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Digitalisierung von Bildung als neoliberales Projekt

Das Internet als Brandbeschleuniger der Globalisierung und Infrastruktur des neoliberalen Regimes.
von Matthias Burchardt
24. Juli 2017
In den 80er Jahren wurde den Studierenden an den westlichen Hochschulen politische Leidenschaft, Kritik und das Engagement für eine gerechte Welt durch den Hinweis auf das „Ende der großen Erzählungen“ aberzogen. Wie immer man zu Lyotard, dem Autor dieser  – selbst durchaus nicht kleinen  – Erzählung vom Ende der Utopien und Sinnklammern, stehen mag, scheint er doch von der Geschichte selbst widerlegt worden zu sein: Die Narrative der „Globalisierung“ oder auch der „Digitalisierung“ haben beinahe uneingeschränkte Hegemonie gewonnen, ihre Alternativlosigkeit entfaltet Sachzwang- und Legitimationskaskaden, die weiteren Begründungsbedarf oder gar alternative Gestaltungsabsichten schlichtweg pulverisieren. Politisches Handeln, das auf dieser Welle schwimmt, ist per se legitimiert, Skeptiker und Kritiker kommen gegen die Macht der großen Erzählung kaum an. Zumal auch die Mächtigen selbst sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen.

2013 etwa tagte die informelle Bilderberger-Konferenz zu Themen wie: „How big data is changing almost everything“ oder „Online education: promise and impacts“. Die teilnehmenden deutschen Politiker sind Christian Lindner, FDP, („Das Digitalste an der Schule darf nicht die Pause sein“) und Kurt Lauk, zu der Zeit Präsident des Wirtschaftsrates der CDU   – Die Stimme der Sozialen Marktwirtschaft. Lauk kritisierte dann in der Folge auch im Handelsblatt die Nachteile des Datenschutzes bei der Schürfung der digitalen Rohstoffe durch Big Data.

Bevor nun der Vorwurf der Verschwörungstheorie aufkeimt, sei darauf hingewiesen, dass man auch ohne die Teilnahme an informellen Konferenzen subtil die Interessen der IT-Lobby oder des militärisch-kybernetischen Komplexes vertreten kann. Andreas Pinkwart, FDP-Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie in NRW, etwa offenbart in einem Interview „Ich bin digital im Kopf“ und kündigt einen Masterplan der Digitalisierung an.

Digitale Querfront?

Ob auch die Linken MdB Halina Wawzyniak und Nicole Gohlke digital im Kopf sind, bleibt offen, aber auf der vom Klett-Verlag betriebenen Plattform excitingedu.de werden beide in Hinblick auf eine Positionsbestimmung der Linken wie folgt zitiert:

„Um die Potenziale der digitalen Wirtschaft voll ausschöpfen und die digitalen Gründungsbedingungen verbessern zu können, müssen als erstes die Schulen reformiert werden, so die netz- und rechtspolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion, Halina Wawzyniak. […] Im Angesicht der immer weiter voranschreitenden Durchsetzung fast aller Lebensbereiche mit digitaler Technik, etwa bei der Arbeit, dem Wohnen, der Kommunikation, dem Einkaufen, aber auch der Partnersuche, seien umfassende und effiziente Digitale Bildungsmaßnahmen schlicht lebensnotwendig, gibt auch die hochschul- und wissenschaftspolitische Sprecherin, Nicole Gohlke, zu bedenken.“

Wird den Politikerinnen hier etwas in den Mund gelegt? Ein Blick auf die Internetseite der Linken belegt das Zitat:

„Die Digitalisierung breitet sich rasant in allen Lebensbereichen aus: Ob Arbeiten, Wohnen, Kommunizieren, Einkaufen oder Partnersuche   – das Leben ist schon jetzt davon durchdrungen, und die Entwicklung steckt noch in den Kinderschuhen. Und nicht selten scheint es so, als seien wir der technischen Entwicklung machtlos ausgesetzt.
Allerdings ist das Wesen der Maschine kein technisches, sondern ein soziales. Denn Maschinen produzieren dort, wo Menschen es möchten. Das kann aus Profitgier oder aus Gründen der Arbeitserleichterung passieren. Ein einlösbares Freiheitspotenzial ist damit genauso vorhanden wie die Vergrößerung der Macht von Menschen über Menschen.
Dazu ein Beispiel aus der Bildung. Die New Yorker David-Boody-Schule wurde nach dem Konzept der “New Classrooms« umgestaltet. Statt im Frontalunterricht lernen die Schüler/innen in einem einzigen großen Raum an wechselnden Stationen. Manche reden mit ihren Lehrer/innen, andere nutzen Lernsoftware, wieder andere machen Gruppenarbeit. Am Ende eines jeden Tages machen sie einen kurzen Online-Test. Die Software errechnet, in welchen Bereichen sie am nächsten Tag nachlernen müssen und welche Methode dafür individuell am besten geeignet ist. Die Lehrenden sind nicht überflüssig, aber sie haben eine andere Rolle   – sie sind vor allem Lernbegleiter/innen. Im regionalen Vergleich erzielt diese Schule Spitzenwerte.“

Immerhin wird auf Interessen von digitalen Anbietern wie Bertelsmann verwiesen, die Alternativlosigkeit der großen Erzählung von der Digitalisierung selbst aber nicht in Frage gestellt. Ein wenig nachdenklich stimmt allerdings, dass auch der Digitalisierungsapostel Jörg Dräger von der Bertelsmann Stiftung selbst die David-Boody-Schule mit ganz ähnlichen Formulierungen anpreist:

„In einem riesigen Raum der New Yorker David-A.-Boody-Schule lernen etwa 90 Schüler jahrgangsübergreifend Mathematik an wechselnden Stationen. Die einen schauen Videos, die anderen nutzen Lernsoftware, andere arbeiten in Gruppen oder sprechen mit dem Lehrer. Jeder einzelne Schüler kann in seiner Lerngeschwindigkeit und auf seinem Leistungsniveau arbeiten. Basierend auf den Leistungen errechnet Software nachts ein individuelles Curriculum für jeden Schüler. Ein Schüler kommt morgens in die Schule und sieht auf dem Bildschirm: „Aha, ich muss an Station 7 noch Bruchrechnen wiederholen“, während andere Schüler der Klasse schon viel weiter sind und an ganz an-deren Lektionen arbeiten. Kommt einer der Schüler mit dem Lernprogramm nicht weiter, erhält der Lehrer automatisch einen Hinweis und kann gezielt helfen. Das geht nicht für alle Schüler gleichzeitig, aber für diejenigen, die gerade Hilfe nötig haben. Leh-rer werden so zu Lernbegleitern. Sie verwenden weniger Zeit darauf, Standardwissen zu vermitteln, und mehr, auf den Einzelnen einzugehen.“

Auf der einen Seite finden sich politisch korrekt gegenderte Bezeichnungen und ein emanzipatorisch grundiertes Individualisierungspathos, auf der anderen Seite werden die Effizienzgewinne einer algorithmischen Mechanisierung von Unterricht gelobt. Vereint ist man in der Beschwörung technischer Lösungen für das zwischenmenschliche Praxisfeld der Pädagogik. Eine ausführliche Widerlegung dieses Ansatzes findet sich hier (siehe: https://www.jungewelt.de/artikel/297633.gegen-den-algorithmus-kann-es-kein-aufbegehren-geben.html).

Den Digitalismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf

Auch die Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (vbw) stößt in dasselbe Horn. Der Aktionsrat Bildung hat in seinem Gutachten „Bildung 2030   – veränderte Welt. Fragen in der Bildungspolitik.“ in diesem Frühjahr die Notwendigkeit einer digitalen Bildungsreform förmlich herbeigetrommelt. So titelte die Süddeutsche Zeitung unter Bezugnahme auf eine dpa-Meldung am 10. Mai:

„Schulen müssen digitaler werden“, denn das vbw-Gutachten habe belegt, dass „schon Grundschüler, die einmal pro Woche am Computer arbeiten, deutlich bessere Kompetenzen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaft hätten.“

Schon wenige Tage später wurde jedoch der Nachweis erbracht, dass die hier über Qualitätsmedien verbreitete Information unzutreffend war. Einer kritischen Leserin war aufgefallen, dass die vbw-Studie Ergebnisse einer anderen Forschungsarbeit ins absolute Gegenteil verfälscht wiedergab.

Denn tatsächlich waren die Forscher ursprünglich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kinder am Computer

„statistisch signifikant niedrigere Kompetenzen aufwiesen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten.“

Quelle: S.78
https://www.vbw-bayern.de/vbw/Aktionsfelder/Bildung/Bildung-neu-denken/Studie-Aktionsrat-Bildung-Bildung-2030.jsp

Die peinliche Stelle wurde in der vbw-Studie kommentarlos korrigiert und mittels dpa durch die SZ am 24. Mai verlautbart, dass tatsächlich die Schülerinnen und Schüler weniger lernten, dass aber dennoch die Schulen digitaler werden müssten.

Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Eine Reihe von Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen nimmt diesen Skandal zum Anlass, einen kritischen Brief an die Kultusminister zu schreiben, in dem der unaufgelöste Widerspruch wie folgt aufgespießt wird:

„Das heißt auf gut deutsch: Was immer sogar selbst in Auftrag gegebene Studien ergeben   – die Digitalisierung von Schule und Unterricht bleibt das Ziel der Wirtschaftsverbände und der ihnen zuarbeitenden Wissenschaftler.“

Digitalisierungspolitik geschieht also im postfaktischen Raum der Propaganda. Das Realitätsprinzip soll kein Hindernis darstellen bei der Exekution der großen Erzählung von der Digitalisierung.

Wer sind die Erzähler dieses Erlösungsmärchens? Welche Interessen und Akteure stehen hinter diesen Machenschaften?

Ross und Reiter: Die Digitalisierungskampagne der Wirtschaft nimmt die Politik an die Kandare

Die Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ vereint unter dem Label des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Vorsitz von Frau Wanka neben Verbandsvertretern und Wissenschaftlerinnen auch Repräsentanten der Autoindustrie und der IT-Wirtschaft. August-Wilhelm Scheer von der Scheer Group, einem umsatzstarken IT-Unternehmen, ist sogar der Co-Vorsitzende der Plattform.

Auch ein Vertreter des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam ist mit im Boot. Hasso Plattner ist der Gründer des Unternehmens SAP. Natürlich sind auch die Telekom und der Branchenverband Bitkom vertreten. Erziehungswissenschaftlerinnen oder Vertreter der Lehrer sucht man indes vergebens in diesem Kreis, der sich anmaßt Bildung, Schule und Universität der Maschinenlogik zu unterwerfen.

Verlogene digitale Emanzipationsverheißungen haben Tradition

Manchmal hilft ein Blick in die Geschichte der Urteilskraft auf die Sprünge, denn die Produzenten der öffentlichen Meinung leben von der Vergesslichkeit der Menschen. Schon an wenigen historischen Stationen lässt sich aufweisen, dass das Emanzipationspotential von Computern und Internet durch die Konzerne nur beschworen wurde, um die eigenen Macht- und Gewinninteressen durchzusetzen.

Als in den 90er Jahren die Clinton-Regierung mit dem ›Telecommunication Reform Act‹ versuchte, regulierend auf den Datenverkehr einzuwirken, wurde diese Maßnahme von Internet-Aktivisten als Zensur wahrgenommen und angeprangert. Insbesondere die ›Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace‹ von John Perry Barlow aus dem Jahr 1996 kann schon aufgrund ihrer breiten Rezeption als ein Schlüsseldokument dieser Epoche betrachtet werden, aber auch inhaltlich verdichten sich darin exemplarisch wesentliche Motive einer bis heute nachwirkenden emanzipatorischen Legitimation des Internets.

„Regierungen leiten ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten ab. Unsere habt Ihr nicht erbeten, geschweige denn erhalten. Wir haben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete. […]
Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. […] Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen. Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu. Sie alle basieren auf der Gegenständlichkeit der materiellen Welt. Es gibt im Cyberspace keine Materie. Unsere persönlichen Identitäten haben keine Körper, so dass wir im Gegensatz zu Euch nicht durch physische Gewalt reglementiert werden können.“

Quelle: Barlow, John Perry: Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. 1996.
https://www.heise.de/tp/features/Unabhaengigkeitserklaerung-des-Cyberspace-3410887.html)

Analog zu einer Unabhängigkeitserklärung eines neu entstehenden Staates weist Barlow gesetzliche Restriktionen seitens der amerikanischen Regierung zurück und fordert Souveränität für das Internet, den Cyberspace. Seine Argumentation verläuft in zwei Bahnen: politisch werden die nationalstaatlichen Machthaber für unzuständig erklärt, da sich deren Herrschaftsanspruch lediglich auf die realen Räume von Staatsterritorien beziehe und nur durch deren Bewohner legitimiert sei. Zwischen den Bürgern des cyberspace und den realstaatlichen Regierungsakteuren aber bestehe kein solches Legitimationsverhältnis, so dass der Zugriff als invasiv-feindlicher Akt zurückzuweisen sei.

Die zweite Argumentationslinie, die wohl die erste stützen soll, besteht auf einem kategorialen Unterschied zwischen realen und virtuellen ›Welten‹: Der amerikanische Präsident darf nicht auf den Cyberspace zugreifen und er kann es auch nicht, weil die Verfasstheit und Artikulation von Herrschaft und Recht auf unterschiedlichen Grundbegriffen beruhe: Während die reale Welt durch das Modell von Materialität und Gegenständlichkeit geprägt sei, erscheine die virtuelle Welt des Cyberspace immateriell und geistig. Dies zeige sich beispielsweise am Begriff des Eigentums, der gemeinhin die Materialität der Dinge voraussetze.

Der Dieb, der mir etwas entwendet, bewirkt einen Ortswechsel des Objekts, so dass dieses bei ihm anwesend und bei mir abwesend ist. Der Diebstahl im Cyberspace geschieht im Modus der Vervielfältigung, der Dieb ist ein Raub-Kopierer, der sich selbst in den Besitz von etwas bringt, ohne dass es nachher dem ursprünglichen Eigentümer fehlt. Auch die Ausübung von Herrschaft durch Gewaltandrohung oder -anwendung trifft auf den Cyberspace nicht zu. Niemand kann Panzer auf der Google-Homepage auffahren. Die ›Identitäten‹ der Cyberspace-Bewohner sind Avatare, die sich an keiner Staatsgrenze im Stacheldraht verheddern oder durch Gefängnisstrafen eingeschüchtern lassen.

Dinglichkeit und Räumlichkeit bestimmen auch die Grundkonzepte des Staatlichen schlechthin: Der Geltungsbereich der Herrschaft für einen umgrenzten Bezirk der Erde und die Legitimation derselben durch die physisch lokalisierbaren Bewohner dieser Bezirke, durch die Staatsbürger. Der Cyberspace ist dagegen total, nicht weil er die ganze Erde umfasst, sondern weil er letztlich ortlos ist. Seine Bewohner sind   – nach Barlows Vorstellung   – aller realstaatlichen und auch sozio-kulturellen Fixierungen entbunden.

Dieses Abstreifen der Fesseln der materiellen Existenz ermöglicht nun für Barlow die Verwirklichung einer idealen Existenz: Meinungsfreiheit, individuelle Selbstverwirklichung, Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit, Teilhabe, umfassende Bildung, Demokratisierung von Wissen und geteilter Wohlstand für alle scheitern nicht mehr an der Schwerkraft des Politischen, alle Menschheitsträume realisieren sich vielmehr in der grenzenlosen Kommunikation und universellen Vernetzung des Cyberspace.

Nüchterne Bilanz: Wir sind ihnen ins Netz gegangen!

20 Jahre später klingen diese Verheißungen ein wenig naiv: Anstelle von Meinungsfreiheit im Netz beklagen wir Phänomene wie Shitstorms gegen Meinungsabweichler, aber auch systematisches public opinion management durch „astroturfing“, d.h. die globale Produktion von Stimmungen und Meinungen in Echtzeit durch Manipulationsprogramme.

Die Demokratisierung von Kommunikation wird zwar nicht unbedingt durch staatliche Intervention, wie in China oder der Türkei, unterlaufen, sondern auch durch die Zensur seitens der Plattformbetreiber sozialer Netzwerke (facebook) oder interessengeleitete Journalisten (Vgl. Artikel zu Correctiv auf dem Rubikon), aber auch durch die konsenserzwingenden gruppendynamischen Tribunale des ›Likens‹, mitunter angeheizt durch inquisitorische Meinungsgouvernanten mit ideologischer Agenda, die Abweichler am Internetpranger bloßstellen.

Hinzu kommen die Enthüllungen zur globalen Überwachung und Speicherung von privaten Daten und Kommunikationen durch Edward Snowden. Allein das Wissen um die Überwachung pflanzt den Nutzern einen inneren Zensor ein und kontrolliert dadurch ihr Verhalten im Netz. Als weitere Phänomene im Zusammenhang mit der vermeintlichen Meinungsfreiheit im Netz wäre schließlich das Phänomen der ›Filterblasen‹ anzuführen: Einerseits gibt es   – in Anbetracht der unübersichtlichen Informationsfülle   – eine Neigung, bevorzugt dasjenige zur Kenntnis zu nehmen, das mit den eigenen Einstellungen übereinstimmt.

Andererseits personalisieren die Algorithmen der Suchmaschinen die Ergebnisse auf Grundlage des errechneten Nutzerprofils und filtern dadurch ihrerseits potentiell abweichende Informationen aus. Dadurch ergibt sich gerade durch die Unbegrenztheit des verfügbaren Wissens keine Weitung der Meinungsbildung, sondern eine Verengung und Fixierung. Der Nutzer hält sich für informiert, findet sich allenthalben bestätigt und hat keinen Anlass an der Verallgemeinerbarkeit seiner Auffassung zu zweifeln.

Entsprechend fadenscheinig ist auch die Verheißung der Nicht-Diskriminierung geworden: Unter Jugendlichen gerät Cyber-Mobbing zum alltäglichen Kavaliersdelikt, Youtube-Filme stellen Menschen in peinlichen Situationen bloß und einmal veröffentlichte Verleumdungen sind selbst aus vermeintlich seriösen Plattformen wie Wikipedia kaum wieder zu entfernen, wie eine exemplarische Analyse in Bezug auf den Wikipediaeintrag des Schweizer Wissenschaftlers Daniele Ganser zu Tage gefördert hat. (Die dunkle Seite der Wikipedia. Film von Markus Fiedler und Frank Michael Speer; https://www.youtube.com/watch?v=wHfiCX_YdgA).

Auch die Hoffnung einer freien Produktion und Vertreibung von Inhalten und Ideen ist durch die Monopolstellung von Google, Amazon und Apple konterkariert. Das Urheberrecht begünstigt weniger die Urheber als die Contentvertreiber. Selbst populäre Musiker beispielsweise können aus dem digitalen Vertrieb ihrer Werke kaum Gewinne erzielen und finanzieren sich deshalb zunehmend durch Konzerteinnahmen.

Auch Frieden hat sich durch oder im Cyberspace nicht wie versprochen eingestellt. Im Gegenteil tobt ein wenig übersichtlicher Informationskrieg um die Vorherrschaft über die öffentliche Meinung und   – ebenso gravierend   – der Cyberwar, der mittels Software zerstörerische Einwirkung auf die digitale oder reale Infrastruktur von Staaten, Unternehmen oder Organisationen unternimmt. Im Oktober 2016 etwa kündigten die Vereinigten Staaten offiziell einen Cyberangriff auf den Kreml an, eine digitale Kriegserklärung.

Auch ist der Cyberspace kein Ort friedlicher Gemeinschaft geworden: Waffen- und Menschenhandel, Kinderpornographie, Betrug, Identitätsdiebstahl usf. lassen ihn eher als rechtsfreien Raum erscheinen, in dem der Stärkere den Schwächeren übervorteilt. Den positiven Kontakterlebnissen in Foren und Netzwerken steht die reale Vereinsamung vieler Nutzer gegenüber, deren Sozialleben weitgehend vom Cyberspace absorbiert wird, wo sie letztlich keine Begegnung, sondern nur visuell aufbereitete Information eines anderen Einsamen finden.

Selbst politische Bewegungen, die unter Mobilisierungsplattformen wie change.org entstehen, sind nur Karikaturen des Politischen. Der Klick unter einem Petitionstext ist kaum mehr als eine Entlastungshandlung, wenn danach die Bürgerinnen und Bürger nicht zueinanderfinden, um ihr Anliegen einvernehmlich handelnd zu artikulieren.

Der Cyberspace ist in seiner Struktur vereinzelnd und fördert unter der Illusion von Gemeinschaft die Option des ›divide et impera‹.

Die Katastrophe ist absehbar

In der Summe ging die emanzipatorische Hoffnung auf ein Aufblühen des Guten im Medium des Cyberspace nicht in Erfüllung. War Barlow naiv? Konnte man damals einfach noch nicht absehen, dass das neue Medium des Cyberspace diesen unvorteilhaften Weg nehmen würde?

Schon 1995, also ein Jahr vor Barlows Erklärung, schrieb der Medientheoretiker Friedrich Kittler ungleich skeptischer:

„Die gute alte Zeit, in der jeder auf seinem Computer machen durfte, was er wollte, ist längst vorbei. Wir werden alle kontrolliert auf unseren Maschinen, und je vernetzter die Maschinen werden, desto strenger werden die Kontrollen und die Schutzmechanismen.
Und die Bürokratien, die eingebaut sind. Das Netz wird auch bestenfalls dieses Jahr noch frei sein, im nächsten Jahr gehört es wahrscheinlich dem großen Geld, und dann funktionieren die Kontrollen.“

(Kittler, Friedrich: Short Cuts. 2002.)

Sowohl die ökonomischen Interessen als auch die Kontroll- bzw. Steuerungsfunktion des Cyberspace wurden also bereits von Kritikern der ersten Stunde angemahnt. Kittler verweist insbesondere auf die Herkunft der Technologie aus dem Feld des Militärischen:

„Ich kann nur sagen, der Computer ist nicht erfunden worden, um den Menschen zu helfen. In Wahrheit sind beide, Atombombe und Computer, Produkte des zweiten Weltkriegs. Kein Mensch hat sie bestellt, sondern die militärische und strategische Situation des zweiten Weltkriegs hat sie notwendig gemacht. Es waren von vornherein keine Kommunikationsmittel, sondern Mittel des totalen Kriegs, die jetzt als spinoff in die Bevölkerung hineingestreut werden.“

(A.a.O.)

Er weist dabei auf die weltkriegsentscheidende Bedeutung der Kybernetik hin, durch die etwa die britische Luftabwehr mittels der ›predictor machine‹ den Angriff der Wehrmacht zurückweisen konnte. Daraufhin berieten Wissenschaftler, Politiker und Geheimdienstvertreter in den Nachkriegsjahren über die Nutzung des kybernetischen Modells zur Steuerung von offenen Gesellschaften in den Macy-Konferenzen.

Schon der apostrophierte Vater der Kybernetik, Norbert Wiener, warnte in seinem Buch „Mensch und Menschmaschine“ vor den Gefahr einer „machine à gouverner“ (Wiener, Norbert: Mensch und Menschmaschine. Frankfurt 1964. S, 195), einem Computer der das Politische insgesamt aufsaugt und Herrschaft in Kontrolle und Steuerung auflöst.

Der Futurologe Herman Kahn, der als Berater der US-Regierung nicht nur Geschichte prognostizieren, sondern mitgestalten konnte, weist bereits 1970 das Potential des Computers aus:

„Eines Tages wird es wahrscheinlich in jeder Wohnung einen kleinen Computer geben, der vielleicht mit öffentlichen Datenverarbeitungsanlagen und mit privaten Speicherplätzen in einem Zentralcomputer verbunden ist. […] Computer werden wohl auch als Lehrmittel verwendet werden. Ein Computer kann Hunderte Studenten gleichzeitig unterrichten   – jeden an seinem eigenen Gerät und über ein spezielles Thema; er ist für jede Schulstufe geeignet.“

(Kahn, Herman: Ihr werdet es erleben. Hamburg 1971. S.106)

Neben der pädagogischen Nutzung und der Prognose einer allumfassenden digitalen Infrastruktur werden auch die Ansatzpunkte für ein totalitäres Überwachungsregime angesprochen:

„Abhöreinrichtungen und kurzzeitige (oder auch dauernde) Tonaufnahmen werden künftig sehr billig werden. Ein beträchtlicher Teil aller Telephongespräche könnte legal oder illegal auf Tonband oder auf andere Art aufgezeichnet werden. (Die gleichen Methoden könnten auch zum Abhören von Gesprächen in Bars, Restaurants, Ämtern usw. angewandt werden.) Man wird diese aufgenommenen Gespräche mit Hilfe von Computern auf Schlüsselwörter oder -sätze prüfen und die besonders interessanten Gesprächspartien zu weiteren Studienzwecken oder einfach zur Aufbewahrung speichern.“

(A.a.o. S.114)

Als Albtraum des 21. Jahrhunderts erscheint Kahn ein totales Überwachungs- und Kontrollsystem:

„Man wird im Jahre 2000 […] imstande sein, die gesamte Bevölkerung unter ständiger Aufsicht zu halten und alle Gespräche auf ›störende‹ Worte zu überprüfen. Es wird sich vielleicht zeigen, daß nur Menschen mit ungeheurem Vermögen […] die Möglichkeit haben werden, einem bestimmten Maß an Überwachung zu entgehen oder auf die Datenübermittlung Einfluß zu nehmen.“

(A.a.O. S. 342)

Es dürfte deutlich geworden sein, dass bereits viele Jahrzehnte vor der Erklärung Barlows Gefahren richtig vorausgesehen wurden, so dass man mindestens von Naivität oder Ignoranz ausgehen muss, wenn man die emanzipatorische Euphorie nachvollziehen möchte. Doch Barlow sind nicht nur politische Fehleinschätzungen vorzuwerfen, sondern auch ungenaue Begriffe.

Der Dualismus, durch den Cyberspace und realstaatliche Politik auseinandergetrieben werden, hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Weder ist die Politik kategorial der Physik zuzuschlagen, noch der Cyberspace der Metaphysik. Prinzip des Rechts und der Staatlichkeit ist nicht der Körper, sondern die Person. Und auch der Cyberspace lässt sich in seiner Materialität beschreiben und lokalisieren. Eine schroffe Gegenüberstellung von körperlicher Politik und immateriellem Cyberspace, wie Barlow sie trifft, greift also viel zu kurz.

Das Internet als Brandbeschleuniger der Globalisierung und Infrastruktur des neoliberalen Regimes

Gleichwohl ergibt die Programmatik der Erklärung vor einem anderen Hintergrund Sinn. Dazu muss man den Kontext ihrer Veröffentlichung hinzuziehen. Barlow hat sein Manifest beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgetragen, das sich vom Hyde Park in London z. B. dadurch unterscheidet, dass höchste Sicherheitsvorkehrungen dafür sorgen, dass ein Mitteilungsbedürfnis allein nicht ausreicht, um eine Sprecherposition einnehmen zu können. Mit anderen Worten kann man davon ausgehen, dass Barlow im Einverständnis   – wenn nicht im Sinne   – der Veranstalter gesprochen hat, die zu der Zeit das alternativlose Projekt der Globalisierung vorangetrieben haben. Aus dieser Warte erscheint die Cyberspace-Apologetik Barlows wie ein Brandbeschleuniger des neoliberalen Regimes.

So wenig das Netz zur Erfüllung emanzipatorischer Hoffnungen beitragen wollte, so sehr hat es zur Transformation von Gesellschaften, Kultur, Wirtschaft und Politik geführt im Hinblick auf mannigfaltige Deregulierungs- und Entgrenzungsphänomene: Barlows Unzuständigkeitsbehauptung gegenüber den nationalen Regierungen gilt nunmehr nicht nur für das Internet, sondern auch für klassische Felder der Politik, die den Kräften der globalen Märkte überantwortet werden sollen.

Der ortlosen Allgegenwart und der flüchtigen Dauer des Netzes, seiner Ort- und Zeitlosigkeit entspricht eine räumliche und zeitliche Entgrenzung von Arbeit. Die ortsabhängige zyklische Zeit von Tag und Nacht oder die Differenz von Wochenende und Arbeitstagen sind limitierende Faktoren der ›realen Welt‹, die ein Hindernis für transnationale Projektteams darstellen. Das Internet schläft nie und hält nicht inne vor dem Sakralen. Im Sinne von Ökonomisierung und Arbeit 4.0 wird die Produktivität einerseits global ausgestreut und digital vernetzt, andererseits werden auch die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Arbeit und Familie, Mobilität und Sesshaftigkeit aufgehoben.

Unter der Chiffre ›Echtzeit‹ finden sich Beschleunigungstendenzen in Kommunikation und Transaktion, wie sie etwa bei der Verbreitung von Nachrichten zu beobachten sind, denen journalistische Sorgfaltspflicht kaum noch gewachsen sein kann, oder im Hochfrequenzhandel an der Wallstreet, wo sogar die Entfernung der Rechner zum Server einen Wettbewerbsvorteil bedeuten kann. Davon bleiben Menschen, politische Institutionen und Verfahren nicht unberührt. Angesichts der ›nervösen Märkte‹ während der Finanz-, Banken- oder Staatsschuldenkrise erschienen die Verfahren der Demokratie als zu langsam. Das Primat der Politik weicht dem Beschleunigungsdruck des informationellen Ökonomismus.

Eine weitere Tendenz der Entstaatlichung in der Verquickung von Cyberspace und neoliberaler Globalisierung zeigt sich in der Ohnmacht von Staaten, die Geltung von Datenschutz, Arbeitnehmerrechten oder Steuergesetzgebung gegen die transnationalen Konzerne durchzusetzen, oder auch in der Veränderung des Eigentumskonzeptes durch das Internet der Dinge oder durch digitales Rechtemanagement (DRM): Vernetzte Waschmaschinen, Fernseher, Heizungsthermostate oder Drucker werden zwar von Personen bezahlt, diese werden allerdings vom souveränen Eigentümer zum gegängelten Nutzer degradiert, da ihnen die volle Verfügungsgewalt über diese Dinge entzogen wird.

Konsequenzen für die Bildung

Computer, Smartphones und das Internet sind die ideale Infrastruktur einer neoliberalen, globalen Herrschaft. Diese Infrastruktur ermöglicht Überwachung, Kontrolle und Steuerung der Insassen, unterläuft demokratische Prozesse und staatliche Regulationen.

Die Lobbygruppen, die die Bildungspolitik beraten, wollen selbstverständlich auch Geräte verkaufen und dem Bildungswesen vorschreiben, die neuen Insassen der Industrie 4.0 zu formen.

Digitalisierung der Bildung muss vor diesem Hintergrund als ein interessengeleitetes Machtprojekt verstanden und kategorisch bekämpft werden. Das bedeutet aber nicht, dass die Schule nicht gleichwohl Bildung am Gegenstand des Digitalen leisten sollte. Vermutlich reichen in den ersten sechs Schuljahren analoge Lehrmittel völlig aus, um die kognitiven, praktischen und persönlichkeitsbildenden Grundlagen für den Umgang mit der digitalen Welt zu schaffen.

Danach könnte man mediendidaktisch sorgsam beginnen, nicht nur konsumierenden, sondern auch kreativ produzierenden Umgang mit der Technik einzuüben. Wichtig wäre es, darüber hinaus die brennenden Fragen und Probleme, die mit der Digitalisierung verbunden sind, in verschiedenen Fächern zu reflektieren. Schülerinnen und Schüler müssen verstehen, was Kybernetik ist, welche Überwachungstechniken es gibt, wie sozialtechnologische Steuerungen funktionieren, welche Gefahren autonome Tötungsentscheidungen in Drohnen darstellen, wie Hochfrequenzhandel funktioniert, was Big Data ist usf.

Nur durch Wissen, Können und Urteilskraft auch in diesen Bereichen kann ihre Mündigkeit und ihr Widerstand gegen den drohenden ökonomisch-digitalen Totalitarismus ermöglicht werden. Es bleibt zu hoffen, dass auch die Volksvertreter aller Parteien den Ernst der Lage erkennen und sich kritisch mit den Einflüsterungen der Lobbygruppen auseinandersetzen.

Matthias Burchardt

Matthias Burchardt

Matthias Burchardt ist Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität zu Köln und stellvertretender Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. Er ist entschiedener Kritiker der Bildungsreformen im Namen von PISA und Bologna. Zuletzt erschien von ihm der Aufsatz „G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur“ im Buch Weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden.

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