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Lesen  – ein Königsweg zur Gemütsbildung

von Peter Küpfer
30. November 2014
Kürzlich war ich auf Einladung eines eindrücklichen privaten Sozialwerks in Erlangen. Die dortige Institution arbeitet seit dreissig Jahren mit in ihrem Alltag beeinträchtigten Menschen. In dezentral aufgebauten Wohngemeinschaften unterstützen sie sich gegenseitig, im Leben besser Fuss zu fassen. Dabei wird darauf geachtet, dass jeder seinen Beitrag ans gemeinsame Wohnen, Arbeiten und Sich-dabei-Weiterentwickeln leistet, auch wenn dieser  – je nach Lebenslage  – zeitweilig bescheiden ausfallen kann.

Beim Umgang der Betreuer mit den sie umgebenden Menschen fielen der herzliche Ton und der gegenseitige Respekt auf. Beides war durchaus gegenseitig und echt. Es ist denn auch eines der Prinzipien der Institution, sich im gegenseitigen Miteinander «auf Augenhöhe» zu begegnen, und mit Respekt vor der Würde, die jedem Menschen auf dieser unserer Welt zukommt, weil er Mensch ist.

Literatur schult das Einfühlungsvermögen

Im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten leitete ich ein Atelier zu Grundfragen der Literatur. Nicht nur Betreuer, auch Betreute zeigten grosses Interesse. Schon gleich zu Beginn wurde lebhaft mitgedacht, mitdiskutiert, miterörtert   – nicht im akademischen Sinne, aber mit dem Hintergrund der «Schule des Lebens». Es ging unter anderem darum, was uns das Lesen bringt, insbesondere das Lesen von literarischen Texten, also Romanen, Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken und Ähnlichem. Ich vertrat dort ein Anliegen, das sich mir sowohl biographisch als auch aus meiner lebenslangen Beschäftigung mit Sprache und Literatur   – als Lehrer, Publizist, Vortragender und Übersetzer   – eingeprägt hat: Es sind vor allem die Werke der klassischen Literatur, die in hohem Masse das leisten, was sonst keine anderen «Medien», wie man heute sagt, zu leisten vermögen: das individuelle Einfühlungsvermögen zu schulen und auszubilden.

Warum Literatur?

Es gibt viele Antworten, die erklären, warum gerade das Lesen von (klassischer) Literatur ein Königsweg zur Schulung des Einfühlungsvermögens ist. Am schnellsten vergegenwärtigen wir uns die Hauptleistung von Literatur, wenn wir auf das schöne deutsche Wort «Dichtung» zurückgreifen. In der deutschsprachigen Kultur versteht man unter Literatur mehrheitlich Dichtung. Warum nennen wir sprachliche Kunstwerke gerade Dichtung? Im Zentrum steht dabei der Wortstamm «dicht». Inwieweit handelt es sich bei der Literatur um etwas Dichtes? Eine Teilnehmerin des Ateliers gab die Antwort so präzis, als formulierte sie fürs Lexikon: «Dichtung ist deshalb dicht, weil sie das Leben verdichtet, das Dargestellte auf das Wesentliche hin bündelt.» Kürzer und besser habe ich das noch nie gehört.

Warum können wir uns, viele hundert Jahre später, noch für die Schicksale zweier verzweifelt liebender Menschen interessieren, die im Verona der Renaissance zwei verfeindeten einflussreichen Familien angehörten? Warum rührt uns heute noch das trotzige Rechten eines frommen Ritters mit seinem Gott, von dem er sich schlecht behandelt fühlt? Was geht uns die Einsamkeit einer jungen deutschen Frau Ende des 19. Jahrhunderts an, die an einen viel älteren und leider auch etwas gefühlsarmen Ehemann verheiratet wurde? Weil sich im Schicksal Romeos und Julias jeder junge Mensch, zumindest teilweise, wiederfindet, wenn seine Liebe auf familiäre Widerstände stösst. Weil es zum Reiferwerden jedes Menschen gehört, nicht nur des Ritters Parzival, dass er auch harte Schicksalsschläge annehmen und in ihnen Sinn und Bewährung finden kann. Weil wir mit der jungen Effie Briest mitleben und mit ihr schockiert sind, als das junge Mädchen, beinahe noch Kind, von ihrer Schaukel im Park weggerufen wird in den Salon, wo Baron Innstetten steht, ein ihr bisher unbekannter Herr, der vom Alter her ihr Vater sein könnte, und ihr die Frau Mama eröffnet, es handle sich um ihren Gemahl.

Identifizierung mit dem anderen Ich

In der Literatur begegnet uns eine überblickbare Anzahl von Personen, die wir, durch die Geschehnisse verbunden, näher kennenlernen. Dies gilt besonders für die Hauptpersonen. In klassischen Romanen zum Beispiel können wir nicht nur bedeutungsvolle Abschnitte ihres Lebens mitverfolgen   – wir lernen die Personen auch in ihren Gedanken, ihren geheimsten Wünschen, ihren Hoffnungen und ihren Verzweiflungen kennen. Die Stuttgarter Germanistin und Philosophin Käte Hamburger hat in ihrem Hauptwerk «Die Logik der Dichtung» schon in den 50er Jahren darauf hingewiesen, dass gerade die Erzählung deshalb so nachhaltig Identifikation schafft, weil wir in ihr, zumindest in ihrer klassischen Form, die Hauptfigur auch von innen kennenlernen. Das schaffen in der Erzählung vor allem die Verben der inneren Vorgänge, also «denken, träumen, sich ausmalen, sich ärgern, sich empören, empfinden, verstehen» usw. Und zwar teilt uns der Erzähler nicht nur mit, dass und was die Hauptperson empfindet. Nein, er schildert diese Empfindungen selbst in ihrem zeitlichen Ablauf, oft seitenweise, so dass wir, was es im Leben so nicht gibt, unmittelbar miterleben, wie es im Innern der geschilderten Figur aussieht.

Im wirklichen Leben können wir darüber Vermutungen anstellen, besonders dann, wenn ein menschliches Gegenüber sich uns in seinen Gefühlen und Empfindungen öffnet, was meistens bei Familienmitgliedern, guten Freunden oder Bekannten der Fall ist. Aber dass wir von einem unbekannten Menschen erfahren, was in seinem Inneren vorgeht, eins zu eins, indem wir seinen Empfindungen und Gedanken fortlaufend folgen können, und zwar im «Originalton»   – das schafft in der Logik der Kommunikationsformen nur die Erzählung, der Roman. Schon im Theaterstück ist diese «Tuchfühlung» mit dem anderen Menschen distanzierter. So nimmt denn auch das klassische Theater gerne Zuflucht zum Monolog. Ohne ihn würden wir nicht «authentisch» erfahren, wie es in Egmont aussieht, der auf den Vollzug seiner Todesstrafe wartet, ohne den Monolog wüssten wir nicht, wie Hamlet sich am Grabe seines Vaters fühlt. Dadurch, dass wir durch Literatur am Leben eines Menschen teilnehmen, fangen wir an, die Welt mit seinen Augen zu sehen, ob wir das nun wollen oder nicht. Literatur «funktioniert» so.

Die Sinnfrage …

Dichtung, so wurde einleitend festgehalten, verdichtet das Leben. Dichtung filtert den Alltag, erfragt und durchforstet ihn, bis wir auf die Substanz, auf die Essenz kommen. Oft stellt sich diese Essenz erst am Schluss, mit den letzten Seiten eines Romans ein. Oft müssen wir seinen Anfang noch einmal, im Lichte des Ganzen, Revue passieren lassen, um ihn «ganz» zu verstehen. Oft bleibt uns eine Erzählung, ein Gedicht aber auch verschlossen. Trotz grossen Bemühens «spricht» es uns nicht an, es spricht nicht zu uns. Wenn wir das Buch aber nur mit Mühe weglegen können, wenn es uns nicht loslässt, dann können wir sicher sein, dass es etwas birgt, was uns angeht. Es erschliesst sich sein Sinn, der durchaus, Literatur ist ja sehr komplex, von verschiedenen Leserinnen und Lesern in unterschiedlicher Weise gefasst werden kann.

Mir ist es als Lehrer immer wieder passiert, dass ich bei einem Text, den ich mit einer Klasse zum vierten oder auch fünften Mal als Klassenlektüre behandelte, auf etwas stiess, was mir vorher nicht aufgefallen war. Auch habe ich bei meinen Schülerinnen und Schülern oft erlebt, dass sie sehr präzise Textbeobachtungen zum Thema machten, die mir bisher entgangen waren. Diese Reichhaltigkeit von Literatur gehört sicher auch zum Wert eines literarischen Textes. Sie heisst nicht, dass man beliebig in den Text «hineininterpretieren» darf, was einem gerade so in den Sinn kommt. Richtschnur in meinem Unterricht (mit Gymnasiasten) war immer der Rekurs auf den Text selbst: Lässt der Text diese und jene Interpretation (im gesamten Kontext) zu, dann ist sie «richtig». Widerspricht sie dem Wortlaut des Textes selbst, so ist sie nicht adäquat.

Weil dies so ist, stellt sich beim Lesen literarischer Texte in ihrer Gesamtheit ganz zentral die Sinnfrage. Was macht es für einen Sinn, wenn beispielsweise in Büchners gleichnamigem Theatertorso Woyzeck mit stieren Augen die Landschaft mustert und seinen Freund darauf aufmerksam macht, «es» gehe hier um, der Boden, auf dem sie stünden, sei hohl und könne demnächst einbrechen. Das seien die Freimaurer, flüstert er wenig später. Erst wenn wir alle Szenen von Büchner gelesen haben, kann sich ein Gesamtverständnis einstellen, das auch diese Szene mitberücksichtigt. Büchner nimmt hier visionär (das Stück stammt aus den 1830er Jahren) vorweg, wie ein Mensch durch Isolation und Missachtung mehr und mehr in einen Zustand gerät, den heutige Psychiater wohl als Paranoia bezeichnen würden. Mit Fortlauf der Szenen verstehen wir auch, warum. Woyzeck wurde von Jugend an als «Idiot» verlacht, er muss zusehen, wie seine Geliebte einem strammen Soldaten schöne Augen macht, während er erkennt, dass seine bescheidenen Einkünfte nie ausreichen würden, Marie und das Kind, mit dem sie schwanger geht, zu ernähren.

… ist auch eine Wertefrage

Wir können Dichtung nur richtig lesen, wenn wir ihr einen Sinn geben, und zwar den, der in ihr selbst enthalten ist. Wir erfahren in der Literatur nicht das Leben selbst, sondern das durch Wort geschaffene Bild des Lebens. Anders als der Alltag erscheint uns das Leben in seiner Substanz, seiner Essenz   – es ist das durch den Schriftsteller gesehene Leben, vermittelt durch die Personen, die seine Dichtungen bevölkern. Wir, als Leser, können durch unser Einfühlungsvermögen daran teilhaben, es miterleben. Es ist so, wie der Individualpsychologe Alfred Adler es vom Menschen sagt, dessen Gemeinschaftsgefühl ohne Verfälschungen oder «Gefühlsirrtümer» zum Tragen kommt. Der Mensch ist, infolge eben seines Einfühlungsvermögens, in der Lage, «mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören und mit dem Herzen eines anderen zu empfinden». Das ist im wirklichen Leben so zentral wie in der Literatur.

Wir würden auch bei einem Alltagsgespräch den anderen Menschen, der zu uns spricht, nicht verstehen, wenn wir uns nicht wenigstens punktuell in ihn hineinversetzen, eben so weit es nötig ist, um zu verstehen, was der Sinn seiner «Äusserung» ist. Die englische Sprachwissenschaft und «Philosophie des Alltags» haben darauf hingewiesen, dass schon eine Alltagsäusserung wie etwa «Hier drin zieht’s» ganz Verschiedenes bedeuten kann. Es kann eine Feststellung sein, eine Aufforderung, das Fenster oder die Türe zu schliessen, oder die Manifestation eines Ärgers oder Unwohlseins. Wir verstehen, was gemeint ist, indem wir die Situation teilen, in der eine solche Äusserung fällt. Die Literatur hingegen muss, durch Beschreibung oder vorangegangene Schilderungen, die Situation erst schaffen, in der wir dann verstehen, was die Personen sagen oder tun. Je mehr Übung wir haben, solche Situationen zu verstehen, desto grösser ist unser Verständnis, im wirklichen Leben wie beim Lesen von Literatur.

Die Bedeutung des Einfühlungsvermögens wurde nicht nur von Alfred Adler erkannt. Auch die amerikanische Neopsychoanalyse und die Studien von John Bowlby und dem Schweizer Verhaltensforscher Adolf Portmann haben seine Erkenntnis bestätigt. Das Einfühlungsvermögen ist die Schlüsselfähigkeit, mittels derer Menschen einander verstehen. Sensible Menschen verfügen in der Regel über ein sehr ausgebildetes Einfühlungsvermögen. Aber auch «nüchterneren» steht es als spezifisch menschliche, durch die Sprache vermittelte, Fähigkeit zur Verfügung. Ohne es wäre die Welt ein einziger Irrgarten, in dem Sprachsplitter herumliegen, deren ursprüngliche Form uns entgeht.

Für den Sinn von Literatur ist es natürlich ganz zentral, welche Werte uns der Schriftsteller in seinem Bild des Lebens, das er entwirft, mitgibt. Das kann ganz offensichtlich sein, dann malt der Autor, wie wir bildlich sagen, schwarzweiss. Es kann aber auch versteckt sein, so dass der Autor dem Leser einen gewissen Spielraum lässt, die Wertungen, welche seine «Geschichte» enthält, selbst zu ergründen. So ist zum Beispiel gerade Theodor Fontane ein Beispiel für diese schwebende Sinngebung. Auch wenn Effie unter der Persönlichkeit ihres Gatten leidet, so ist ihm eine gewisse menschliche Grösse, aus der Achtung resultiert, nicht abzusprechen. Es ist eben oft nicht so, dass der Autor sich in einer Figur ein eigenes Denkmal setzt. Im Gegenteil, es gehört zu seiner Kunst, dass sein Einfühlungsvermögen auch Menschen schildern kann, die ihm nur teilweise oder überhaupt nicht entsprechen. Durch diese Nuancen wird das Bild des Lebens, das die Literatur entwirft, nur echter, auch wenn der Sinn des Kunstwerkes dadurch komplexer, «schwieriger» wird.

Kunst verlangt Verantwortungsbewusstsein

Damit sind wir bei der besonderen Verantwortung angelangt, welche Künstlern obliegt. Sie gilt in besonderem Masse jenen Kunstproduzenten, um das moderne Allerweltswort zu verwenden, welche mittels Bildern oder Sprache Identifikation und Mitgefühl erzeugen, also vor allem für die Schriftsteller und Filmregisseure, aber auch Maler und Fotographen. Es brauchte die werte-negierende und egozentristische Philosophie eines Jean-Paul Sartre, bis Literatur und Film sich erlaubten, auch hier gehorsame Nachfolger von Nietzsche, gemeine Kriminelle und Mörder zu Figuren zu machen, in die sich der Leser einfühlen soll. Der angesehene französische Soziologe Michel Foucault ist ihm begeistert auf diesem selbstzerstörerischen Weg gefolgt, die sogenannte «Frankfurter Schule» um Adorno ebenso.

Der moderne Kulturbetrieb, der überall nur noch auf schnellen Erfolg und Sensation aus ist, hat sich diese Werteverneinung längst zur eigenen Sache gemacht, wie es scheint einer recht einträglichen. In vielen Filmen, angefangen bei den Sado-Western aus den 60er Jahren vom Typ «Für eine Handvoll Dollar» (Sergio Leone) über oft brutalisierende Texte von Rap- und Hardrock-Musikgruppen bis hin zu den bei Jugendlichen so verbreiteten «Killer-Spielen» (Computerspiele), welche unsere oft nichtsahnende Jugend überschwemmen, triumphieren heute in der sogenannten westlichen Kultur Sadismus, Zynismus und Verachtung unserer angeblich überkommenen gesellschaftlichen Werte. Manchmal kommt es einem vor, unsere sogenannte «Kultur» folge der Devise des Römischen Weltreiches, kurz bevor es unterging. Auch dort beschwichtigte man das unruhig werdende Volk gemäss dem Prinzip «Brot und Spiele». Heute können sich in vielen Weltgegenden die Menschen zwar das Brot nicht mehr leisten, weil wir im Westen ihnen wirtschaftliche Gesetze vorschreiben, die sie verhungern lassen. Handys (und damit Internet und Spiele) sind aber dort doch sehr verbreitet.

Sich auf die klassischen Ideale zurückbesinnen

Friedrich Schiller war zeit seines Lebens ein Revolutionär, aber ein echter, dem es um nichts weniger ging als um eine menschenwürdig eingerichtete Welt. Schon als Jüngling lernte er die Unmenschlichkeit des europäischen Absolutismus in den Jahren vor der Französischen Revolution kennen. Seine Jugendstücke sind eine einzige Anklage gegen den deutschen Kleinstaatdespotismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Für sein mutiges Eintreten für Menschenwürde, Freiheit und Brüderlichkeit unter den Menschen wurde er von der Verfassunggebenden Versammlung des revolutionären Frankreichs zum französischen Ehrenbürger ernannt.

Mit seinem letzten Stück, dem Wilhelm Tell, das der bereits schwerkranke Schiller seiner Gesundheit abtrotzte, stellte er nicht nur den Befreiungskampf der Urschweizer gegen Willkür, Vormundschaft und Tyrannei dar, er errichtete damit auch ein literarisches Denkmal für den Freiheitswillen aller Völker. Schiller war nicht nur ein ernsthafter Historiker, der alle seine Stücke auf intensives Quellenstudium abstützte, sondern auch ein genialer Literaturtheoretiker. Insbesondere zur Funktion des Theaters in seiner Zeit hat Schiller Wegweisendes erkannt. Selbst schockiert über die Tatsache, dass das Resultat der Losung «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» im Schreckensregime Robespierres und im Königsmord und der Abschlachtung fast des ganzen französischen Adels ausmündete, sah er in der Literatur den einzigen Ausweg, das Menschengeschlecht seiner wahren Bestimmung anzunähern.

Nicht nur der Einzelne, die Menschheit selbst bedarf der Erziehung

Es braucht eben länger, so schrieb er in einer seiner bahnbrechenden dramentheoretischen Schriften («Über die ästhetische Erziehung des Menschen», 1795). Der Mensch kann nicht unmittelbar vom erkannten und anerkannten Ideal (zum Beispiel den Losungen der Französischen Revolution) zur entsprechenden Einrichtung seines Lebens und seiner Institutionen (Staat) gelangen. Der Schritt ist zu gross. Gibt es etwas, was ihm dabei behilflich sein kann, die Welt menschengerechter und menschwürdiger einzurichten? Ja, ist die Antwort des grossen Dramatikers: Es ist das Theater. Dort sieht der Zuschauer, der Bürger und Zeitgenosse, was grosse Menschen in grossen Zeiten bewegte. Wie schon beim antiken Drama wird er Augenzeuge von erschütternden menschlichen Herausforderungen. Er nimmt Anteil am Schicksal bedeutender Menschen, und zwar sieht er sie im Theater als Menschen, nicht als Verkörperung von Idealen.

Er erfährt das Gute, natürlich auch das Schlechte, nicht rein philosophisch-abstrakt, sondern vermittelt durch Schicksalsschläge, durch das Bild des Lebens, das die Aktion des Theaters vor seinen Augen auf der Bühne ausmalt. Durch diesen menschlichen Anschauungsunterricht, der vom Gemüt her organisiert ist, kann der Mensch sich leichter, widerstandsloser veredeln, dass er die Losung der klassischen Literatur, das Goethesche Wort leichter auch für sich anwenden kann: «Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.» Mit dem Abstand von Stil und Sprache entspricht das Goethe-Wort fast deckungsgleich dem Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, mit der sie den (Welt-)Krieg nach der Katastrophe von 1945 ein für allemal aus der Welt bannen wollten:
«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»

Die Klassik gehört nicht ins Museum!

Es wäre an der Zeit, die Wurzeln dieses Denkens genauer zu untersuchen. Dabei hat auch die klassische Literatur, insbesondere die deutschsprachige, ihren grossen Beitrag geleistet. Statt die Ideale der Klassik zu belächeln, sollten die Schulen, besonders die deutschsprachigen, darin wetteifern, die Ideale der Klassik in unsere moderne Welt zu übertragen. Das beginnt bei den weiterführenden Schulen wie zum Beispiel den Gymnasien damit, dass man sie versteht. Sicher ist die Sprache der klassischen Texte heutigen jungen Menschen nicht ohne Anstrengung zugänglich. Aber auch Mathematik versteht man nicht ohne Anstrengung, auch nicht Englisch oder die sogenannten Computerwissenschaften. Auch dort braucht es, wenn man verstehen will, viel Arbeit und Wissen.

Die Frage stellt sich ganz klar, wofür man Stunden und Lehrkräfte einsetzen will: die Ziele des Unterrichts. Die Lehrkräfte sind im Literaturunterricht, der meiner Meinung nach unverzichtbar ist, gefordert, die jungen Leser bei der Aufgabe des Verstehens anzuleiten. Sofern sie entsprechend ausgebildet sind und sie selbst gerne lesen, sind sie dazu auch in der Lage. In einem zweiten Schritt, erst in einem zweiten! (ohne Vernachlässigung des ersten, denn nur durch Lesen des Originaltextes kann Identifikation mit einem menschwürdigen Menschenbild entstehen!) geht es dann darum, die Bedeutung des in den klassischen Texten verankerten, und hoffentlich verewigten, Menschenbildes auch gerade für unsere Zeit, welche die Menschenwürde zu vergessen scheint, wiederzubeleben. Das heisst gerade nicht, die klassische Literatur in ein Museum zu bannen. Im Gegenteil, es geht darum, das grosse Erbe unserer Kultur für die Moderne anzuwenden und zu nutzen. Aus dieser Begegnung werden mutige Menschen unschätzbare Erkenntnisse ziehen. Dass dies wieder mehr gelingt, dazu sind wir alle gefordert, jung und alt!

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

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