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"Die Lehrer fühlen sich als Deppen"

Ökonom Mathias Binswanger rät, die Übung ganz abzublasen. Bloss abspecken reiche nicht. Mitte November präsentiert die Erziehungsdirektorenkonferenz der Deutschschweiz den überarbeiteten Lehrplan 21.
von Kari Kälin
18. Oktober 2014

Binswanger

"Der Lehrplan strotzt vor nichtssagenden Worthülsen"

Mathias Binswanger, in mehreren Kantonen, zuletzt Schwyz, wurden Initiativen gegen die Einführung des Lehrplans 21 lanciert. Überrascht Sie der Widerstand?

Mathias Binswanger: Nein. Es hat mich höchstens erstaunt, dass er sich nicht früher formiert hat. Erst nachdem im Kanton Baselland kritische Stimmen laut wurden, realisierte eine breite Öffentlichkeit, dass die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz mit dem Lehrplan 21  ein zwar gigantisches, aber praxisuntaugliches Werk installieren will.

Aber es macht doch Sinn, schweizweit einheitliche Lernziele zu definieren.

Binswanger: Aber nicht so, wie das im Lehrplan 21 geschieht. Es ist ein Wahnsinn, auf 557 Seiten 4753 Kompetenzen zu formulieren. Es ist ein Wahnsinn, den  Unterricht von oben herab bis in jedes Detail zu steuern und die Lehrer mit detailliert formulierten Kompetenzen zu normieren. Eine Vereinheitlichung hat ihren Preis. Wenn die Lehrer, deren Beruf ohnehin schon an gesellschaftlichem Prestige verloren hat, ihren Unterricht nicht mehr frei gestalten dürfen, dann sinkt ihre Motivation, der Lehrerberuf wird noch unattraktiver. Falsch ist sodann der Weg hin zur sogenannten „Kompetenzorientierung“. Man kann nicht kompetent sein ohne Wissen.

Ist die Aneignung von Kompetenzen nicht wichtiger als das „Herunterrattern“ von Fakten und Daten?

Binswanger: Niemand fordert, man müsse in der Schule einfach Wissen pauken. Aber ohne Grundwissen kann ein Schüler weder kompetent noch urteilsfähig sein. Es hilft, wenn ein Schüler das Einmaleins kann, es hilft, wenn er weiss, wann der Erste und der Zweite Weltkrieg stattgefunden haben. Wenn man sich in einer Fremdsprache verständigen will, muss man Wörter kennen. Schliesslich kann man während eines Gesprächs nicht ständig auf dem iPhone nach Übersetzungen suchen. Lernen  kann nicht immer Spass machen und ist manchmal auch hart. Man muss sich manchmal Dinge aneignen, die einen zunächst nicht interessieren. Es reicht nicht, die Kompetenz zu haben, Fakten im Internet zusammenzugooglen.

Was haben Sie dagegen, dass Schüler „verantwortungsbewusst Konsumentscheide» fällen oder «Verfremdungen religiöser Traditionen“ aufschlüsseln sollen, wie es im Lehrplan 21 heisst?

Binswanger: Das sind nichtssagende Worthülsen, von denen der Lehrplan 21 nur so strotzt. Bevor man grosse Diskussionen über religiöse Traditionen führen kann, muss man zuerst ein wenig die Bibel kennen. Man muss wissen, worüber man urteilt. Ein „verantwortungsvoller Konsumentscheid“ ist für einen Schüler bloss eine Expertenfloskel. Gemäss Lehrplan 21 müssen Schüler zwischen der 3. und 6. Primarklasse Umbrüche in Wirtschaft und Politik in den Zusammenhang zu Veränderungen der Arbeitswelt stellen. Man soll also in diesem Alter etwa die Folgen der Industrialisierung und Globalisierung durchschauen.

Oder die Primarschüler sollen den Gebrauch von Sagen und Mythen in der aktuellen Gegenwart kritisch reflektieren und deren Verwendung im politischen Diskurs erkennen. Solche Kompetenzen sind vollkommen an den Schülern vorbei formuliert. Man soll ergo hochtrabende Debatten in Schulstuben inszenieren, ohne die Fakten zu kennen. Das Resultat ist eine inhaltsleere Geschwätzkultur.

Gemäss empirischen Studien ist für den Lernerfolg die Persönlichkeit des Lehrers matchentscheidend. Was ziehen Sie daraus für eine Schlussfolgerung?

Binswanger: Dass Unterrichtsmethoden gar nicht so wichtig sind, das persönliche Engagement des Lehrers aber umso mehr. Aus diesem Grund brauchen die Lehrer eine gewisse Freiheit, damit sie den Unterricht so gestalten können, dass er auch ihnen Freude bereitet. Unter diesen Voraussetzungen werden die besten Lernerfolge erzielt.

Die Entwicklung des Lehrplans 21 hat Millionen gekostet. Soll man jetzt die ganze Übung stoppen?

Binswanger: Es genügt jedenfalls nicht, den Lehrplan um 20 Prozent abzuspecken, wie es die Erziehungsdirektorenkonferenz nach der Kritik in der Vernehmlassung tun will. Ein Lehrplan soll nicht ein Monumentalwerk sein, das wie ein Kochbuch detaillierte Rezepte für den Unterricht vorschreibt. Ein Lehrplan sollte schlank sein und einige präzis formulierte Grundsätze erhalten. Man hat es verpasst, bei der Entstehung eine breite Lehrerbasis einzubringen. Die Mehrheit wusste nicht, was im stillen Kämmerlein ausgeheckt wird. Ich würde die Übung abblasen. Es macht keinen Sinn, etwas Schlechtes umzusetzen, nur weil es viel gekostet hat.

Was sollte ein Lehrplan enthalten?

Binswanger: Man muss sicherstellen, dass die Mehrheit der Schüler in Mathematik und Sprachen, aber auch in musischen Fächern und beim Werken gewisse Grundfertigkeiten erwirbt. Informatik halte ich übrigens nicht für so wichtig, das lernen die Schüler daheim ohnehin, und häufig können sie es besser als ihre Lehrer. Aber Inhalte wie der Satz des Pythagoras müssen vermittelt werden. Solches Wissen eignen sich die Schüler nicht in selbst- und kompetenzorientiertem Unterricht an.

Hand aufs Herz: In der Praxis wird der neue Lehrplan kaum viel ändern.

Binswanger: Er wird sich zu einem grossen Teil selbst aushebeln, weil er viel zu viele Vorgaben enthält. Aber der Lehrplan atmet einen unseligen Geist. Er ist von Misstrauen geprägt gegenüber den Lehrern und trägt dazu bei, dass sich diese als Deppen fühlen, weil sie angeblich nicht selbst entscheiden können, mit welchem Unterrichtsstil die Lernziele am besten erreicht werden.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling


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