsten Militärmanöver Russlands und der NATO seit Ende des Kalten Krieges, zahlreiche Critical Incidents zwischen NATO und Russland über der Baltischen See und anderswo sowie der Aufschwung ultrarechter Parteien in der Europäischen Union. Genau drei Wochen vor den Feierlichkeiten zum Ende des Ersten Weltkriegs verkündete Trump schließlich den Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag. 

Bei aller Liebe zur Vergangenheitsbewältigung   – wenn in deren Schatten die Konflikte von morgen vorbereitet werden, dann wird es kritisch!

Es beginnt bereits mit den berühmten Lehren, die aus der Vergangenheit zu ziehen seien. Der Allgemeinplatz, dass, wer aus der Geschichte nicht lerne, sie zu wiederholen verdammt sei, wird einem mittlerweile an jeder Straßenecke wahlweise oberlehrerhaft, salbungsvoll oder in raunend-drohendem Unterton um die Ohren geknallt. Aber schon bei der Frage, was denn nun aus der Geschichte zu lernen sei, fängt der Streit an. 

So verkündete beispielsweise Ex-Bundespräsident Gauck am 1. September 2014 auf der Danziger Westerplatte, die Geschichte lehre, „dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern.“ Das war eine kaum verklausulierte Warnung vor einer Appeasementpolitik gegenüber Russland angesichts der vom Westen so apostrophierten Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine. Die unausgesprochene Prämisse: Putin ist so unersättlich wie Hitler. Geben wir ihm heute nach, reißt er sich morgen Polen und das Baltikum unter den Nagel! Weil damals jenes versäumt wurde, so die angebliche Lehre der Geschichte, ist heute dieses unbedingt geboten. Ob die Analogien, die da so flott bemüht werden, überhaupt zutreffen, dieser Mühe unterzieht sich der Geschichtsbewältiger in den seltensten Fällen. Hauptsache, die Veranstaltung geht feierlich über die Bühne wie ein säkularisierter Gottesdienst. 

Wie Vergangenheitsbewältigung zur Zukunftsverdrängung mutiert

Wenn also die an sich wichtigen Gedenkzeremonien ein Unbehagen in mir hinterlassen, dann weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass zumindest einige Feinde von gestern, die sich bezogen auf den gestrigen und vorgestrigen Krieg nun zum x-ten Male versöhnen, durchaus wieder die Feinde von morgen sein könnten und dass sie wenig dafür tun, diese fatale Entwicklung zu unterbinden. 

Nehmen wir den vorgestrigen Gedenktag zum Ende des I. Weltkriegs in Paris. Wer war da nicht alles unter den mehr als 70 anwesenden Staats- und Regierungschefs: Trump, Putin, Merkel, Macron, Erdogan, Netanjahu, Poroschenko … Man stelle sich für einen Moment vor, die Anwesenden hätten spontan beschlossen, die Gedenkveranstaltung zu einer internationalen Sicherheitskonferenz umzufunktionieren. Sie hätten nicht mehr andachtsvoll über den vor hundert Jahren zuende gegangenen Krieg sinniert, sondern über die Beendigung der gegenwärtigen und die Verhinderung künftiger Kriege gesprochen! Die Themen wären ihnen sicher so schnell nicht ausgegangen.

Unrealistisch? Weiß ich selber! Aber man wird ja noch träumen dürfen …

Leider lief es etwas anders. Wenn es stimmen sollte, dass auf Wunsch von Macron ein intensiveres Gespräch zwischen Trump und Putin über die Zukunft des INF-Vertrages unterblieb, dann hat der französische Präsident die Chance auf eine etwas weniger unsichere Zukunft einer beeindruckenden Gedenkfeier, inclusive seiner Selbstinszenierung, geopfert. Daran ändert auch die Meldung von Trumps Pressesprecherin nichts, der amerikanische Präsident habe während des zweistündigen Mittagessens mit Putin, Merkel und Macron eine produktive Diskussion über sage und schreibe den INF-Vertrag, das Atomabkommen mit dem Iran, den Handel und die Sanktionen geführt. „Zudem sei die Lage unter anderem in Syrien, Saudi-Arabien, Afghanistan, China und Nordkorea beredet worden.“ In klarer deutscher Prosa bedeutet dies natürlich nichts anderes, als dass das zweistündige Versöhnungsmittagessen exakt nach der Logik des berühmten Sozialarbeiterspruchs verlief: „Schön, dass wir mal drüber geredet haben!“

So mutiert Vergangenheitsbewältigung zur Zukunftsverdrängung. Und Gedenktage zum Valium für Politiker und Volk.

Wenn es überhaupt eine Lehre der Geschichte für die Geschichte der Gedenktage geben kann, dann die: Vergangenheitsbewältigung mag schön und erhebend sein. Die entscheidende Aufgabe von heute lautet: 

Zukunftsbewältigung!

Ende des Textes von Leo Ensel.

Anmerkung der Redaktion: Schon 2019 schrieb der Chefredakteur der meistgelesenen Schweizer Zeitungen (CH-Media-Gruppe), Patrik Müller, der D-Day sei „die Wende“ im Zweiten Weltkrieg gewesen. Siehe dazu den Text unter dem Bild oben und den damaligen Kommentar «Dürfen wir den Medien vertrauen?» von Christian Müller. Die bewusste Verfälschung der Geschichte gehört heute leider zur Politik der NZZ und der CH-Media-Zeitungen. (cm)