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Liebesbrief an einen Lehrer: "Steh auf!, sagten Sie"

Ulla Hahn schreibt an ihren Volksschullehrer
16. April 2016
Lieber Herr Lehrer, sehr geehrter Herr Schulten, dass ich überhaupt hier sitze und diese Zeilen schreibe: Ohne Sie wäre ich nie so weit gekommen.

Erinnern Sie sich noch an das kleine Mädchen mit den langen dunklen Zöpfen?

Das sich empörte, weil Sie beim Beruf des Vaters "ungelernter Arbeiter" ins Klassenbuch eintrugen. Ungelernt? Der Vater konnte doch so vieles: Bäume propfen, Kartoffeln ziehen, Schuhe besohlen... Aber konnte er auch lesen und schreiben?

Wissen Sie noch, wie ich mich am ersten Schultag gleich freiwillig in die erste Bank setzte, direkt vor Ihr Pult? Ich hatte den Tag kaum erwarten können. Endlich lesen lernen! Wirklich lesen. Aus Büchern. Nicht nur so wie der Großvater aus Steinen am Rhein. Den Buchsteinen. Aus den Steinen lesen konnte ich längst. Ich hatte immer einen Buchstein bei mir. Auch an unserem ersten Schultag. Aus dem ich Ihnen und der Klasse vorlas.

Dass Sie damals bei meiner Geschichte vom Pückelschen keine Miene verzogen, im Gegenteil, immer wieder nickten und mich für mein schönes Vorlesen sogar noch lobten: Das erstürmte mein Kinderherz wie Liebe auf den ersten Blick. Liebe als ein grenzenloses Vertrauen in Ihr Wissen, Ihr Urteil, Ihre Güte. Ich spürte: Sie würden gut zu mir sein. Gut für mich sein. Ich fühlte mich bei Ihnen geborgen. Geliebt im Sinne von Dostojewski: Einen Menschen lieben heißt, ihn zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.

Wie mich das anspornte! Zu wissen, zu lernen gefiel mir. Und, genauso wichtig: Ich wollte Ihnen gefallen. Ich lernte für zwei. Und so wurde ich, was man gemeinhin ein "braves Mädchen" nennt. Nur gut, dass Sie mich nie zu Hause erlebt haben. Da war ich dä Düwelsbroode, der Teufelsbraten.

Und dann sprachen Sie am Ende unseres vierten gemeinsamen Jahres die magischen Worte. Alle, die auf weiterführende Schulen gehen wollten, sollten aufstehen. Ich blieb sitzen. Ihre Augen schauten in meine und durch mich hindurch. In mein Herz. So ähnlich, aber das erlebte ich natürlich erst viel später, schauen sich Liebende an, bevor sie ihr Gefühl in Worte fassen.

Steh auf!, sagten Sie. Steh auf! Bis heute wohl die zwei wichtigsten Wörter in meinem Leben. Für alles, was darauf folgte, für alle wunderbaren Worte und Ereignisse waren Sie der Schlüssel. Schlüssel-Worte zu meinem jetzigen Leben, hier in der Geborgenheit meines Schreibtischs mit dem geliebten Menschen unter einem Dach.

Nie verlasse ich Monheim am Rhein, ohne Ihnen ein Steinchen aufs Grab zu legen. Das nächste Mal wird es ein weißer Kiesel sein mit vielen roten Linien, mit diesem Liebesbrief.

Ulla Hahn lebt in Hamburg und ist eine der wichtigsten deutschen Lyrikerinnen.

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Quelle: 30. November 2015 DIE ZEIT Nr. 45/2015, 5. November 2015