Grundlagen der Prävention von Mobbing

14. April 2013

Grundlagen der Prävention von Mobbing

von Françoise D. Alsaker

Für die Prävention von Mobbing sind ein gewisses Wissen über dieses Phänomen sowie die persönliche Auseinandersetzung mit den eigenen ethischen Prinzipien zwar unentbehrlich, dies allein reicht aber noch nicht aus. Um etwas zu bewegen, muss die Entscheidung zu handeln vorhanden sein, und es muss auch konkret gehandelt werden.

Wie gehandelt wurde (das durchgeführte Präventionsprogramm) und wie die Leserinnen und Leser konkret weiterarbeiten können, ist Bestandteil der nächsten zwei Kapitel. Zum Abschluss dieses Grundlagenkapitels will ich nun noch die Grundsteine oder -prinzipien der praktischen Prävention präsentieren, die vielen Programmen gegen aggressives Verhalten und Mobbing und ganz besonders dem «Berner Präventionsprogramm gegen Mobbing im Kindergarten und in der Schule» zugrunde liegen.

Zwischen den Prinzipien und Formen der allgemeinen Gewaltprävention und -intervention und der Prävention und Intervention speziell bei Mobbing gibt es viele Überschneidungen. Ein grundsätzlicher Unterschied ist allerdings, dass Mobbing hauptsächlich in der Kindergruppe angegangen wird, und nicht in Einzeltherapie oder -beratung. Deshalb ist die Motivierung der Kinder und der Lehrpersonen äusserst wichtig. [...]

Handlungsfähigkeiten der Lehrpersonen stärken

Da Mobbing oft in der Klasse bzw. in der Schule oder im Umfeld der Schule geschieht, sollten die Lehrpersonen lernen, damit umzugehen. Den Umgang mit Mobbing zu lernen, ist keine Hexerei. Vielen Lehrkräften scheint es auch nicht an Ideen zu fehlen, sondern eher an der nötigen Sicherheit, welche Reaktionen gut wären und welche eher kontraproduktiv sind.

Deshalb finde ich es äusserst wichtig, die Ressourcen der Lehrpersonen zu aktivieren. Mobbing ist nicht ein Problem, dass nur von Experten gelöst werden kann, aber man muss an die eigene Handlungsfähigkeit und an die eigene Kompetenz glauben, um effizient damit umgehen zu können. Denn man muss im Auge behalten, dass mobbende Kinder und Jugendliche die Schwächen anderer   – auch die der Lehrpersonen   – genau erkennen. Unsicherheit merken sie sofort.

Die Prävention von Mobbing sollte zu einem sehr grossen Teil in der Schule geschehen. Ich bin auch der Meinung, dass jede Intervention gegen existierendes Mobbing in Zusammenarbeit mit den Lehrkräften durchgeführt werden sollte, damit dieselbe Vorgehensweise später auch ohne Einsatz von Fachpersonen angewendet werden kann.

Offene und direkte Kommunikation ohne Schuldzuweisung

Das «Schweigen» ist ein wichtiger Bestandteil von Mobbing. Durch Schweigen und Verschweigen sorgen alle direkt und indirekt Betroffenen dafür, dass Mobbingmuster aufrecht erhalten werden. Mobbing soll nicht vertuscht, entschuldigt oder bagatellisiert werden. Mobbing ist gemein. Mobbing ist Gewalt, und Gewalt soll beim Namen genannt werden. Es ist ein Ziel und ein Mittel der Prävention von Mobbing, dass darüber gesprochen wird. Aber es ist zwecklos, nach Schuldigen zu suchen. Schuldzuweisungen gehören in den Gerichtssaal.

Im Alltag, in zwischenmenschlichen Beziehungen, führen Schuldzuweisungen nur zu zerstörerischen Schuldgefühlen oder aggressionssteigernden Gegenangriffen. Wie oft hört man nicht Lehrer sagen, Eltern wären schuld an der Misere, und gleichzeitig Eltern sich beklagen, die Lehrer würden ihre Aufgaben nicht wahrnehmen. Und während sich beide Parteien gegenseitig die Schuld zuschieben und nach Beweisen suchen, leiden vor allem die Kinder und tragen Schaden davon.

Wenn man nach Schuldigen sucht, geht man davon aus, dass alles einen Anfang und eine Ursache hat. Diese Suche nach Ursachen gehört zum impliziten menschlichen Verständnis von der Welt (Flammer, 1997). Geschehnisse sind aber oft das Resultat vieler gleichzeitiger Bedingungen, und es gibt selten einen präzis definierbaren Anfang und eine einzige Ursache für eine bestimmte Dynamik in einer menschlichen Beziehung. Flammer (1997, S.156) zieht aus der menschlichen Suche nach einer eindeutigen Ursache und der tatsächlichen Multikausalität die Schlussfolgerung, dass es «eine willkürliche oder konventionelle Entscheidung» ist, welches Ereignis wir als Ursache bezeichnen. Man könnte auch sagen, dass zwischenmenschliche Interaktionen als Ketten von Ereignissen gesehen werden können und dass wir willkürlich entscheiden, was wir als Anfang dieser Kette wahrnehmen (dieses wird in der Kommunikation «Interpunktion» genannt; Watzlawick, Beavin & Jackson, 1969).

Täterinnen und Täter sind in den allermeisten Fällen nicht bereit, ihre Schuld am Mobbing zu gestehen. Sie zu einem Geständnis zu zwingen, dürfte dementsprechend erfolglos bleiben. Ich habe auch schon erwähnt, dass aggressive Menschen dazu tendieren, ambivalente Situationen eher als Provokationen oder als mögliche Angriffe auf ihre Person zu interpretieren. In gewissen Situationen könnten somit Täterinnen und Täter überzeugt sein, dass das (sozial viel schwächere) Opfer sie zu ihrem gemeinen Verhalten provoziert habe. So oder so, und ob unter Erwachsenen oder Kindern:

Wenn nach Ursache und Schuld gesucht wird, kommt es oft vor, dass schliesslich alle frustriert, enttäuscht, gekränkt und voller feindseliger Gefühle sind. Die Angeklagten sind dem Anklagenden gegenüber feindselig eingestellt, haben aber doch nicht richtig verloren, was sie eventuell noch als Erfolg verbuchen mögen. Die Anklagenden sind enttäuscht, vielleicht am meisten über sich selber, weil sie doch nicht den Erfolg hatten, den sie angestrebt hatten.

Ob sie wieder intervenieren werden, ist unklar, denn ein gewisses Gefühl des Misserfolges bleibt noch lange bestehen. Und die Opfer fühlen sich wahrscheinlich noch verlassener als früher; jemand hat interveniert, aber der Intervention war kein Erfolg beschieden. Sie haben Angst vor dem Zorn der Angeklagten, vermuten, dass sich niemand mehr für sie engagieren wird und glauben wohl, dass die Angeklagten mehr Erfolg mit ihrer Version der Geschichte hatten als sie selber.

Da die Bezeichnung einer Handlung als Anfang einer Kette von Handlungen willkürlich ist, steht es uns auch frei, das, was wir gerade sehen, als Anfang einer neuen Kette zu betrachten. Wenn zwei Kinder ein anderes auslachen, könnten wir statt: «Warum lacht ihr ihn/sie aus?», beispielsweise auch fragen: «Was machen wir jetzt, damit sich das nicht wiederholt?»

Grenzen setzen und handeln

Auf Schuldzuschreibung und -zuweisung zu verzichten heisst keinesfalls, alle Verhaltensformen als akzeptabel zu deklarieren. Im Gegenteil: Ein zentrales Element der Prävention von Mobbing ist, dass man sehr klar zwischen akzeptablen und nicht akzeptablen Verhaltensweisen trennt und dass diese Unterscheidung durch das eigene konsequente Handeln verdeutlicht wird. Für Olweus (1996) ist die Entschlossenheit der Erwachsenen, beim Beobachten von Mobbing einzugreifen, eine der wichtigsten Vorbedingungen für eine effiziente Prävention.

Viele Kinder und Jugendliche erleben heute nur sehr vage und unklare Grenzen. Einigen scheint beinahe alles erlaubt und möglich zu sein, für andere ist einmal alles erlaubt und ein andermal gar nichts, je nach Situation und Laune der Erwachsenen. In der Öffentlichkeit wagen immer weniger Leute, Kinder und Jugendliche zurechtzuweisen, auch wenn diese sich ganz eindeutig normbrechend, falsch oder sogar gefährlich verhalten. Es gehe einen nichts an, können manche Kinder schon in jungem Alter schlagfertig bekanntgeben. Es gehe einen nichts an, hören sogar Lehrkräfte gelegentlich von Kollegen, wenn sie sich in das Verhalten von deren Schülerinnen und Schülern einmischen.

Dabei kann die Wichtigkeit von Grenzen und von Strukturen für die Sozialisierung und die Entwicklung der Kinder nicht genug betont werden. Das Setzen von Grenzen wurde verpönt, weil es mit autoritärem Erziehungsstil verwechselt wurde. Grenzen müssen aber nicht mit autoritärer Erziehung einhergehen. Grenzen werden am besten erklärt, diskutiert und gemeinsam ausgehandelt. Aber es ist eindeutig die Aufgabe der Erwachsenen, Grenzen zu definieren und durchzusetzen, wenn Kinder nicht in der Lage sind, diese zu verstehen oder zu diskutieren.

Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess. Schon kleine Kinder versuchen, Schritt für Schritt immer ein bisschen weiter zu kommen. Sie suchen dabei die eigenen Grenzen des Machbaren und versuchen, diese zu überwinden. In der Beziehung zu anderen Menschen suchen sie auch nach den Grenzen des Akzeptablen, nach den Grenzen der anderen und somit auch nach ihren eigenen Grenzen. Wenn wir ihnen keine Grenzen setzen, berauben wir sie auch wichtiger Elemente für ihre Selbstdefinition. Ein Kind, das nie Grenzen erfährt, bildet keine solide Identität heraus, sondern eher eine diffuse.
Die meisten heutigen westlichen Gesellschaften bieten ihren Kindern bereits sehr früh eine Unmenge an Möglichkeiten an.

Die Kinder werden zum Teil mit Wahlmöglichkeiten konfrontiert, denen sie nicht gewachsen sind. Es fängt schon bei der Wahl der Kleider oder der Cornflakes an. Ich kann mich an ein amerikanisches Kindergartenmädchen erinnern, das sich früh am Morgen entscheiden musste, was es in den Kindergarten als Imbiss mitbringen wollte. Schon bei dem Getränk standen vier zur Auswahl, bei den Keksen weitere fünf usw. Das Mädchen war eindeutig überfordert und konnte nicht mehr wählen. Zum Schluss waren Mutter und Tochter nur noch frustriert. Diese kleine Episode widerspiegelt   – wenn auch etwas überspitzt   – die heutige Wirklichkeit vieler Kinder.

Kinder müssen mit der Wahlfreiheit in einer pluralistischen Gesellschaft umgehen lernen, das heisst vor allem, dass sie lernen müssen, dass jede Wahl mit dem Aufgeben einer anderen Möglichkeit verbunden ist. Das ist einfaches Lernen von Frustrations­toleranz. Aber genau das lernen viele Kinder nicht, und statt Freude an der neuen Jeans zu haben, erleben sie möglicherweise eher Frust, weil die andere Jeans vielleicht doch «besser» gewesen wäre.

Um mit Grenzen und Wahlmöglichkeiten umgehen zu lernen, müssen die Kinder von Erwachsenen umgeben sein, die willig sind, Grenzen zu setzen und dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden. Grenzen setzen geht nämlich mit positiven und negativen Sanktionen einher. Das heisst im Rahmen der Prävention von Mobbing, dass die Erwachsenen willig sein müssen, Stellung zu beziehen, einzugreifen und konsequent zu reagieren.

Die Nicht-Betroffenen einbeziehen

Wie schon früher festgehalten wurde, war sich ein Grossteil der Kindergärtnerinnen in der Berner Kindergartenstudie der wichtigen Rolle der nicht direkt beteiligten Kinder nicht bewusst. Dünn gestreut sind auch Lehrpersonen, welche von sich aus das Potential, das diese Kinder repräsentieren, erkennen. In mehreren bestehenden Programmen wird allerdings eindeutig empfohlen, dieses Potential zu nutzen (vgl. Charach et al., 1995; Olweus, 1991).
Der Einbezug der nicht direkt betroffenen Kinder geht einher mit dem Erlernen von Zivilcourage. Ich habe schon erlebt, dass Eltern fragten, ob es denn wirklich nötig sei, diese Kinder einzubeziehen, da sie doch nichts mit der Sache zu tun hätten und durch ihr Engagement etwas riskieren könnten, das heisst nur zu verlieren hätten.

Ich verstehe die Angst dieser Eltern sehr gut. Nur ist es so, dass ihre Kinder durch ihre Passivität tatsächlich auch am Mobbing beteiligt sind und diesen Teil ihrer Verantwortung auch erkennen müssen. Durch die Akzeptanz ihrer Passivität durch die Erwachsenen «lernen» sie zusätzlich auch noch, dass man sich am besten für niemanden einsetzt, der in Not geraten ist. Dies ist natürlich eine Wertfrage. Die Passivität dieser Kinder schützt sie allerdings auch nicht effizient gegen Mobbing, denn in den Augen der Mobber sind auch sie schwach und ungefährlich, genau wie die Opfer.

Falls ihre Passivität eine Folge der Angst vor Repressalien ist, würde ich meinen, dass auch sie gewissermassen als Opfer von Mobbing gesehen werden müssen. Insofern würden sie durch das Erlernen eines angemessenen Engagements mehr für ihre eigene Sicherheit tun als durch das weitere Verharren in ängstlicher Passivität. Das Engagement gegen Mobbing kann auch unmittelbar helfen, ein gewisses Gefühl der Machtlosigkeit durch Erfahrungen der Kompetenz zu ersetzen.
Wenn die Erwachsenen klare Botschaften vermitteln, bezüglich dem Mobbing eindeutig Stellung beziehen und falls nötig konsequent eingreifen, sind die Kinder, die sich für die Opfer von Mobbing engagieren, auch nicht gefährdet.

Zusammenstehen

Je mehr Leute gemeinsam gegen Gewalt arbeiten, desto effizienter ist die Arbeit. Das heisst: Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler müssen gemeinsam etwas unternehmen. Die Lehrpersonen sollten einander unterstützen und auch die Schulleitung sollte eine eindeutige Stellung gegenüber dem Phänomen Mobbing beziehen. Zusätzlich wird der Einbezug der Eltern generell als eine sehr wichtige Komponente wirksamer Präventionsprogramme betrachtet.

Der Kern des Präventionsprogramms, das in Sheffield, England, in 23 Schulen durchgeführt wurde (Sharp & Smith, 1993; Smith & Sharp, 1994) bestand in der Entwicklung einer gemeinsamen Anti-Mobbing-Strategie der gesamten Schule (Schulhauskultur). Dazu gehörte das Etablieren eines Anti-Mobbing-Netzwerkes, die Vermittlung von Wissen über verschiedene spezifische Arten von Mobbing, der Einbezug von Eltern, Schülerinnen und Schülern in die Schulhauskultur und die Erarbeitung von Strategien, um die positive Schulhauskultur aufrechtzuerhalten.

Das Hauptziel der ganzheitlichen Schulhauskultur bestand in der Steigerung der Motivation, etwas zu verändern, und in der Mobilisierung der an der Schule tätigen Personen. Smith und Mitarbeitende kamen zum Schluss, dass die Entwicklung einer Schulhauskultur grosse Priorität hat: Diejenigen Schulen, in welchen das gesamte Kollegium in den Prozess der Programmentwicklung involviert waren (z. B. durch die Unterzeichnung einer «Anti-Mobbing-Charta»), verzeichneten die stärkste Abnahme des Mobbings im Laufe der Projektzeit.

Neben der Zusammenarbeit der Lehrpersonen in der Schule ist auch die Notwendigkeit der Einbindung der Eltern einleuchtend. Insbesondere auf Kindergartenstufe, wo die Kontakte zwischen Elternhaus und Lehrkraft recht intensiv sein können, ist eine konsequente Einbindung der Eltern in den Präventionsprozess relativ gut zu bewerkstelligen.
Es ist wichtig, dass Eltern erfahren, dass die Lehrpersonen sich für das soziale Wohl ihrer Kinder einsetzen. Es ist wichtig, dass sie wissen, welche Abmachungen sie mit den Kindern getroffen haben und weshalb gerade diese. Eine nähere Zusammenarbeit ist natürlich wünschenswert, da es wichtig ist, dass die Kinder konkret erleben, dass Schule und Elternhaus zusammenarbeiten. Es geht hier darum, in den Augen der Kinder sowohl die Autorität der Eltern als auch die Autorität der Lehrkräfte zu stärken.

Der Text ist ein Auszug aus dem Kapitel 9 (S. 181- 199) des Buches von Françoise D. Alsaker, Quälgeister und ihre Opfer. Mobbing unter Kindern   – und wie man damit umgeht. Bern. 2003/2004. Verlag Hans Huber. 1. Nachdruck 2004, ISBN 3-456-83920-0. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=622

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