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Buch "Menschen bilden" von Arthur Brühlmeier  – Ein Leuchtturm in der Wüste

26. Februar 2013

Sehr geehrte Seniora-Leserinnen, sehr geehrte Seniora-Leser, zur vertieften Diskussion um den Lehrplan 21 ist das Buch von Dr. Arthur Brühlmeier ein MUSS. Sein Konzept "Lehrerbildung als Persönlichkeitsbildung ist heute wichtiger denn je.

«Die Bildungspolitik täte mit Blick auf die drängenden gesellschaftlichen Probleme gut daran, die Präferenzen gelegentlich zu überprüfen.»

von Erika Vögeli

Drei Jugendliche stehen vor Gericht   – sie haben Menschen einfach so zusammengeschlagen. Alle Anwesenden sind von den ruhigen Schilderungen eines der Opfer ergriffen   – alle, ausser den Tätern. Reue ist nicht spürbar, ein schlechtes Gewissen scheint sie nicht anzufechten. Sie sind   – leider   – keine Einzelfälle.

Die Auswüchse sinnloser und hemmungsloser Gewalt gegen Wehrlose und das erschreckende Ausmass fehlender Gewissensbisse sind aber nur der sichtbarste Ausdruck eines Erziehungsnotstandes, der überall spürbar ist: Kinder, die überzeugt sind, sie seien der Chef zuhause, die in der Schule nicht auf den Lehrer hören, sich über Anweisungen hinwegsetzen oder ganz einfach finden, Erwachsene hätten ihnen überhaupt nichts zu sagen und, auf Probleme angesprochen, oftmals der Meinung sind, nicht sie, sondern der andere, die Lehrerin, der Mitschüler hätten ein Problem   – sie alle stellen uns genauso vor die Frage: Was tun? Wo ansetzen? Was braucht unsere Jugend? So jedenfalls kann es nicht weitergehen. Ganz offensichtlich haben die antipädagogischen Ansätze nicht zu den behaupteten Resultaten geführt.

Beikommen werden wir den Problemen auch nicht dadurch, dass wir unsere Kinder mit allen möglichen Diagnosen wie «auditive Störung», Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) oder Hyperaktivitätssyndrom kategorisieren und ihnen dann entsprechende Medikamente, Therapien oder Förderungen zukommen lassen.

Was es braucht, ist eine Rückbesinnung auf eine Pädagogik, die das Kind als werdenden Menschen, als personales Wesen erfasst, das zu seiner Menschwerdung ganz elementar der Erziehung und Werteorientierung bedarf.

Viele Pädagogen und Erzieher haben hierzu schon wertvolle und unverzichtbare Beiträge geleistet, so zum Beispiel:

  • Bernd Ahrbeck mit seinem Buch «Kinder brauchen Erziehung. Die vergessene pädagogische Verantwortung»1,
  • Otto Speck «Erziehung und Achtung vor dem Anderen. Zur moralischen Dimension der Erziehung»2
  • Michael Felten «Auf die Lehrer kommt es an»3.

Ein Leuchtturm in der Wüste ist das Buch "Menschen bilden"

buch Menschen bilden

von Arthur Brühlmeier

Eine ausgesprochen ermutigende  Handreichung für Lehrer, aber auch Eltern, Erzieher und jeden mit Menschen Befassten ist auch das Buch «Menschen bilden» von Arthur Brühlmeier.

Seine «Impulse zur Gestaltung des Bildungswesens nach den Grundsätzen von Johann Heinrich Pestalozzi» könnten aktueller nicht sein.

Wie ein Leuchtturm in der Wüste greift das Buch in 27 Mosaiksteinen Grundsätzliches zum pädagogischen Wirken auf und setzt der gegenwärtigen pädagogisch-psychologischen Amnesie seine langjährigen Erfahrungen in Unterricht und Lehrerbildung entgegen, die sich zugleich natürlich mit grundsätzlichen erzieherischen, philosophischen und anthropologischen Gedankengängen verbinden   – nicht zuletzt als Frucht seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem grossen Volksbildner Pestalozzi.

Angesichts einer Schulentwicklung, die sich am amerikanischen «Bologna»-Modell orientiert, das letztlich unter dem Diktat der Wirtschaft steht und zu einer steten Uniformierung und hierarchischen Steuerung des Bildungsgeschehens geführt hat, lenkt er den Blick zurück auf das Wesentliche: auf das Kind, auf den Lehrer, auf das, was sich zwischen ihnen als Menschen ereignet, und auf die Frage, was Bildung eigentlich ist. Brühlmeier ist mit Pestalozzi überzeugt: «Auch der Wirtschaft und dem Staat ist am besten gedient, wenn sich die Schulen um die Bildung des ganzen Menschen kümmern und daher nicht seine Verwendbarkeit, sondern seine Menschlichkeit ins Zentrum stellen.»

Wenn er dabei Pestalozzi aufgreift, ist sein Ziel nicht, «der historischen Figur Buchstaben für Buchstaben zu folgen», sondern an den Geist Pestalozzis anzuknüpfen. Es sind zahlreiche Facetten dieses Geistes, die Brühlmeier dabei anleuchtet, mit dem lebendigen Schulalltag von heute in Verbindung bringt und dem Leser in einer Art nahebringt, die eben diesen Geist selber atmet.

Wo wir heute Gefahr laufen, den Menschen auf Hirnstrukturen, neurophysiologische und neurobiologische Abläufe zu reduzieren und jede kindliche Auffälligkeit mit einer entsprechenden Diagnose zu etikettieren, führt Brühlmeier das Denken zurück zum Wesen des Menschen: Natürlich ist der Mensch auch ein biologisches Wesen, erst in der Beziehung zu seinen Mitmenschen aber kann er Mensch werden, und er bedarf dabei sittlicher Orientierung und Bildung, um zu wahrer Menschlichkeit zu finden. So ist denn echte Bildung nicht von Erziehung   – «oder wenn man lieber will: moralischer Bildung»   – zu trennen. «Guter Unterricht ist immer auch erziehender Unterricht.» (S. 63) Dabei sind Druck, Nötigung und Gewalt keine Mittel, die zu echter Herzensbildung beitragen, obwohl natürlich unmoralischem, asozialem Verhalten klar Einhalt geboten werden muss und solches durchaus einer dezidierten Gegenposition bedarf.

Menschenbildung soll bei den Kindern aber auch echtes moralisches Verhalten aus eigenem Antrieb entwickeln:

«Es genügt nicht, dass die Kinder einander wenigstens nicht schlagen. Sie sollen einander mögen und einander beistehen, sich für die Gemeinschaft engagieren und die Wahrheit lieben.»

(S. 64)

Dass und wie dies möglich ist, entwickelt Brühlmeier auf jeder Seite seines Buches, egal, mit welchem Thema er sich befasst. Kernpunkt   – wiederum auch eine Grundeinsicht Pestalozzis und aller grossen Pädagogen   – ist dabei die

«positive, lebendige Lehrer-Schüler-Beziehung. Sie ist so etwas wie der Nährboden, auf welchem Bildung und Erziehung erst wirklich gedeihen können.»

(S. 66)

«Denn wirkliche Bildung, die die Menschen von innen her zu verändern und zu entwickeln vermag, beruht immer auf mitmenschlichen Beziehungen.»

(S. 206)

Unweigerlich rückt Brühlmeier damit auch die Lehrerpersönlichkeit in den Blickpunkt und setzt unter anderem etwas wieder ins Recht, was die ganze strukturelle Reformhektik völlig ins Abseits gedrängt hatte: die Liebe des Lehrers zu seinem Beruf, die zusammenhängt mit der Liebe zum Kind, mit der Freude an dessen Entwicklung und am gemeinsamen Tun. Brühlmeier verbindet damit keine kitschigen Vorstellungen, sondern ein echtes Interesse an jedem individuellen Kind, aus dem ein Verstehen der je eigenen kindlichen Persönlichkeit erwächst.

Dass ein Lehrer nicht alle Kinder «gleich» gern haben könne, lässt er dabei nicht gelten, denn erfahrungsgemäss treten «die Gefühle von Sympathie und Antipathie dann stark in den Hintergrund, wenn es gelingt, einen Menschen   – so wie er einem gerade entgegentritt   – wirklich zu verstehen». (S. 185)

Psychologische und pädagogische Literatur ist dabei hilfreich, kann und soll Anregung geben   – das ist ja auch die Absicht seines Buches   – vermag aber das konkrete Hinhören und Hinschauen beim einzelnen Kind nicht zu ersetzen (S. 128), das dem Lehrer Aufschluss darüber gibt, wo es steht, wo es ansteht und wo es allenfalls auch fehlgeht.

Diese Nähe zum Kind, das Interesse an seiner Entwicklung, die Freude, etwas zur Bildung seiner Menschlichkeit beitragen zu können, vermittelt sich dem Leser auf jeder Seite dieses Buches; es ermutigt den jungen Lehrer, seine ursprüngliche Motivation zum Lehrerberuf nicht in Schulorganisation und -entwicklung untergehen zu lassen, den erfahrenen, sich wieder auf sich selbst und seine Anliegen zurückzubesinnen.

In Zusammenhang mit der Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung bricht Brühlmeier auch eine Lanze für den Klassenlehrer, da er naturgemäss wesentlich grössere Möglichkeiten hat, eine Beziehung zu jedem Kind aufzubauen.

«Die Bildungspolitik täte mit Blick auf die drängenden gesellschaftlichen Probleme gut daran, die Präferenzen gelegentlich zu überprüfen.»

(S. 206)

Unter Nähe zum Kind darf man sich bei Brühlmeier auch nie eine sich anbiedernde, um die Zustimmung der Kinder oder Jugendlichen buhlende Haltung vorstellen: Die personale Autorität des Lehrers ist für ihn eine selbstverständliche Voraussetzung echter Bildung. Waren früher tatsächlich mancherorts ungute Strenge und das Kind herabsetzende oder demütigende Methoden   – keine echte Autorität   – verbreitet, sieht Brühlmeier die Gefahr heute weit mehr in den Auswirkungen der antiautoritären Bewegung, in deren Folge sich eher die Schüler über die Lehrer hinwegsetzen. Personale Autorität meint nicht eine irgendwie geartete Ausübung von Macht, sondern die persönliche Ausstrahlung:

«In dieser Ausstrahlung liegt eine Botschaft über die Glaubwürdigkeit, die Vertrauenswürdigkeit, die Kompetenz, die Willensstärke, die Verlässlichkeit, die Ernsthaftigkeit des betreffenden Menschen.»

(S. 181)

Dazu gehört auch das ruhige, aber entschiedene Zurückweisen jeglicher Angriffe auf die eigene Person, das im Selbstwertgefühl des Erziehers gründet.

Wahre Menschenbildung, die über die Wissensvermittlung hinaus eine Entwicklung der Kinder zu mitfühlenden, im Leben verankerten, mutigen Menschen mit Sinn für Gerechtigkeit, Vertrauen, Eigenständigkeit und Gemeinschaftssinn hin fördern will, ist ohne diese gesunde Autorität der Erzieherpersönlichkeit nicht möglich.

Ganz abgesehen davon, dass auch Lernen nicht möglich ist, wo Kinder nicht darauf eingestellt sind, sich von einem Erwachsenen etwas sagen zu lassen. Brühlmeier scheut sich nicht, hier das so verpönte Wort Gehorsam aufzugreifen, und versteht darunter die Bereitschaft, sich auf sachliche Erfordernisse einzulassen. In der Missdeutung kindlichen Eigensinns, «fataler kompensatorischer Selbstbehauptung» (S. 97) als Eigenständigkeit liegt ein Erziehungsmissverständnis unserer Zeit.

Ohne moralische Erziehung erlangt der Mensch nicht wirkliche innere Freiheit, die ihm ermöglicht, dass er

«den Gehorsam gegenüber den herrschenden Regeln dort verweigert, wo ihn die Suggestion einer Situation zu destruktivem und moralisch verwerflichem Verhalten verleiten möchte.»

(S. 96)

Neben den hier angesprochenen Themen finden sich zahlreiche weitere Anregungen zu Unterrichtsfragen, die jeden Lehrer immer wieder beschäftigen: Gedanken zum Taschenrechner, zum Sprachunterricht, zu ENEA   – der exzessiven Nutzung elektronischer Apparate   – zum Umgang mit Gewalt und vielem mehr, immer eingebettet in das Ganze und mit Blick auf die Grundaufgabe: Menschen bilden.

Einer ökonomistischen Sicht auf Bildung und einer biologistischen Auffassung vom Kind und vom Menschen hält Brühlmeier eine zutiefst humane Pädagogik entgegen, in der das Individuum und die Personalität des Menschen wieder in ihr Recht gesetzt werden. Im Mittelpunkt steht die volle Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit   – die ohne sittliche Bildung nicht zu haben ist. Und: sittliche Bildung, wie sie Brühlmeier in seinem Buch vorlegt, begründet und fördert auch Neugier, echtes Interesse und Anteilnahme, die das Lernen erst wirklich fruchtbar machen. Einer solchen Bildung verbundene Lehrer- und Erzieherpersönlichkeiten gewinnt man aber nicht durch juristische oder institutionelle Massnahmen oder die derzeitigen Evaluations- und Qualifikationsverfahren, im Gegenteil:

«Je massiver man mit Qualitätssicherungssystemen einfährt, desto weniger wird man jene Qualität erreichen, die ausschliesslich auf sittlicher Freiheit des Einzelnen beruht.»

(S. 158)

Natürlich braucht Schule immer auch einen organisatorischen und gesetzlichen, vor allem demokratisch legitimierten Rahmen. Aber «eine auf sittlichem Zusammenleben beruhende und nach Sittlichkeit der Beteiligten strebende Menschenbildung» (S. 159) anzustreben, setzt voraus, dass der Lehrer das aus sich selbst heraus will. Jene Liebe zum Kind, von der Brühlmeier als Grundhaltung spricht und die «jederzeit das Verantwortungsbewusstsein, das Einfühlungsvermögen, den Arbeitswillen, die Selbstkritik sowie die Bereitschaft, Schwierigkeiten anzugehen und zu überwinden [nährt]» (S. 184), lässt sich in einer guten Lehrerbildung sehr wohl vermitteln, nicht aber verordnen.

Man wünscht dem Buch einen möglichst breiten Leserkreis. Lehrer, in der Lehrerbildung Tätige, Eltern und politische Verantwortungsträger   – ihnen allen bietet das Buch Anregung, sich auf das Wesentliche von Bildung und Erziehung zu besinnen, wenn wir die heranwachsenden Generationen auf die künftig vor ihnen liegenden Anforderungen so vorbereiten wollen, dass sie ihnen nicht nur hinsichtlich ihrer praktischen und intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch als Mitmenschen und verantwortliche Mitgestalter des Zusammenlebens gewachsen sein werden.

  1. Bernd Ahrbeck, Kinder brauchen Erziehung. Die vergessene pädagogische Verantwortung, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-17-017973-8
  2. Otto Speck, "Erziehung und Achtung vor dem Anderen" (siehe: http://dev.buecher-chorb.ch/buecher-hoerbuecher-und-filme/paedagogik/329-otto-speck-erziehung-und-achtung-vor-dem-anderen-zur-moralischen-dimension-der-erziehung). Zur moralischen Dimension der Erziehung, München 1996, ISBN 978-3-497-01421-7
  3. Michael Felten. Auf die Lehrer kommt es an! Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule, Gütersloh 2010. ISBN 978-3-579-06882-4
  4. Arthur Brühlmeier, Menschen bilden, Impulse zur Gestaltung des Bildungswesens nach den Grundsätzen von Johann Heinrich Pestalozzi, Baden 2007, ISBN 978-3-85545-147-0

Als Bezugsquelle für die Bücher empfehlen wir den kleinen guten Genossenschaftsbuchladen "Büecher-Chorb in Aadorf:
www.buecher-chorb.ch

Arthur Brühlmeier

Arthur Brühlmeier führte nach der Primarlehrerausbildung in Wettingen während 17 Jahren eine Gesamtschule mit acht Klassen und studierte danach an der Universität Zürich Pädagogik, Psychologie und Publizistik (Dissertation: «Wandlungen im Denken Pestalozzis»). Anschliessend wirkte er in der Lehrerbildung als Dozent für Pädagogik, Psychologie und Didaktik, in den letzten 20 Jahren am ­Seminar St. Michael in Zug, wo er am Konzept «Lehrerbildung als Persönlichkeitsbildung» mitwirkte und mehrere in Pestalozzischem Geist verankerte Reformen einleiten konnte.

Quelle:
http://www.bruehlmeier.info/

Quelle: Nr.11 vom 15.3.2010
www.zeit-fragen.ch

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Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling